MARIE BONAPARTE EDGAR POE EINE PSYCHOANALYTISCHE STUDIE MIT EINEM VORWORT VON SIGM. FREUD BAND I INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG IN WIEN |j,>]) k.^ 3 SA INTERNATIONAL PSYCHOANALYTIC UNIVERSITY DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN ' k liV^^°, J MARIE BONAPARTE EDGAR POE TEIL I EDGAR POE (Nach der Dagucrreotypie „Whitman" aus dem jähre 1848) EDGAR POE EINE PSYCHOANALYTISCHE STUDIE VON MARIE BONAPARTE MIT EINEM VORWORT VON SIGMUND FREUD TEIL I DAS LEBEN EDGAR POES MIT i8 BILDTAFELN 1934 INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG IN ^IVlV.N Autorisierte Übersetzung aus dem Französisdien von Fritz Lehner Alle Rechte vorbehalten Copyright 1934 by Internationaler Psydioanalytischer Verlag Gesellschaft m. b. H. in Wien PrinKd in Austrii Druck: Christoph Reisser's Söhne, Wien V Meine Freundin und Schülerin Marie Bonaparte hat in diesem Buch das Licht der Psychoanalyse auf das Leben und das Werk eines großen krankhafi gearteten Dichters fallen lassen. Dank ihrer Deutungsarbeit versteht man jetzt, wieviel von den Charakteren seines Werkes durch die Eigenart des Mannes bedingt ist, erfährt aber auch, daß diese selbst der Niederschlag starker Gefühlsbindungen und schmerzlicher Erlebnisse seiner frühen Jugend war. Solche Untersuchungen sollen nicht das Genie des Dichters erklären, aber sie zeigen, welche Motive es geweckt haben und welcher Stoff ihm vom Schicksal aufgetragen wurde. Es hat einen besonderen Reiz, die Gesetze des mensd>- lichen Seelenlebens an hervorragenden Individuen zu studieren. Sigm. Freud DAS LEBEN EDGAR POES NORDAMERIKA OSTKUSTE DERA/EREINIGTEN STAATEN EDGARS ELTERN Edgar Poe^ wurde am 19. Januar 1809 in Boston geboren, als der Sohn David Poes und seiner Frau Elizabeth Arnold, die beide Schauspieler waren. David Poe war der Sohn des „Generals" David Poe aus Baltimore, eines Assistant Deputy Quartermaster der Kontinentalmächte von 1778, d. h. einer der Bevollmächtigten, weldie die Einkäufe für die revolutionäre Armee durchführten. Der „General" Poe stammte von schotti- schen Protestanten ab, die sich in Irland niedergelassen hatten; kn-jy*R-" '°^^^""™ S^«^« biographisdien Teil der sdiönen krmsdien Biographie von Her v ey All en hrafel (in der Folge zitiert als: /,.././) gefolgt, die .,.j in .wei Bänden bei Brentano'' in London erschienen ist Dieses Werk ist trotz einiger Irrtümer bei iL T" Tu ^'"''." '^'^^o'^tändigste und am besten unterriditete unter allen Arbeiten, die wir über das Leben Poes besitzen. Es bezieht sidi nidit nur auf Tatsadien, weldie durdi die grundlegenden Unter- sudiungen Ingrams Woodberrys und Harrisons klargelegt wurden es verarbeitet bereits jene neuen Dokumente, weldie in den EBs ^ Allan Papers Library of Congress, Washington, und in den Valen- tme Museum Poe Letters, herausgegeben von Mary Newton c\l\l^-^ A f ^f ^r^i ^°' ^'"'" "■" »°^ '^npublished, Phila- iufden und f ^"' l ^- u'^^^"'"" ^""P^^^^' ^^^j)' --^endidit Tt, All ^^. ' ^^^^l^^S^"' ^^lAe zwisdien Edgar Poe und John Allan, ^w-sdien dem Vater und Adoptivsöhne, bestanden haben, ein neues und helles LiAt werfen. Die Werke Poes werden „adi d"; „Gesamtausgabe der Dichtungen und Erzählungen" zitiert, die von Jie'ßt'f P ""/-P>'I-nverlag, Berlin (6 Bä'nde), besorgt wurde; die Briefe Poes, Prosaversionen seiner Gedidite und die nur in der „Virginia Edition" {The Complete Works of Edgar Man Poe herausgegeben von James A. Harrison, Professor an der Universte von Vir^nia New York bei Thomas Y. Crowell and Comp nj Po^'f^ • M ■ "' ^"'■^°y "'"^" '■^'-- "^- E-) enthaltenen Teile von v^ ^,^f '''""S^" f.°^'^ -^'^ Zitate aus Werken Baudelaires wurden vom Obersetzer dieser Arbeit neu übertragen. Bibliographie der übrigen benutzten Werke am Schluß des dritten Bande! Das Leben Edgar Poes er war als Kind nadi Amerika gekommen. Man sagt, er sei eine wichtige Stütze La Fayettes gewesen. Er genoß hohes Ansehen; sein Sohn David hingegen war überaus launenhaft und undiszipliniert. David begann Jus zu studieren, aber da er nichts als das Theater liebte, ging er 1803, sechs- undzwanzig Jahre alt, zu einer Schauspielertruppe, den „Charleston Players". Im Jahre 1804 finden wir ihn bei den „Virginia Players", mit denen er eine Tournee nadi dem Norden machte; dann ist er mit einer jungen Schauspielerin, die er eben geheiratet hatte, in Boston am Bundestheater engagiert. Elizabeth Poe, eine geborene Arnold, war die Tochter zweier Londoner Schauspieler, des Henry Arnold und der Elizabeth Smith. Ihre Mutter, die damals Witwe war, sich aber bald nachher mit einem Pianisten der Truppe, mit Herrn Tubbs, wiederverheiratet hatte, brachte die Tochter nach Amerika mit. Nach der Überlieferung muß Elizabeth um 1787 auf die Welt gekommen sein. Im Jahre 1796 erschien sie auf den Brettern und hatte wegen ihrer Anmut viel Erfolg. Ihre Mutter, Herr Tubbs und sie selbst kamen kurze Zeit nachher zu dritt zur Truppe eines Herrn Edgar; und sie allein spielte später 1798 in Philadelphia unter dem Schutz eines Herrn Usher und einer Frau Snowden. 1802 heiratete sie einen Schauspieler namens Hopkins, der sie drei Jahre später kinderlos als Witwe zurück- ließ; unmittelbar nach dem Tod ihres ersten Gatten wurde sie die Frau David Poes. Elizabeth war entschieden begabter als David. Seine Zeit- genossen behaupten, es habe ihm an Bühnensicherheit und Talent gefehlt, und er sei nie über eine zweitrangige Ver- wendung hinausgelangt; Elizabeth hingegen, obwohl audi sie eher über Fleiß und zähe Beharrlichkeit verfügte als über Talent, gefiel dem Publikum. Sie spielte mit Erfolg die Ophelia, Cordelia, Julia und manchmal audi den Ariel. Sie tanzte und Edgars Eltern sang voll Anmut. Trotzdem gelang es dem Paar nur mit Mühe, genügend zum Leben zu verdienen. Das Elend wurde dadurdi noch größer, daß David, der nur über eine zarte Gesundheit verfügte (er war zweifellos tuberkulös), den Alkohol liebte. Aber auch die Tuberkulose von Edgars Mutter kann kaum abgeleugnet werden; der sdinelle Verfall der Gesundheit der jungen Frau, die An- spielungen auf die Entkräftung, an der sie starb, Anspielungen, weldhe wir in den Zeitungen finden, die zu ihrer Unterstützung Hilferufe in die Welt schickten, lassen darüber keinen Zweifel offen. Zu dem harten Gewerbe, zu dem Kampf gegen das Elend kam hinzu, daß die junge Schauspielerin in drei oder vier Jahren dreimal Mutter werden mußte. Man weiß, wie ofl die Sdiwangersdiafl: die Entwicklung der Tuberkulose begün- stigt. Nun folgte auf die Geburt des ersten Sohnes "William Henry Leonard, der zu Beginn des Jahres 1807 in Boston zur Welt kam, schon im Januar 1809, ebenfalls in Boston, die Geburt Edgars. Im Hause herrschte die Armut: der erste Sohn William Henry war schon im Alter von wenigen Monaten bei den Großeltern in Baltimore gelassen worden, Edgar hin- gegen blieb bei seinen Eltern und folgte ihnen auf ihren Wanderfahrten durch das Elend. Im Juli 18 10, auf einer Tournee in New York, verschwand — das ist real und bildlich zu nehmen — David Poe von der Szene. Man weiß nicht, ob er seine Frau einfach verlassen hat oder ob er damals gestorben ist. Die Überlieferung, die be- hauptet, er sei bald nachher an Schwindsucht gestorben, dürfle der Wahrheit am nächsten kommen.^ 2) Diese Tradition wird durdi einen einzigen Zeitungsausschnitt (man weiß nicht von welcher Zeitung) begründet, welche den Tod David Poes in Norfolk in Virginia am 19. Oktober 18 10 anzeigt {Israfel, S. 13). Das Leben Edgar Poes So war der nun aditzehn Monate alte Edgar mit seiner Mutter allein. Aber dieses Tete-ä-t8te sollte nur wenige Monate dauern. Elizabeth Poe, die bereits im Sommer 1810 New York verlassen hatte, spielte, trotz einer fortgesdirittenen Schwangerschaft, in Ridimond und Norfolk weiter. Und im Dezember brachte sie in Norfolk eine Tochter, RosaHe, zur Welt.2a Über die Vaterschaft an diesem Kinde, dessen legaler Er- zeuger seit Monaten tot oder verschwunden war, wurden Zweifel laut. Das müssen wir im Gedächtnis behalten, weil diese Gerüchte später die Beziehungen Edgars zu seinem Adoptivvater auf das heftigste getrübt haben. Kurze Zeit nachher erschien die vom Elend bedrängte Eliza- beth Poe trotz ihrer bedrohten Gesundheit bei verschiedenen Tourneen im Süden, in Virginia und Carolina, wieder auf der Bühne. April 1811 wurde in Charleston (Carolina) eine Vor- stellung zu ihren Gunsten veranstaltet und das Publikum ge- beten, der Komödie aus Mitleid für eine arme Schauspielerin beizuwohnen, der es immer gern Beifall gespendet hatte und deren trister Gesundheitszustand besonders erwähnt wird. In Norfolk erschien in der Presse ein Aufruf, der betonte, daß die junge, kranke Schauspielerin „nur auf sich angewiesen sei, um sich und mehrere Kinder zu erhalten". Aber bald nachher, vom August an, finden wir Elizabeth Poe bei der Eröffnung der Saison in Richmond wieder, in der Stadt, in der sie ganz besonders beliebt gewesen ist. Sie lebte mit ihrer Tochter Rosalie, einem Kind von wenigen Monaten, und mit ihrem zweieinhalbjährigen Edgar in einem armseligen Zimmer, das sie bei Frau Phillips, einer Modistin und Handarbeitenverkäuferin, gemietet hatte; das Zimmer 2a) Hervey Allen gibt zwei verschiedene Daten an: den 10. (Israfel, S. 8J3) und den 20. {Israfel, S. 14). Edgars Eltern 13 ging auf den Hof hinaus, der hinter der Indian Queen Tavern lag, einer Art Hotel, das die Sdiauspieler der Truppe be- 2 b) Wenn die Überlieferung, nadi der Elizabeth 1787 geboren wurde, redit hat, dann war sie um die hier gesdiilderte Zeit 24 Jahre alt. Der erste kritisdie Biograph Poes, John H. Ingram (Edgar Allan Poe, His Life, Letters, and Opinions, i. Auflage 1880, neue Ausgabe London, W. H. Allen and Co., 1886) sdieint die Angabe der Überlieferung übernommen zu haben. George E. Woodberry (The Life of Edgar Allan Poe, personal and literary with his chief correspondence with men of letters, Boston and New York, Houghton Mifflin Company, The Riverside Press, Cambridge 1909, S. 7, Anmerkung i [i. Auflage i88j]) bezweifelt die Riditigkeit des Datums; er meint, man müsse aus den Daten über das erste Auftreten der jungen Schauspielerin auf der Bühne sdiließen, sie sei um 1780 geboren worden. James A. Harrison hingegen (in seiner Biographie Poes, V. E., Bd. i) ist so vorsiditig, das Geburtsdatum überhaupt nidit zu erwähnen. Hervey Allen übernimmt [Israfel, S. 853) die Meinung Ingrams. Idi für mein Teil glaube, daß man ohneweiters annehmen darf, Elizabeth sei um 1787 zur Welt gekommen: in jener Zeit und für jene südlidie Gegend kann die Meinung, sie könne nidit so früh (mit 9 oder lo Jahren) aufgetreten sein und mit 15 oder 16 Jahren zum erstenmal geheiratet haben, nidit als stidihältig angesehen werden. DER TOD DER MÜTTER Durch einen Augenzeugen, der Elizabeth Poe in ihrer besten Zeit gesehen hat, wird sie uns folgendermaßen beschrieben: „Sie war von kindhafter Statur, hatte weitgeöffnete, große und ge- heimnisvolle Augen, reiches, gelocktes Haar, das von dem selt- samen Hut, wie man ihn vor hundert Jahren trug, gehalten wurde, ein Haar, das die Stirne mit seiner rabensdiwarzen Masse besdiattete; sie hatte zarte Arme, die aus einem Empirekleid von blassem, blumenbesticktem Gewebe heraussahen, schmale, wohlgerundete Schultern, einen kleinen Hals und trug den Kopf stolz erhoben. Es war das Antlitz einer Elfe, eines Geist- wesens, einer Undine, die dazu ausersehen war, die Mutter jenes Dichters zu werden, der unter allen andern am innig- sten mit der Luft, am wenigsten mit der Erde verbunden gewesen, dessen leuchtende dunkelgraue Augen einen Glanz vom Übernatürlidben her verrieten und (wie er in einem seiner ersten Gedidite sagt) die ,glühende Natur des Menschen' spiegelten."' So sah die Mutter Edgar Poes aus. Durch die Krankheit muß diese luftversdiwisterte Erscheinung nodi zarter geworden sein, so daß sie nadi und nach zu einer jener morbiden und über- irdisdien Sylphiden wurde, die später die Erzählungen ihres Sohnes bevölkerten. Und sie war schon eine Schwerkranke, als sie mit ihren 3) Beverly Tudcer, Autor von Artikeln im Southern Liter ary Messenger und eines Budies The Partizan Leader. Obige Besdireibung stammt aus dem Jahre 1835 und ist sidier durdi die Miniatur beeinflußt worden, weldie die Mutter ihrem Sohn hinterlassen hatte. Der Tod der Mutter 15 beiden Kindern im August i8ri das ärmliche Zimmer bei der Frau Phillips bezog.* Mit der Gesundheit Elizabeth Poes ging es nun von Tag zu Tag immer deutlicher bergab, und oft mußte sie ihr Auf- treten absagen. Immer häufiger vertraute sie ihre Kinder der Frau Phillips an, die eine gutherzige Person gewesen zu sein scheint. Frau Phillips nahm dann wohl die Kleinen in ihren Laden mit. In diesen Laden kamen die Schauspieler der Truppe, die „Virginia Players", von denen die meisten das benachbarte Hotel, das Indian Queen Tavern, bewohnten, und die „Ele- gance" von Richmond. Und dort haben wohl auch die Damen von Richmond erfahren, daß die Mutter des hübschen kleinen Jungen, der im Hof oder im Laden spielte, in einem der Zimmer des armseligen Hauses schwer krank daniederliege. 4) Nach der Mitteilung einer Dame aus Norfolk, die zu jenen Zeiten ein kleines Mädchen gewesen und sidi erinnerte, Elizabeth Poe 1811 in dieser Stadt spielen gesehen zu haben, und die mit den Kindern bekannt gewesen ist, war die Familie von einer Nurse aus Wales begleitet, die sidi um die Kinder kümmerte und die Mutter pflegte. Dieses Zeugnis ist zwar nidits weniger als sicher, aber mit einigen andern ist es die Quelle der Legende, nach weldier die Mutter der Elizabeth Poe, die nadi ihrer zweiten Ehe mit einem Pianisten namens Tubbs neuerdings verwitwet war, ihre Toditer begleitet haben soll {Israfel, S. 17). Diesem Bericht muß man die Mitteilungen gegenüberstellen, die LauvriÄre {Edgar Poe, sa vie et son ceuvre, Alcan, Paris 1904, S. 13) nadi ^X7illiam Fearing Gill (jThe Life of Edgar Allan Poe, New York, W. J. "Widdleton; London, Chatto and Windus, 1880, S. 319/320, I.Auflage 1877) macht: „Einer der Biographen Poes hat uns von diesem Ende ein furchtbares Bild entworfen. Als mitleidige Besucher kamen, imi Hilfe zu bringen, fanden sie in einer elenden Behausung die beiden Schauspieler auf einem Strohlager ausgestredtt, und beide sehr krank, Mr. Poe an Schwindsucht und seine Frau an Lungenentzündung. Es gab im Haus weder Lebensmittel noch Geld oder Heizmaterial, und die Kleider waren verkauft oder verpfändet. Zwei kleine i6 Das Leben Edgar Poes Frau Allan, die Gattin eines reidien schottischen Kaufmanns, sah den kleinen Edgar, als sie im Laden der Frau Phillips ihre Einkäufe madite, und sie hörte, wie man von der Krankheit seiner Mutter sprach. Sie hat Frau Poe auch häufig während des Sommers und im Herbst 1 8 1 1 auf der Straße vor ihrem Haus vorbeigehen sehen müssen, das an der Ecke der Fourteenth Street & Tobacco Alley lag, nicht weit von dem Theater, in dem die „Virginia Players" spielten. Frau Frances Keeling Allan, die Gattin des sdiottisdien Kaufmanns John Allan, war seit acht Jahren verheiratet und hatte keine Kinder. Begann sidi ihr mütterliches Herz, das dar- unter litt, keine Kinder zu haben, erst in dem Laden der Frau Phillips oder schon damals für Edgar zu interessieren, als er bei ihrem Haus vorbeiging? Wir wissen es nicht. Aber es ist anzunehmen, daß Frau William Mackenzie, die Gattin eines der intimen Freunde Allans, die schon Mutter zweier Kinder, Kinder waren bei ihren Eltern unter der Obhut einer alten Walliserin, die mit Mrs. Poe nadi Amerika gekommen war und ihre Mutter gewesen sein soll. Die Kinder waren halbnackt, halb- tot und abgemagert. Das jüngere (Rosalie) befand sidi in einem Zustand der Betäubung, was daher kam, daß man es mit in Wacholder getauditem Brot nährte. Die alte Frau gestand, daß sie die Kinder deshalb so nährte, damit sie „sich ruhig verhalten und stark werden". Diesem Zeugnis kann aber besonders deshalb nicht geglaubt werden, weil es einen offensichtlidi unriditigen Umstand beriditet: es erzählt davon, daß sich David Poe am Totenbett seiner Frau befunden haben soll. Nun wissen wir, daß David seit Juli i8io, also seit mehr als einem Jahr, aus dem Leben seiner Frau ver- schwunden war. Dieses Zeugnis ist jedoch als Beweis für die Legende interessant, die sich um die Kindheit Edgar Poes gebildet hat, und bei der der Alkohol bereits seine Rolle spielt. Die Legende hingegen, nadi der David wenige "Wochen nach dem Tod seiner Frau gestorben sein soll, ist von Edgar Poe selbst verbreitet worden, um die Gerüdite wegen der unehelichen Ab- stammung Rosalies zu versciieudien (siehe den Brief Edgar Poes an William Poe vom 20. August 1835, V. E., Bd. 17, S. 13 — 16). ELIZABETH POE, geb. ARNOLD (Nach der Miniatur im Besitz von J. H. Ingram) Der Tod. der Mutter xj John und Mary, war, sidi gerade durch ihren Hinweis für die unglückliche Elizabeth und ihre Familie zu interessieren begann. Gegen Ende Herbst 1811 wurde der Zustand Elizabeth Poes zusehends schlechter. Immer seltener erschien sie auf der Bühne; bald trat sie überhaupt nidit mehr auf. Herr Placide, der Impresario, tat für dieses Mitglied, das eines der wichtig- sten seiner Truppe war, sicher, was er konnte. Frau Phillips nahm keine Miete mehr, da die kranke Mieterin ohne Mittel war, seit sie nicht mehr spielte. Und Frau Allan und Frau Mackenzie schickten der Unglücklichen durch Frau Phillips Kleider oder Nahrung. Das Zimmer, in dem Elizabeth Poe nun starb, war klein und feucht; kein Holz für den Kamin; der Fluß, die James, war in jenem Jahr aus den Ufern getreten und hatte den tiefer- gelegenen Teil der Main-Street überschwemmt; es wimmelte von Moskitos, von Malariaträgern. In dem Zimmer befand sich nidits als ein armseliges Bett mit einem Strohsack, eine oder zwei Dedten, die Frau Phillips beigestellt hatte, ein oder zwei Stühle, ein Kinderbett für die Kleinen; und das Zimmer wurde am Abend von Kerzenstückdien erhellt, die in einer Flasche steckten. Die Habe der Sdiauspielerin muß sehr be- scheiden gewesen sein: ein wenig verblaßtes und schmutzig gewordenes Theaterflitterwerk, letzte Zeugen vergangener Triumphe; ein kleines Kästchen, in dem Elizabeth ihre Briefe aufbewahrte; und die zerfetzten Kleider der Kinder. Kein Arzt überschritt diese Schwelle. Und die Todkranke mußte in diesen kurzen November- und Dezembertagen mit verzweifeltem Herzen in ihrer düsteren Einsamkeit das Schreien der kleinen Rosalie hören, die Stimmen der Kunden der Frau Phillips im Laden unten oder die Schritte ihres Söhnchens, das auf der engen Treppe spielte. Manchmal jedoch kamen Besuche. Die Damen von Rich- mond, welche in dem Laden bei Frau Phillips einen Hut Bonaparte: Edgar Poe. I. i8 Das Leben Edgar Poes gewählt hatten, gingen hinauf, um die Kranke zu sehen. Und unter den Eifrigsten waren wohl Frau Allan und Frau Madcenzie. Die Schauspielerin lag im Sterben. Placide hatte zu ihrem Benefiz Vorstellungen organisiert, verschiedentlich waren Hilfe- rufe in den Zeitungen ersdiienen; der letzte sah so aus: „An das menschliche Herz! Frau Poe, die, von ihren Kindern umgeben, auf ihrem Sdimerzenslager liegt, bittet Sie heute um Hilfe, und dies vielleicht zum letzten Mal . . . Einzelheiten auf den heutigen Anschlagstafeln."^ Und es war wirklich das letzte Mal. Elizabeth Poe starb am S.Dezember 1811 an Lungenentzündung. Wir können uns das Wachsgesidit der kleinen Toten vor- stellen, die auf ihrem Sdimerzenslager in ihrem schönsten Empirekleid lag und an diesem frühen Abend des Dezember von den Kerzen, die in den Flaschen steckten, beleuchtet war; Frau Phillips bewegte sich gescäiäflig um das Totenbett herum, dann kamen die Schauspieler, um ein letztes Mal ihre Kollegin zu sehen; und sdiließlidi erschienen Frau Allan und Frau Mackenzie, denen es gelungen war, ihre Männer für so viel Elend zu interessieren und sie die Kosten des Leichenbegäng- nisses tragen zu lassen. Am nädisten Morgen, am 9. Dezember, nahm Frau Allan den kleinen Edgar, der damals zwei Jahre elf Monate alt war, zu sich und Frau Mackenzie die kaum einjährige Rosalie. Die ErbscJiafi: der kleinen Rosalie bestand in einer Schmucksdiachtel, deren Inhalt längst verkauf!: worden war, da sie sonst nichts zu essen gehabt hätten, und Edgar bekam die Miniatur seiner 5) „To the human heart. On this night Mrs. Poe lingering on the bed of disease and surrounded by her children, asks your assistance, and asks it, perhaps, for the last time . . . For particulars, see the bills of the day" (V. E., Bd. I, S. 9). Der Tod der Mutter 19 Mutter, die bis auf uns gekommen ist, und eine Malerei, welche sie gemacht hatte und die den Hafen von Boston darstellte. Auf der Rüdeseite des Gemäldes befanden sidb einige Zeilen von der Hand Elizabeths, in denen sie ihren Sohn aufforderte, „Boston zu lieben, den Ort seiner Geburt, den Ort, an dem seine Mutter die besten und sympathischesten Freunde gefunden hatte"," eine Aufforderung, die ohne Wirkung bleiben sollte. Die Tote hinterließ außerdem nodi ein Taschenbuch, ferner die Haarlocken David und Elizabeth Poes, und auch ein Bündel Briefe, von dem später noch die Rede sein wird. Man hatte Edgar ein letztes Mal seine „eingeschlafene" Mutter zeigen müssen. Dieses Bild ist niemals aus seiner Er- innerung verschwunden; aber dabei meinen wir nich.t jenes Er- innern, das bewußt die Ereignisse heraufholt, sondern jenes andere, das, uns selbst unbekannt, in unserer tiefsten Tiefe herrscht, und auf dem sidi unser Charakter und unser Schidisal aufbauen. Niemals mehr sollte die unbewußte Erinnerung an die langen Monate der Krankheit und an das Hinscheiden der geliebten Mutter vergehen können. Die unbewußten „Erinne- rungen", welche durch die infantile Amnesie zugedeckt werden, lenken entscheidend unser Leben. Und die ätherische Schönheit Elizabeths und das langsam fortschreitende und geheimnisvolle Übel, an dem sie zugrunde ging, wurden später von dem Genie des großgewordenen Sohns unsterblich gemacht in den Gestalten der Berenice, der Morella, der Madeline, Eleonora oder Ligeia, ohne daß er ihren Ur- sprung ahnte. ^^ 6) Love Boston, the place of his birth, and where his mother found her best and most sympathetic friends (Israfel, S. 24). 6^) Dieser Zusammenhang wurde schon von Harrison (V. E., Bd. I, S. j und 9) bemerkt. DIE ADOPTIVELTERN Die Familie, in der der kleine Edgar aufgenommen wurde, bestand aus John Allan, einem einflußreichen schottischen Kauf- mann, seiner Frau Frances, geborenen Valentine, die damals fünfundzwanzig Jahre alt war, aus ihrer älteren Schwester, Anne Moore Valentine, außerdem aus den Dienern und den Negersklaven. Das Haus der Allan stand an der Ecke der Fourteenth Street und der Tobacco Alley, es war ein fest gebautes Ge- bäude aus Ziegeln, im georgisdien Stil, geräumig, mit drei Stockwerken, in deren jedem drei oder vier Zimmer waren, und außerdem hatte es eine Mansarde. Es war ein behagliches Haus ohne Prunk. John Allan, der 1780 in Irvine in Sdiottland geboren war, hatte eine gewöhnliche, aber durchaus genügende Erziehung genossen; er behauptete nämlich von ihr, daß sein Adoptivsohn Edgar, als er fünfzehn Jahre alt war, sdion eine bessere be- kommen habe. Er war ein außerordentlidi begabter Geschäfl:s- mann. Frühzeitig verwaist, war er nach Richmond in Virginien von seinem Onkel "William Galt gebradit worden, einem reichen schottischen Kaufmann, der zwischen Europa und Amerika einen einträgliciien Handel in verschiedenen Kolonial- waren, besonders in Tabak, betrieb. Dieser William Galt konnte vor seinem Tod zu einem der größten -Reichtümer Virginiens gelangen. John Allan, der zuerst bei seinem Onkel angestellt war, hatte sich bald mit Charles ElHs, einem seiner jungen Kame- raden in diesem Geschäft, assoziiert, um eine selbständige Firma zu gründen, Handel und Transport über Land und Meer; das Die Adoptiveltern Tabakgesdiäft war dabei der einträglichste Teil des Unter- nehmens. Sie wurden sicher von ihren beiderseitigen Onkeln unterstützt, von William Galt und von Josiah Ellis, der eben- falls ein recht fähiger Kaufmann war. So entstand die Firma Ellis & Allan. Inzwischen hatten die beiden jungen Leute geheiratet. Die Firma beschäftigte sich nicht nur mit dem Tabak- verkauf, sie verschleißte die versciiedenartigsten Waren: Ge- treide, Heu, Mais, Samenkörner, Tee, Kaffee, Bücäier, Stoffe, verschiedene Weine, Liköre, Pferde, Schweine usw.; sie rüstete auch Sklaven aus, vermietete sie für die Arbeit in den Berg- werken, belieferte die Siedlungen mit landwirtschaftlichen Ge- räten, charterte Schiffe für das hohe Meer und die Küsten- schiffahrt. Den Schiffen, die mit den Waren von Ellis & Allan befrachtet waren, gelang es, in Kriegs- und Friedenszeiten über die Meere zu kommen. Es war die schöne Zeit der Segelschiffahrt: große Segler kamen die James hinauf, den Fluß mit den gelben Wellen, um bei den Piers von Ellis & Allan anzulegen. Und Lastwagen mit dem Tabak von Virginia fuhren vorbei und verbreiteten ihren Duft in der warmen sonnigen Landsdiafl:. Die ganze Poesie des Meeres, großer Abenteuer, auf welche die Schiffe los- steuerten oder von denen sie kamen, schwebte in der Atmo- sphäre des alten Richmond, in dem der kleine Edgar heran- wachsen sollte. Aber trotz der Ausdehnung der Geschäfte, mit denen sich die Firma abgab, war sie 1811 erst in ihren Anfängen, und man muß nicht annehmen, daß Allan schon damals sehr reich gewesen. Dezember 1811 war sein Vermögen, wenn man außer- dem an die Geschäftsstockungen von damals denkt, keineswegs so groß, daß er ohne Überlegung ein fremdes Kind hat an- nehmen können. Als Frances Allan am Tag nach dem Tode der Elizabeth Poe das kleine Waisenkind zu sich genommen Das Lehen Edgar Poes hatte, sah ihr Gatte diese mildtätige Handlung vorerst wohl für den einfallen Impuls eines gerührten Herzens an, er konnte annehmen, daß der Knabe nicht für immer unter seinem Dach bleibe. Er war erst einunddreißig Jahre alt und seine Frau fünf- undzwanzig: er durfte hoffen, noch selbst Vater zu werden. Der Gedanke, diesen kleinen Fremden zu seinem Erben zu machen, mußte ihm also keineswegs gefallen. Außerdem dürfte der sdiottisdie Kaufmann, der voll Ehrgeiz und sozialer Vorurteile war, darunter gelitten haben, daß sein voraussicht- licher Erbe der Sohn „umherziehender" Schauspieler war; und die Zweifel, die sich auf die außerehelidie Abstammung Rosaliens bezogen, waren ihm gewiß sciion bekannt. Man wird infolgedessen nicht überrascht sein und auch nicht empört, daß ein Menscii vom Zusciinitt des John Allan zögerte, den kleinen Edgar zu adoptieren. John Allan hatte übrigens auch geheime Gründe, die Adop- tierung eines Fremden nicht zu wünsdien: er besaß in Ridimond bereits mindestens zwei eigene illegitime Kinder, eine Toditer der Frau Wills, einen Sohn der Frau Collier. Er bezahlte für diesen Knaben sogar die Pension bei einem gewissen "William Richardson, der in Richmond Lehrer war. Aber über den ursprünglidi bösen Willen des John Allan trug der Wille der Frances Allan den Sieg davon, und Edgar blieb im Hause. Im übrigen übte auch die öffentliche Meinung, und für die war der schottisdie Kaufmann sehr empfindlidi, einen Druck, auf ihn aus; zwei Wochen nachdem Elizabeth Poe beerdigt worden war, am i6. Dezember, brannte das Theater von Richmond ab, ein Brand, bei dem dreiundsiebzig Personen umkamen, und es wäre Allan sehr verübelt worden, wenn er das Kind einer der Schauspielerinnen def so hart be- troffenen Truppe Placides auf die Straße gesetzt hätte. Allan und seine Familie waren der Katastrophe entkommen, da sie Die Adoptiveltern 23 diesen Abend nicht in der Stadt verbracht hatten, und ihr Beitrag zum allgemeinen Hilfswerk, welches damals die ganze Stadt besdiäftigte, bestand darin, Edgar in ihrem Haus zu behalten, so wie die Macienzies Rosalie in dem ihren behielten. DIE ERSTE ERZIEHUNG EDGARS Von doppelter Zärtlidikeit umgeben wudis das Kind Edgar auf: die „Ma" sorgte für ihn und die „Tante Nancy". Es war auch ein Kindermädchen im Hause, eine schwarze „Mammy". Der Knabe war zart, ohne kränklich zu sein, und seine „Ma" kümmerte sich um ihn mit jeder erdenklichen Sorgfalt. Damals schon zog er den Umgang mit Mädchen dem mit Knaben seines Alters vor, und aus jener Zeit stammt seine Neigung zu einer seiner Spielgefährtinnen, einem hübschen kleinen Mädchen, Catherine Elizabeth Potiaux, einem Patenkind der Frances Allan. Diese Neigung für Catherine ist die erste Liebe für eine andere „Schwester" als Rosalie, von der wir erfahren. Frau Allan liebte es, Edgar bei ihren Besudien mitzunehmen; er trug ein Samtkleid, sdiwarze Locken umrahmten sein schönes Gesicht mit den glänzenden Augen. Man holte ihn auch in den Salon herüber, ließ ihn Gedichte aufsagen, und sein Vortrags- talent erfreute die Gäste. Er durfle dann, auf dem Tisch stehend, mit dem mit "Wein gemisditen "Wasser auf das "Wohl der An- wesenden anstoßen. Frau Allan, die sehr fromm war, nahm den kleinen Jungen in die Kirdie mit; dadurdi wurde Edgar Poe mit den biblischen Schriften und den religiösen Gebräuchen und Liedern vertraut. Aber auch John Allan, der dem enzyklopädischen achtzehnten Jahrhundert angehörte, übte seinen Einfluß aus, und die Meinungen, die der Kleine ihn hatte vortragen hören, mußten wohl dazu beigetragen haben, aus Edgar Poe einen der ersten Dichter Amerikas zu madien, der sich vom Gedanken an einen wundertätigen Gott befreite. FRANCES KEELING ALLAN, geb. VALENTINE 1784 — 1829 (Nach einem Porträt von Thomas SuUy) (Valentine Museum, Richmond, Virginia) Die erste Erziehung Edgars 25 Edward Valentine, ein Vetter der Frau Allan, kam oft zu Besuch. Er war ein riditiger „practical joker", ein lustiger Geselle. Er liebte den kleinen Knaben sehr und lehrte ihn mandien Streich; er zeigte ihm z. B., wie man schnell den Stuhl wegziehen müsse, wenn jemand im Begriff war, sich darauf zu setzen. Dieses neuerworbene Talent wurde unglüdilicher- weise an einer imposanten würdigen Dame, die zu Besuch ge- kommen war, erprobt. John Allan soll damals sein Mündel gepackt und das Kind trotz seines Schreiens hinausgeführt haben, um es durchzuhauen. Frances Allan lief bei den Sdireien ihres Lieblings herbei, um der Strafe ein Ende zu machen. Allan glaubte nämlidi an die Wirksamkeit körperlicher Strafen, und jedes Mal, wenn das Kind nicht „artig" war, verabreichte er ihm gewissenhaft einige Schläge, mit dem sichern Gefühl, zum Wohl seines Schützlings zu handeln, besonders, da ihm die Frauen in ihrer Auffassung von der Erziehung eines Knaben gar zu weichherzig und zu schwadi zu sein schienen. Eben diese Frauen und mit ihnen die Diener des Hauses suchten daher mit allen Mitteln ihren kleinen Liebling vor den väterlichen Züchtigungen zu sdiützen und braditen ihm manche Listen, die eher geschickt als männlich waren, bei, damit er der Strafe entwische. Vor seinem sechsten Jahr besuchte Edgar eine Kleinkinder- schule in Richmond, die ungefähr unsern Kindergärten ent- spricht. Kurze Zeit bevor die Familie Allan nach England reiste, wurde er zu einem gewissen William Erwin geschickt, der eine Knabenschule in Richmond leitete und in der sich auch Edwin Collier, der illegitime Sohn Allans, befunden haben soll. Man erzählt, daß von dieser Zeit an Edgar zu jenen seltenen Kindern gehörte, die sich für ihre Lektion interessieren. Bei dieser Aufzählung der Einflüsse, die damals auf die Seele des jungen Edgar einwirkten, darf man die Reiseberichte der Kapitäne nicht vergessen, der Kaufleute, verschiedener 26 Das Leben Edgar Poes Abenteurer zur See, die nadi Ridimond kamen und sich im Heim seines Adoptivvaters aufhielten und von ihren Taten erzählten. Auch die Negeratmosphäre spielte in jenen Zeiten der Sklaverei in diesen Südgegenden eine wichtige Rolle. Edgar hatte ein schwarzes Kindermädchen, das er sicher oft in die Behausungen der Sklaven seines Adoptivvaters oder sogar in das Viertel, in dem die Neger wohnten, begleitete. "Wieviel seltsame Lieder und Geschiditen hörte er dort wohl! Wieviele schreckeinflößende Erzählungen, in denen Tote und Gespenster auftauchten! Die primitive Phantasie verstand es, zu einer kindlichen Phantasie zu sprechen, die auf immer unbewußt von der unauslöschlichen Erinnerung an die tote Mutter, vom un- heilbaren Heimweh nach ihr, die er dort in dem kleinen Zimmer gelassen hatte, heimgesucht wurde. So versteht es das, was schon unsere Seele bewohnt, all jenes von der Außenwelt an sich heranzuziehen und in sidi aufzunehmen, was geeignet ist, das Ursprüngliche zu stärken und zu nähren. Eines Sommers — als Edgar schon ungefähr sedis Jahre alt war — , nach einem Aufenthalt bei den Virginia Hot Springs, blieben die Allans auf dem Heimweg bei den Valentines in Staunton. Edward Valentine, der große Freund Edgars, nahm ihn oft im Wagen zu einer Spazierfahrt mit oder er ließ ihn hinter sicJi auf seinem Pferd aufsitzen. Edward Valentine er- zählt, daß er eines Tages das Kind zu einem Postamt auf dem Lande geführt hatte; dort setzte Edgar die Bauern dadurch in Erstaunen, daß er ihnen laut die Zeitung vorlas. Bei der Rück- kehr kam Valentine an einer Holzhütte vorbei, die von mehreren Gräbern umgeben war. Das Kind war nun derart erschrocken, daß Valentine sich gezwungen sah, es v o r sich auf sein Pferd zu setzen. Edgar sdirie: „Sie werden uns nach- laufen und mich herunterholen!" Es ist für uns wichtig, die Tatsache dieses Erschreckens vor dem Makabren zu notieren. Die erste Erziehung Edgars 27 das in dem Augenblick auftrat, in dem das frühreife Kind wahrsdieinlidi die ersten großen Verdrängungen seiner Triebe unter dem wachsenden Druck seiner Erziehung erlitt. Der Doktor C. A. Ambler erinnert sich auch daran, mit dem Kind in einem Tümpel von Shockoe Creek gesdiwommen zu sein, und daß Edgar damals das "Wasser fürchtete, derselbe Edgar, der später ein unersdirockener Sdiwimmer werden sollte. EDGAR IN GROSSBRITÄNNIEN Aus der Korrespondenz, die John Allan mit seinen Ver- wandten in Schottland führte, erfahren wir, daß seine Schwester und sein Schwager ihn immer wieder einluden, in die Heimat zu kommen. Die Napoleonisdien Kriege hatten ihn aber bis dahin gezwungen, die Verwirklichung dieses Plans zu ver- schieben. Nun aber waren die Feindseligkeiten beendigt, die Wege waren wieder offen, und der Frühling und Sommer 1815 wurden im Hause Allans dazu benützt, die Abreise vor- zubereiten. Außerdem riefen wichtige Fragen von großem Interesse John Allan nach Schottland. Die Einstellung der Handels- beziehungen zwischen England und Amerika hatte besonders die Händler mit virginischem Tabak betroffen. Die Redi- nungen über Lieferungen aus der Vorkriegszeit waren nicht ab- geschlossen, es war dringlich, diesen Abschluß durdizuführen und die persönlichen Beziehungen mit den englisdien Häusern wieder herzustellen. Der Preis des Tabaks war in England, da die Stocks erschöpf!: waren, sehr hoch; aber man durfte er- warten, daß er schnell fallen werde, sobald die Beziehungen wieder hergestellt seien, da dann die jenseits des Atlanti- schen Ozeans angehäuften Reserven abgesetzt würden. Es war also höchste Zeit, eine Filiale des Hauses in London zu gründen. John Allan konnte darauf stolz sein, in seiner gegenwärtigen materiellen Lage in das Heimatland zurückzukommen, aus dem er als armes Waisenkind fortgegangen war. Er hatte zwar nodi Edgar in Großbritannien 29 kein großes Vermögen angehäuft, aber er genoß ein gewisses soziales Ansehen, und das ungeheure Erbe des William Galt stand ihm in Aussicht; er kam mit einer jungen schönen Frau zurück, mit einer reizenden Sdiwägerin, mit einem entzückenden Kind, dem lebenden Zeugen seines philanthropischen Geistes. Außerdem hatte der Adoptivvater damals das Kind für sich gewonnen und scheint der Neigung des Jungen wenigstens von 181 5 bis 1820 wirklich sicher gewesen zu sein, was durch die ganze Korrespondenz John Allans aus jener Zeit bewiesen werden kann, die häufig und manchmal sogar voll Zärtlichkeit den „kleinen Edgar" erwähnt. Da der schottische Kaufmann einen Aufenthalt in England von einiger Dauer plante, ließ er sein Mobiliar vor seiner Abreise versteigern. Die Reise dauerte sechsunddreißig Tage. Er kam in Liverpool am 28. Juli 18 ij an. Von dort ging es nach Irvine in Schottland. So war John Allan in den Kreis seiner Familie heimgekehrt. Eine seiner Schwestern, Frau Fowlds, lebte in der Nähe, in Kilmarnock mit ihren Kindern. Drei andere Schwestern John Allans, Eliza, Mary und Jane Allan, bewohnten Irvine ebenso wie zahlreiche Vettern und Freunde. Ungefähr dreißig Meilen von Irvine und Kilmarnock, in Flowerbanks, lebten die Galts. Und in Irvine wurde im Sommer 18 15 Edgar in die Schule geschickt, wahrscheinlich mit mehreren seiner „Cousins". Die Poesie der schottischen Landschaft sollte nie mehr aus seinem Gedächtnis verschwinden. Die Gegend hatte Keats bezaubert, Burns inspiriert. Der feuchte Reiz der Atmosphäre, die langsam verklingende Abenddämmerung und der rote Sonnenuntergang dieser Zone mußten ihre Spuren in den poesievollen Landschaften hinterlassen. Später wird Edgar von den seltsamen Tälern singen: 30 Das Leben Edgar Poes „In deren Mitte den ganzen Tag Faul das rote Sonnenlicht lag.'" Von Irvine reisten John Allan und die Seinigen nach Glasgow, dann nach Edinburgh. Edgar war trotz des "Wunsches John Allans, der ihn in der Schule von Irvine lassen wollte, auf die Bitten der „Ma" und der Tante Nancy auf diese Reise mitgenommen worden, ebenso wie sein Vetter James Galt, der ungefähr neun Jahre älter war als er. Im Herbst begab sich die Familie endlidi nach England und kam in London am 7. Ok- tober 1815 an. Die Allans ließen sidi in London nieder, aber wenige Zeit nachher, gegen das Ende des Jahres 181 5, wurde Edgar trotz der Bitten und Proteste von „Ma" und Tante Nancy mit James Galt nadi Irvine zurückexpediert, um mit ihm dort in die Schule zu gehen. Die beiden Knaben wohnten bei Mary Allan, einer Schwester Johns. Edgar war von seinen beiden Besdiützerinnen getrennt und darum tief unglücklich. Er soll damals den Plan zu einer Fludit gefaßt haben, er wollte allein nach Amerika zurück- kehren oder nadi London. Das ist der erste seiner „Flucht"- pläne, der bekannt geworden ist; er war damals sieben Jahre alt. Die Disziplin der Sdiule, in der eine mittelalterliciie Tradi- tion herrschte, war streng, sie kannte gewiß Körperstrafen. Die religiösen Übungen nahmen einen großen Raum ein und waren überaus düsteren Charakters. Eine Lieblingsübung für Schrifl:- pflege bestand darin, daß man die Schüler die Grabaufschriflen des benadibarten Friedhofs abschreiben ließ. Und die Erholung 7) . . . Strange Valleys — „In the midst of whidi all day • "■' The red sunlight lazily lay." Hervey Allen (Israfel, S. 69) zitiert diese der Dichtung The Valley of Unrest entlehnten Verse. (Siehe auch V. E., Bd. 7, S. jj.) I Edgar in Großbritannien 31 bestand aus einigen Besuchen bei den Allan Fowlds, den Spielen mit den Kameraden und dem „quälenden" Spaziergang im Garten des Lords Kilmarnock, in dem die Ahnfrau ge- spensterte. Edgar ertrug diese Gefangenschaft und Verbannung schlecht. Die Tante Mary ärgerte sidi über seine Launen und schickte ihn sdiließlich zu Beginn 18 16 seinen Adoptiveltern in London zurück, wo er als Externer in eine Pension kam, die von den Misses Dubourg geleitet wurde. Die Fräulein Dubourg waren die Schwestern eines Angestellten der Firma Allan & Ellis in London. Damals begann sidi auch der Gesundheitszustand der Frances Allan zu versdilechtern; dies hatte seinen Grund in einer chronischen internen Krankheit, von der wir noch zu sprechen haben werden, da die Befürchtungen über ihren Ur- sprung in den Beziehungen zwischen Edgar und seinem Adoptivvater eine Rolle spielen. Im August 18 17 brachte John Allan seine Frau in einen Kurort,^ und da das Wasser ihr wohl- zutun schien, verlängerte sie den Aufenthalt. Im August 18 17 kam dann Edgar als Pensionär in die Manor House School des Reverend Bransby in Stoke Newington, das damals eine Vorstadt von London war, welche die Originalität und altertümliche Atmosphäre „eines düsteren Dorfes im alten England hatte", wie Poe später schreiben sollte." Die Römer- straße war von großen Ulmen eingefaßt und von Fiäusern, die aus den Zeiten der Tudor stammten. Gerade neben dem Dorfe erhob sich das Schloß des Lords Percy, des unglücklichen Liebhabers der Anne Boleyn, und das 8) Chettingham, nadi Israfel, S. 75. Dr. Ernest Jones, Präsident der internationalen und der englisdien psydioanalytisdien Vereinigung, sdireibt mir, daß es sidi um Cheltenham handeln muß, einen englischen Kurort bei Gloucester, in dem gegenwärtig Ver- dauungsstörungen und Rheumatismen behandelt werden. 9) William Wilson. 1 ij 32 Das Leben Edgar Poes II des Lords Leicester, des Favoriten ihrer Tochter, der großen Elizabeth. Die Schule selbst, die jenseits der großen mit Nebel bedeckten Wiesen lag, war in einem alten Gebäude unter- gebradit. „Idi fühle", sdirieb Poe später, „die erfrisdiende Kühle dieser sdiattigen und tiefen Alleen und bin vom neuen in unsagbarer Freude erregt durdi den ernsten und tiefen Ton der Kirdienglocke, die Stunde für Stunde durdi ihr plötzlidies und sdiauerlidies Dröhnen die Stille der düsteren Atmosphäre unterbradi, in weldier der von der Zeit angenagte gotisdie Gloienturm sdilief."^" Diese Gegend rief wahrscheinlich Edgars romantisches Ver- langen nadi Gotik und Mittelalter, nach alten Behausungen und alten Gegenden hervor, das sich später in mancher seiner Geschichten manifestieren sollte. Der Reverend Bransby war übrigens weder alt nodi Doktor, er war das Gegenteil von dem, was von ihm im William Wilson gesagt wird. Er war dreiunddreißig Jahre alt, fröhlich und ein Freund der Jagd. Seine Sdiüler liebten ihn. Er scheint Edgar, der ebenso sportliebend wie arbeitsam war, sehr gesciiätzt zu haben. Inzwischen begann jedoch in Poe bei seinem Verkehr mit den Kameraden jener maßlose Hochimut hervorzubrechen, der wahrscheinlich die Ursache für die große seelische Einsamkeit wurde, an der damals gelitten zu haben er sich beklagt hat. In den Ferien, zu "Weihnachten, zu den Weekends kehrte Edgar zu seinen Adoptiveltern heim. Frau Allan, deren Ge- sundheit aucli weiterhin zu wünschen übrig ließ, war häufig ab- wesend. Er besuchte jedoch sicher mit ihr den Tower von London, Westminster und sah vielleicht die griechischen Plastiken, welclie Lord Elgin eben mitgebracht hatte. Und was John Allan anbelangt: seine Geschäfte nahmen eine böse Wendung, und im März erlitt er einen Anfall von Wassersudht, an dem er beinahe gestorben wäre. 10) William Wilson (Bd. 3, S. 86). Edgar in Großbritannien 33 Sdiließlidi geriet die Firma Allan & Ellis in London mit der Firma Ellis & Allan in Ridimond wegen einer Schuld, die eingetrieben werden sollte, in Streit, ein Konflikt, der die Tätigkeit John Allans in England beendete. Er war ver- schuldet, entmutigt, krank, nahm Edgar aus der Pension und beschloß, wieder nadi Amerika zurückzukehren. Gegen Ende Juni 1820 hißten Allan und seine Familie wieder die Segel zur Fahrt nach New York. Bonaparte: Edgar Poe. I. ■ i ' HELEN John Allan und seine Familie kamen am 21. Juli 1820 in New York an. In Ridimond stiegen die Allans, Anne Valentine und Edgar zuerst im Haus ihres Teilhabers Ellis ab, da das alte Haus in der Tobacco Alley nodi vermietet war. Die kleine Hauptstadt von Virginien hatte in jener Zeit • ungefähr zwölf tausend Einwohner. Die Kirchen und die öff ent- lidien Gebäude im pseudoklassischen Stil beherrsditen von der Höhe der Hügel herab die Häuser im georgisdien Stil, die inmitten geräumiger Gärten und weiter Wiesen lagen. Drunten breiteten sich die Docks aus und die Lagerhäuser, man sah die Mäste, Segel, Fahnen der Sdiiffe und die Zillen, die auf dem Kanal von Maultieren heraufgezogen wurden, welche ihre Sdiellen sdiüttelten. Knaben schwammen im Fluß, auf den Fluren läuteten die Glocken der Plantagen oder die Hörner tönten, weldie die Sklaven von den Feldern riefen; junge Tabakpflanzen neigten sidi im "Wind und das Vermögen der Plantagenbesitzer wuchs in der Sonne. Kein Fabrikkamin verrußte in dieser Zeit die Lufl. Rich- mond war damals eine aristokratische Stadt, in der die Familien in den alten Häusern inmitten ihrer Diener und Ahnenbilder auf ihre Tradition stolz waren.^^ Dies war die Atmosphäre, in der Edgar endgültig erwachsen werden sollte. Gegenüber dem Hause des Herrn Ellis, in der Second und Franklin Street, lag ein wundervoller Garten mit Linden und Rosen. "Wir werden später noch sehen, weldies Idyll sich dort abgespielt hat. Aber die Familie Allan blieb nidit lange bei 1 1) hrafel, S. 94. '■ ' Helen 3j Herrn Ellis, und schon im Herbst 1820 bezog man die neue Wohnung in der Clay Street. Aus jener Zeit stammt die innige Freundschaft Poes mit Ebenezer Burling. Er war ihm schon vor seiner Abreise in die Alte "Welt begegnet, als er Frances Allan zur Kirche begleitet hatte, und damals soll ihm Burling das Schwimmen beigebracht haben. Jetzt lasen sie gemeinsam Robinson Crusoe und be- geisterten sich für die Abenteuer des Helden. Sie machten audi' auf der James manchen Ausflug mit dem Boote; die Erinnerung daran lebt in dem Anfang der Abenteuer des Arthur Gordon Pym weiter. Edgar war damals ein lebendiger, beweglidier Junge, wohl- gestaltet, vielleicht ein wenig untersetzt, mit großen grauen Augen, langen "Wimpern und dunklen lockigen Haaren. Mit seinen Kameraden Ebenezer Burling, Jack Mackenzie, Rob Sully oder Bobby Stanard beteiligte er sich am "Wettlauf, am Springen und an allerlei Sport. Aber es gab auch eine andere Seite seines Charakters. Edgar konnte seinen Gefährten ein heiterer Kamerad sein; in manchen Augenblidcen hingegen befiel ihn eine böse Laune, durch die er ein einsamer und ungeselliger Mensch wurde. Dann machte er allein lange Spaziergänge, liebte es, Feldblumen zu pflücken, und es gefiel ihm, im Geheimen zu träumen, zu schreiben oder zu zeichnen. Gleich nadi seiner Rückkehr nach Richm.ond brachte John Allan sein Mündel in der englischen und klassischen Schule {English and Classical School) eines gewissen Joseph H. Clarke, vom Trinity College in Dublin, unter. Clarke war ein glühender Irländer, ein begeisterter Latinist, dem es zu gleicher Zeit nicht an Ursprünglichkeit und Güte fehlte. Bei ihm setzte Edgar sein Studium des Lateinischen, Französischen, der Mathematik fort und lernte die klassische englische Literatur, Johnson, Addison, Goldsmith und Pope, kennen. jfi Das Leben Edgar Poes Die Pension Edgars, die nicht mehr als sechzig Dollar im Jahr betrug, wurde von John Allan in Abschlagszahlungen beglichen, was beweist, in welch sdiwieriger materieller Situa- tion er sich damals befand. Die Ergebnisse des Aufenthalts John Allans in England, die vom finanziellen Standpunkt aus so wenig günstig gewesen waren, verstimmten sowohl Charles Ellis, seinen Teilhaber, als audi "William Galt, seinen Onkel und seine Stütze. John Allan hatte seine Güter vor 1823 mit Hypotheken belastet, seine Gläubiger quälten ihn. Das mußte man nun an seiner Laune merken, und Frances Allan und Anne Valentine hatten vermutlich viel zu tun, um die mürrische Stimmung, durch die audi Edgar zu leiden hatte, ein wenig aus dem Haus zu versdieuchen. Und während dieser Zeit verbrachte Edgar ofl-. die Nadit bei seinem Freund Burling, was Herr Allan sehr mißbilligte. Wir wissen, daß sich Poe seit damals mit Leidenschafi; der Dichtkunst hingab. Die Schulkameraden von Ridimond er- innerten sich an seine distanzierende Haltung und an seinen Hang, sidi in ein Zimmer zurückzuziehen, um dort Verse niederzuschreiben. Das Verlangen nach schöpferischer Arbeit drängte diesen Knaben von dreizehn oder vierzehn Jahren dazu, die Spiele und den Zeitvertreib seiner Kameraden zu fliehen. Nun war die dichterische Berufung, die nirgends gern ge- sehen wird, besonders in Amerika verfemt, in einem Land, das der praktisdien Wirklichkeit zuneigte. Wer also von solcher Sendung heimgesudit war, mußte sidi hier mehr als anderswo vereinsamt fühlen, umgeben von der Feindseligkeit der Welt, und dazu neigen, sich zu verbergen. Und niemand, weder in der Schule noch zu Hause, madite sidi Gewissensbisse daraus, ihn bei einer so nutzlosen Besdiäfligung zu stören. Mit vierzehn Jahren hatte Poe schon seine ersten Gedidite geschrieben. Wir wissen das durch seine eigene Aussage und Helen 37 auch durch die des Herrn Clarke, der sich daran erinnerte, daß Allan, bevor Edgar die Schule verlassen sollte, ihm ein Heft mit Gedichten gezeigt hatte, welche von seinem Mündel geschrieben worden waren. Frances Allan scheint jedoch die einzige gewesen zu sein, die ihn in seiner Neigung be- stärkte. 1823 und 1824 verfaßte Edgar kleine Gedichte, weldie an verschiedene junge Schönheiten gericiitet waren, besonders an die jungen Mädchen des Pensionats der Jane Mackenzie, einer Schwester jenes Mackenzie, bei dem Rosalie aufgenommen worden war. Rosalie, welche auch diese Pension besuchte, war dabei der Bote zwischen Edgar und seinen jungen geliebten Freundinnen. Und das dauerte so lange, bis die Mackenzies diesen Zärtlichkeiten ein Ende machten. Rosalie scheint ihren Bruder sehr geliebt zu haben. Sie war ein recht hübsches und gutes Mädchen, aber als sie zwölf Jahre alt war, entwickelte sie sich nicht mehr weiter. Es hat ganz den Anschein, als habe sie von damals an mehr oder weniger das Bild einer Debilen geboten. Ihrem Bruder, der nach dem Zeugnis von Zeitgenossen nun „der prächtigste, anmutigste, anziehendste Jüngling der Stadt" war, wurde sie später etwas fremd. Er neigte immer ein wenig zu schlimmen Streidien: Eines Abends verkleidete er sich als Gespenst und erschreckte eine Gesellschaft:, bei der General Scott anwesend war; ein anderes Mal verführte er den jungen Thomas Ellis dazu, ihn auf einer Geflügeljagd beim Richter Bushrod Washington zu begleiten, was ihm trotz seiner vierzehn Jahre von der Hand John Allans bei seiner Rückkehr eine strenge Strafe verschaffte. Jack Mackenzie sagt uns übrigens, daß Edgar zu jener Zeit Allan nicht liebte, und der seinerseits ließ keine Gelegenheit vorübergehen, ohne den Jungen daran zu erinnern, daß er ihn nur aus Barmherzigkeit bei sich behalte. I I : li 38 Das Lehen Edgar Poes Damals vollführte Edgar auch seine Heldentat als Sdiwimmer: er schwamm die James gegen eine starke Strömung von Ludlam bis Warwidk hinauf und erregte die Bewunderung der Kameraden, die ihm am Ufer folgten. Unter ihnen befand sich der junge Robert Stanard, der mit ihm in inniger Freundsdiaft verbunden war, wie sie manchmal zwischen Knaben verschiedenen Alters entsteht und in der der Jüngere für den Älteren eine Art Verehrung hegt. Der junge Rob Stanard sang ofl: Edgars Lob vor seinen Eltern, dem Richter Robert Stanard und dessen Frau, Jane Stith Stanard, und spielte dadurch eine entscheidende Rolle in der Geschichte der Literatur. Eines Tages nämlich führte Robert Edgar zu sidi nach Hause, um ihm seine Kanindien und Tauben zu zeigen; er wollte den großen Freund seiner Mutter vorstellen und lud ihn ein, in das Haus einzutreten. Frau Stanard stand bei einem Fenster. Das Sonnenlidit fiel auf ihr klassisches Antlitz, beleuditete die schwarzen Locken, welche von einem weißen Band gehalten waren, und blieb auf den geraden Falten des Kleides liegen, das ihren schlanken Körper einhüllte. Mit ihrer sanften Stimme dankte sie Edgar dafür, daß er dem kleinen Rob ein so guter Freund sei. Aber Edgar hörte ihre "Worte kaum, und als er nacii Hause kam, war er die Beute eines erregenden Traumes. „Helen" war damals doppelt so alt wie Edgar. Wir können hier vorwegnehmen, was der zweite Teil dieser Studie deutlich zeigen wird: die Jugendliebeleien Edgar Poes, seine Neigung für Catherine Potiaux, dann für die Schul- kolleginnen Rosaliens „durchpausten" die Jugendliebe, die er ehemals für seine Schwester gehegt und die jenen andern den Weg bahnten, — die Möglichkeit einer großen Liebe jedocii lag nur in der "Wiederholung der Liebe besciilossen, die ihn ehemals an seine Mutter, an die wahre, kranke, tote gebunden Helen 39 hatte.*^ "Wie oft sah Edgar seine „Helen"? Gewiß öfter als nur einmal. Man erzählt, daß er ihr seine Verse vorlas und daß sie sein junges Genie ermutigte. Wovon sprachen sie bei diesen Unterhaltungen, die ihn entzückten und bei denen er in Verzückung zu den Füßen der luftigen und mütter- lidien Erscheinung saß? Wir werden es nie wissen. Aber wir kennen den ungeheuren "Widerhall, den diese Begegnung in seiner Seele gefunden hatte. Er sdieint übrigens als ersten Gegenstand seiner Leiden- schaft ein Geschöpf gewählt zu haben, dem das Sciiicksal be- stimmt war, wie Edgars Mutter vorzeitig krank zu werden und zu sterben. Tatsädilich wurde Frau Stanard bald nadiher wahnsinnig und starb. Um die Zeit herum, in der „Helen" starb, begann sich das Gemüt Edgars zu verdüstern. Er war mürrischer geworden, nodi einsamer als vorher und mied in der Sdiule die Gesell- sdiaft seiner Kameraden. Eine Schranke stand zwisdien ihm und seinesgleichen. Das war auch die Zeit, in welcher es mit dem Gesundheits- zustand der Frances Allan unter dem Einfluß jener myste- riösen Krankheit ernstlich bergab ging, die sie innerhalb von drei oder vier Jahren ins Grab bringen sollte. Nun hat die Neigung zu Frances Allan, seiner Adoptiv- mutter, für Edgar zu den tiefsten Liebesneigungen seines Lebens gehört. Er wußte es jetzt: ihr und Tante Nancy ver- dankte er es, daß er im Hause der Allans behalten wurde, aus dem ihn John Allan gern entfernt hätte. Und überdies besaß Frances jene Art besonders idealisierter Schönheit, die er ver- ehrte und die seine Augen und sein Herz entzückte. 12) Von allen Biographen Poes, die idi kenne, sdieint Joseph Wood Krutch allein diese Tatsadie geahnt zu haben und die widitige und verhängnisvolle Konsequenz, die sie für Poe enthielt und von der vir später spredien werden (Edgar Allan Poe, a Study in Genius, London, Knopf, 1926). 40 Das Leben Edgar Poes Außerdem war Frances Allan mit dem Heiligenschein des Opfers umgeben. Sie scheint nämlidi damals von der Untreue ihres Gatten erfahren und unter ihr gelitten zu haben. Auch Edgar mußte davon gehört haben, da man ja alles in einer so kleinen Stadt weiß. Die Ansdiuldigungen gegen seinen schul- digen „Vater", die moralischen und vielleicht auch physischen Leiden des "Wesens, das er liebte, ließen jedoch ebensosehr seine Zärtlichkeit für die „Mutter" anwachsen, wie sie den "Wider- willen gegen diesen "Vater steigerten. Inzwischen wurde Frau Stanard immer kränker. Edgar, dessen Gemüt sich immer mehr verdüstert hatte, besuchte seine Kameraden beinahe nicht mehr und kam täglich schweigsamer von der Schule nadi Hause zurück. Frau Stanard starb im April 1824. Man weiß nicht, ob Edgar an ihrem Leichenbegängnis teilnahm. Aber eine Tradi- tion behauptet, er habe ihr Grab in der Nacht aufgesucht. Er erzählte das nämlich später einer zweiten „Helen". "Wie immer aber dem auch gewesen sein mag, ob wir es bei dieser Be- hauptung mit der "Wirklichkeit oder einer Spiegelung zu tun haben, Tatsache oder Legende würden, als Psychisches ge- nommen, den gleichen "Wert haben, denn so oder so drücken sie die tiefste Neigung der Seele Edgars aus; und aus ihr wäre schließlich die Legende (wenn es sich wirklich um Legende handelt) entstanden. Jedenfalls fiel den Kameraden sein unermeßlicher Kummer auf. Und wenn auf dem Grab der Frau Stanard auf dem Friedhof von Shockoe auch nur eine gleichgültige Aufschrift steht, für die Nachwelt sind die Stanzen An H e I e n^^ er- halten geblieben: 13) To Helen Helen, thy beauty is to me Like those Nic^an barks of yore, That gently, o'er a perfumed sea, m 1 ■ 1 1 i^^ i 1 t *^*^ j^Ä -.-Nl -W >JtS^8v -j«ä Q Z o § o S z < < < z o < •t« ',■151 Helen 41 Stanzen an Helen Helen, dich vergleiche idi Nikäischem Boot, das sanft im Flug Wegmüden Wanderer mütterlich Voreinst durch duftigen Wogenzug Zum Heimatstrande trug. j Mich trug aus wildem Wogenbrand Dein hyazinthen Nymphenhaar, Dein klassisch Antlitz heim zum Strand — 2ur Macht, die Rom einst war, 2ur Pracht von Griedienland. Dort! In der prächtigen Fensternische Sehe wie eine Statue ich dich steh'n. Die achatene Lampe in deiner Hand! Adi! Psyche, aus diesen Zonen, Die heiliges Land. In diesen Stanzen lebt vielleicht ein wenig die Erinnerung an jene griechischen Marmorplastiken auf, die der kleine Edgar in London gesehen, als Elgin sie dort hingebracht hatte. The weary, way-worn wanderer bore , ^ To his own native shore. On desperate seas long wont to roam, Thy hyacinth hair, thy classic face, Thy Naiad airs have brought me home To the glory that was Greece, And the grandeur that was Rome. Lo! in your brilliant window-nidie ''■• How statue-like I see thee stand The agate lamp within thy band! Ah! Psydie, from the regions which Are Holy-Land! To Helen, 1831; Southern Liter ary Messenger, März 1836; Graham' s Magazine, September 1841; Philadelphia Saturday Museum, 4. März 1843 (siehe V. E., Bd. 7, S. 171). Der hier zitierte Text (V. E., Bd. 7, S. 46) stammt aus dem Jahr 184J. 4^ Das Lehen Edgar Poes Aber es gibt eine Erinnerung, die noch Älteres heraufholt und die aus dem Leben Poes selbst kommt. Die hyazinthenen Haare, das klassische Antlitz, die Mienen der Najade, die den Dichter wie „daheim" zum häuslidien Herd, zum „home" gebracht hatten, waren in die Vergangenheit eingesargte Spiegelungen des mütterlichen Antlitzes und Schreitens, welche Poe in seinem "Werk und seinem Leben immer wieder heim- suchen mußten. So kehrte der Wanderer, der im Leben als Jüngling umherging, schon mit fünfzehn Jahren „müde, ver- stört" zum „heimatlidien Ufer" zurück, eine düstere Heimkehr zur Mutter, die für ihn auf immerwährende Zeiten eine Kranke oder eine Tote war. Noch bevor Edgar zwanzig Jahre alt war, hat er jene Verse geschrieben, welche seine persönlichste Auffassung von der Liebe aussprachen, eine Auffassung, der er sein ganzes Leben hindurch treu geblieben ist: Idi konnte nur dort lieben, wo der Tod Seinen Haudi mit dem der Sdiönheit mischte." Und das war für Poe mehr als eine der romantisdien Ein- gebungen, wie seine Zeit sie liebte: hier war der Ausdruck seiner tiefsten Natur, der nach den frühesten Erinnerungen modelliert wurde. Diese Lockung war notwendigerweise mit Schrecken ge- mischt. Das verängstigte Ich floh vor einer so furchtbaren Liebesfixierung. Denn Edgar Poe war ein Psychopath und nicht pervers. "Wenn er durch die psychischen Traumen aus seiner Kindheit ein „Nekrophiler" wurde, so ist er ein zu einem Teil „verdrängter", zum andern ein „sublimierter" Nekrophiler ij) I could not love except -where Death Was mingling his -with Beauty's breath . . . (Vorwort 1829, Introduction 183 1, erste Fassungen der Romance (1834 — 1845), ein Gedicht, in dem diese Zeilen später von Poe unterdrüdst wurden: V. E., Bd. 7, S. 164). Helen 43 geworden, und das gibt den Schlüssel zu seiner Psydboneurose, zu seinem Charakter, zu seinem Leben, zu seinem Werk. Es manifestierte sich deshalb in ihm ein Anwachsen von Angst in dem Augenblick, in dem er zum zweitenmal in seinem Leben Gefallen fand an einem glühenden Bedauern und einer leiden- schaftlichen Liebe für eine Tote. Nur in der Phantasie hat er die Toten und Halbtoten ausgraben dürfen; in der "Wirklichkeit bedrückte ihn der Sdirecken, der von seinen eigenen Imagina- tionen herkam. Mit vollem Recht hatte er Angst vor sich selbst und seinen Wünschen, die in schreckliche Alpträume projiziert waren und ihm beim Erwachen in jenen Nächten seiner Jugend so furchtbare Gesichter zeigten, daß er den Kopf unter die Decke steckte, um ihnen zu entfliehen. In jenen Nächten, und damit erreidite das Fürchterliche seinen Gipfel, bildete er sich ein, daß die eisige Hand eines Leichnams auf seinem Ge- sichte ruhe.*' 16) Israfel, S. 11 8/1 19, nach John Mackenzie. DER BESUCH LA FAYETTES UND DIE ERBSCHAFT WILLIAM GALTS Im Herbst des Jahres 1824 kam der gealterte La Fayette wieder nach Amerika zurück. Man verehrte in ihm den Feind der Tyrannen, den Freund Washingtons, den berühmten Soldaten, die Verkörperung des Triumphes der Lehren Jeffer- sons und der Philosophie Rousseaus und bereitete für ihn einen großartigen Empfang vor. Virginia war La Fayette besonderen Dank schuldig. Man vergaß weder seinen Feldzug gegen Arnold noch seine Tapfer- keit in Yorktown. Und die Ehren, die man dem großen Soldaten erweisen wollte, mußten selbstverständlidi vor allem militärischen Charakter haben. Die Miliz von Richmond war in keinem günstigen Zustand. Aber die jungen Leute der Stadt bildeten eine Kompanie von Freiwilligen, die Richmond Junior Volunteers oder Morgan Legion, und unter diesen jungen improvisierten Soldaten zeichneten sich die Schüler Burkes — der Nachfolger Clarkes — durch besonderen Eifer aus. Die Freiwilligenkompanie wählte zwei Offiziere: John Lyle wurde Hauptmann und Edgar Allan Poe Leutnant. Während der Abwesenheit der Truppen aus Richmond, welche La Fayette entgegengegangen waren, wurden Maß- nahmen zum Schutz der Stadt ergriffen und nur der Teil der Kompanie der Junior Morgan Riflemen, zu der der Leutnant Edgar Allan Poe gehörte, war bei dem Zusammentreffen mit dem berühmten Gast dabei. La Fayette, der einen Dreispitz und Kniehosen trug, kam mit dem Dampfer in Norfolk an. Er wurde festlidi emp- Der Besuch La Fayettes und die Erbschafl William Galts 4j fangen, die Veteranen der Revolution kamen herbei, um ihn zu begrüßen, und die Kompanie der Richmond Junior Volun- teers erwies ihm die Ehrenbezeigungen. Edgar Poe konnte dabei nidit unbemerkt bleiben, da er dodi der Enkel des „Generals" David Poe war. Hatte nicht La Fayette das Grab des „Generals" in Baltimore mit den Worten begrüßt: „Hier ruht ein edles Herz"! Diese Huldigung La Fayettes für seinen Großvater trug nun dazu bei, die Gedanken des jungen Mannes auf die Armee zu lenken, da dadurdi seine Identifizierung mit der berühm- testen Persönlidikeit der eigenen Familie wieder lebendig wurde. Die Aufnahme in die Kompanie der Freiwilligen von Richmond und der Rang eines Leutnants, dessen er sich dabei erfreuen durfte, gaben ihm zum erstenmal in seinem Leben das Gefühl der Unabhängigkeit und das Bewußtsein, daß er endlich erwachsen sei. Von diesem Augenblick an scheint Edgar das Jocii besonders unerträglich gefunden zu haben, das Allan ihm auferlegen wollte. Er lehnte sich von nun an gegen die körperlichen Strafen auf, beantwortete respektlos die Befehle seines Vor- munds und zog sich Tage hindurch übelgelaunt zurück. Allan hingegen soll bereits im November 1824 an Henry Poe jenen berühmten Brief geschrieben haben, in dem er Edgar der Un- dankbarkeit bezichtigte und von Rosalie sagte, sie sei nur seine „Halbschwester". Auf der Rückseite der Absdirifl; dieses Doku- ments, das unter den Schriften Allans gefunden wurde, befindet sich außerdem eine von dessen Hand stammende Zins- und Zinseszinsrechnung.^'' Im März 1825 starb Onkel William Galt und hinterließ John Allan den größten Teil seines Vermögens. Die Allans, die Galts oder andere Verwandte aus Schottland und Amerika 17) Israfel, S. 125/126. 4^ Das Leben Edgar Poes erbten hingegen bloß kleine Summen. Poe behauptet später, daß Allan siebenhundertfünfzigtausend Dollar geerbt haben soll. Ob diese Angabe stimmt oder nicht, kann man heute sdiwer beurteilen. Jedenfalls aber befand sich John Allan nun im Besitze eines beträditlidien Vermögens, das aus Bargeld, Waren, Sklaven, "Wertpapieren und Immobilien bestand. Das Haus in der Fourteenth Street und Tobacco Alley, das die Allans wieder bewohnten, genügte daher nidit mehr den „sozialen" Ambitionen John Allans, nicht mehr dem Leben, das er führen wollte, es war zu unscheinbar für die Empfänge, die er zu geben beabsichtigte. Trotzdem der Gesundheits- zustand seiner Frau immer mehr zu wünsdien übrig ließ, wollte er jenen imponieren, die in der Stadt weitertrugen, „Galt habe sein ganzes Geld dem alten Allan mit dem ge- schwollenen Fuß hinterlassen."^' (Er litt an der Gicht.) Darum kaufte er am 28. Juni 1825 für die Summe von vierzehn- tausendneunhundertfünfzig Dollar bei einer Versteigerung das große Haus, das die Südecke der Main und Fiflh Streets bildete. Ein großer Garten lag zu den Füßen des Hauses; auf dem östlichen Teil war Gemüse angebaut, auf dem südlichen, der auf dem Abhang eines Hügels lag, gab es "Weingärten, Feigen- bäume und Himbeersträucher; es fehlte auch nicht an Blumen- beeten, an Gartenblumen oder blühenden Büschen. Von den Fenstern aus genoß man einen weithin reichenden und poesievollen Blick; das Tal der James verlor sich erst am Horizont. Das Erdgeschoß bestand aus der Diele, dem Speise- zimmer und dem Salon; im Stockwerk darüber waren ein großer Empfangssaal, die Zimmer John Allans und der Damen, ein Gästezimmer und das Edgars. 18) So Galt has lefl all bis money to cid swell-foot Allan {Israfel, S. 116). I Der Besuch La Fayettes und die Erbsdiafl William Galts 47 Das Zimmer Poes lag am äußersten Ende eines finstern Winkels über der Diele, am Absdiluß einer düstern Stiege. Dort brannte unaufhörlich eine „Lampe aus Achat". Das Zimmer hatte zwei Fenster, eines nach Norden, eines nach Osten mit einem weit hinschweifenden Blick. Außer dem gewöhnlidien Mobiliar standen in dem Zimmer eine bequeme Chaiselongue, auf die sich der junge Mann beim Lesen gern ausstreckte, ein voller Kleidersdirank und ein Büchergestell. Wir können vermuten, welche Bücher sich darauf befanden. Homer, Virgil, Caesar, Cicero, Horaz; englische und französi- sche Grammatiken, die Gesdiichte Englands und Amerikas, „gotisdie" Romane und ein oder zwei Handbüdier über mili- tärisclie Taktik. Ferner Byron, Moore und Wordsworth, Coleridge und Keats, vielleicht Shelley, dann einige jener Dichter des achtzehnten Jahrhunderts, mit denen die Biblio- theken des Südens so gut versehen waren. Außerdem der Don Quichote, Gil Blas und Joe Miller, von denen wir später nodi hören werden, und schließlich Milton, Bums, Campbell, Kirke White und sicherlich E. C. Pinkney. An Romanschriftstellern muß Poe Scott gekannt haben, Cooper, Charles Brockden Brown, die ersten Arbeiten Irvings. Er hat auch Macaulay und andere Essayisten gelesen und die Revuen jener Zeit: die Edinburgh Review, Black- wood's, die Critical Review of Annais of Literature, und das London Ladies' Magazine, das die Firma Ellis &: Allan bekam oder besaß. Moore, Byron und Goldsmith scäieinen ihn be- sonders interessiert zu haben. Das Haus wurde von Frances Allan mit Geschmack ein- gerichtet; die Möbel waren im Empirestil, und außerdem ent- hielt es die Büsten Dantes und der Maria von M a g d a 1 a von Canova. In Edgars Zimmer stand ein Schreibtisch, auf dem sich ein Tintenfaß aus Bronze und eine Sandbüdise befanden, die von seinem „Vater" gekauft worden 48 Das Leben Edgar Poes waren und in die der Name John Allans eingezeichnet war. Als Poe später das Haus verließ, nahm er diese Gegen- stände mit. An der Dedce eines geräumigen gesdilossenen Balkons war eine Schaukel angebracht, audi ein Fernrohr gab es hier, durch das die jungen Leute die Sterne beobaditen konnten. Edgar verbrachte dort viele Stunden, mit solcher Leidenschaft hing er an der Astronomie. Er liebte es, lange das silberne und tote Antlitz des Mondes zu betrachten. Öfter sifi^'k"'Al In Baltimore bei Frau Clemm iij einen Jammerbrief,'"' der voll Heimweh nadi dem „home" in Ridimond war. John Allan antwortete aber wieder nicht. Edgar hatte also endgültig die Unterstützung durch seinen „Pa" verloren. Da er nun in gewisser Hinsicht ein Kind ge- blieben und unfähig war, seine materielle Existenz selbst zu ordnen, brauchte er sein ganzes Leben hindurch den bevor- mundenden Geist, der ihm Nahrung und Obdach gab. Den fand er hier. Zu seinem Glüds war im Herzen seiner Tante Maria Clemm ein Platz für ihn bereit. Henry Poe war ge- storben; Henry Clemm war ein Trunkenbold und brutal. Edgar kam nun viel besser als Henry dem ungeheuer großen Bedürfnis der armen Witwe nadb Liebe entgegen. Er wurde daher von Tag zu Tag inniger ihr wirklicher „Sohn" und teilte mit Virginia die unendlichen Schätze ihres weiten mütter- lidien Herzens. Maria Clemm vollbrachte "Wunder, um diese ganze Gesell- schaft zu ernähren: Henry, Virginia, Edgar und die alte ge- lähmte Mutter. Sie machte Näharbeiten. Und wenn sie mit ihrer kräftigen Gestalt und dem breiten Gesicht, das von einer Witwenhaube umrahmt war, fortging, trug sie auf ihrem Arm fast immer jenen berühmten Korb, in den sie die Geschenke legte, die sie für die Ihrigen hier und dort, bei Verwandten und Freunden erbettelt hatte, wenn die magern Mittel des Hauses nicht genügten, um sie zu ernähren. In dem armen Heim herrschte das Elend. Und damit das Elend seinen Gipfel erreiche, wurde Edgar am 7. November 1831 bedroht, wegen Schulden eingesperrt zu werden, wegen der achtzig Dollar seines Bruders, die er als seine eigene Schuld anerkannt hatte. Vergebens schrieb er am 18. November neuerdings an Allan einen Brief, in dem er ihn anflehte, ihn zu retten. Vergebens jj) Valentine Museum Poe Letters, Brief 26. 8* "n "^ Das Leben Edgar Poes versudite am 5. Dezember Frau Clemm, durch ihre innige Bitte seinem Flehen Nachdruck zu geben: es sei ihr mit größter Mühe gelungen, zwanzig Dollar aufzutreiben, sechzig fehlten noch, ob Allan sie nicht schicken wolle? Und da Poe jioch immer keine Antwort erhielt, schrieb er am ij., am 29. De- zember wieder und wieder Briefe an Allan, in denen er sidi neuerdings demütigte.^" Inzwischen hatte Allan, nach dem Empfang des Briefes der Frau Clemm, an John Walsh, einem Geschäftsfreund in Balti- more, geschrieben, er möge Poe aus der Haft befreien und ihm überdies zwanzig Dollar übergeben. Aber Herr Allan hatteseinenBriefinderLadevergessen. Erst im Januar 1832 bekam Poe dieses Geld, das die letzte Unter- stützung war, die jemals wieder von seinem „Pa" kommen sollte. Seit seiner Rückkehr nach Baltimore suchte Poe eine Be- schäftigung. Vergebens. Nun setzte im Sommer 1831 der Phila- delphia Saturday Courier einen Preis von hundert Dollar für den Autor der besten Geschichte ausj Poe schrieb für diese Konkurrenz einige Erzählungen und reichte sie ein. Die Gedichtbände hatten ihm kein Geld eingebracht; er versuchte es daher auf einem andern Geleise. In den Jahren 1831 und 1832 vernachlässigte er die Poesie;" er begann sich der Prosa zu widmen. Die Tage, die er in der von seinem Bruder verlassenen Mansarde der Frau Clemm verbrachte, um die Geschichten des Folio Clubs 56) Valentine Museum Poe Letters, Brief 27, 28, 29 und 30. 57) Aus jener Epodie kennen wir bloß „Das Kolosseum" {The Cohseum), ein durdi die Antike inspiriertes Gedidit, in dem die „Rume" besungen wird, und „Politian", das Fragment eines in Itahen spielenden Dramas, in welchem von neuem die Frau als Opfer des Mannes auftaudit. Lalage sdilägt übrigens darin ihrem Radier Politian, mit dem sidi Poe identifiziert, vor, mit ihr nadi Amerika zu fliehen. In Baltimore bei Frau Clemm 117 zu schreiben, werden zu einem bedeutenden literarisdien Datum.^^ In diesem ersten Teil unserer Arbeit sollen die Erzählungen Poes nicht analysiert werden; diese Untersudiung ist zu wichtig und würde an unserer Stelle die Kontinuität des Berichtes von seinem Leben zu sehr unterbrechen. Die Gedichte vermengen sich in einer augenscheinlicheren, mehr an der Ober- fläche liegenden Art mit seinem Leben: man kann daher im Vorübergehen von ihnen Notiz nehmen und sie sofort studieren. Die Erzählungen hingegen führen ihre Wurzel meistens in viel tiefere Schichten des Unbewußten hinab. Denn das äußere Bedürfnis nach Geld, das Poe bedrängte, hätte nie genügt, aus ihm den Erzähler zu machen, den wir kennen; es mußte noch das innere Bedürfnis hinzukommen, mehr aus- drücken zu können, als die Poesie möglich machte: den ganzen Traum und Alp seiner Seele. „Der Schrecken, von dem ich erzähle, kommt nicht aus Deutschland, sondern aus der Seele", sdirieb er selbst,^" um sich gegen den Vorwurf zu verteidigen, er sei ein Nachahmer der Deutschen, z. B. Hoffmanns, dessen Erzählungen er übrigens (wie Woodberry behauptet) nur sehr oberflächlich j8) Tales of the Folio Club: Manuscript Found in a Bottle; Berenice; Morella; Some Passages in the Life of a Lion (Lionizing); The Unparalleled Adventures of One Hans Pfaall; The Assignation (The Visionary); Bon-Bon; Shadow (a Parable); Loss of Breath, a Tale neither in nor out of „Blackwood" ; King Pest, a Tale con- taining an Allegory; Metzenger stein; The Duc de l'Omelette; Four I Beasts in One, The Homo-Cameleopard; A Tale of Jerusalem; \ Silence, a Fable; A Descent into the Maelström. (V.E., Bd. 2, S.XXXV.) Woodberry (II, S.40if.) ist der [Ansicht, A Descent into the Maelström gehöre nidit zu den „Gesdiithten des Folio Clubs". 59) Vorwort zu den „Tales of the Grotesque and Arabesque", 1840: „. . . that terror is not of Germany, but of the soul." (V. E., [Bd. I, S. iji.) Poe scheint übrigens nidit deutsdi gekonnt zu haben. ii8 Das Leben Edgar Poes gekannt zu haben sdieint. Mit Recht behauptet Poe, von äußeren Einflüssen unabhängig zu sein, da diese nichts anderes als „"Wiedererwecker" dessen sind, was bereits in uns schlummert. Kein einziger dieser äußei-en Gründe, weder das Bedürfnis, dem Elend zu entgehen, noch die Anregung durdi irgendein Vorbild, noch der Alkohol oder das Opium, zu dem er damals, wie man glaubt, seine Zuflucht genommen, hätte also genügt, um Poe die Berenice, Ligeia, Das Haus Usher oder Die schwarze Katze einzugeben. "Wir wissen fast nichts aus jenen mysteriösen Jahren als die Tatsadie, daß Poe sie dazu verwendete, seine ersten Er- zählungen zu schreiben, und daß er beinahe den ganzen Tag in der Mansarde der Frau Clemm eingeschlossen und selten draußen anzutreffen war. Das widitigste Ereignis seines damaligen Lebens war die Liebe zu Mary Devereaux, einem jungen Mäddien, das in die Reihe der „Schwestern" gehörte. "Wir kennen den Verlauf dieser Episode durch den Bericht, den sie selbst ungefähr vierzig Jahre später niedersdirieb."" Die Mansarde, die Edgar bewohnte, blickte auf die Rückwand der Häuser der Essex Street in der alten Stadt. Poe hielt sidi in ihr stundenlang auf und arbeitete. Eines Tages erblickte er jenseits der Höfe, in denen "Wäsdie trocknete, ein hübsdies Mädchen, das beim Fenster des gegenüberliegenden Hauses saß. Sie hatte helles kastanienbraunes (auburn) Haar, das nadi der damaligen Mode in gekräuselten Locken aufgesteckt war. Diese Haare und das hübsche Mädchen verführten den jungen Edgar, und hüben und drüben begann ein Flirt mit Tasdien- tüdiern. Eine andere kleine Nachbarin, Mary Newman, kam 60) Jsrafel, S. 331 ff. In Baltimore bei Frau Clemm "9 bald zu diesem Spiel dazu, und beide Mäddien unterhielten sidi über den romantisdien jungen Menschen, von dem man im I viertel wußte, daß er Soldat und Dichter sei. An einem Sommernachmittag, als die beiden Mary bei den einander benachbarten Toren ihrer Häuser standen, ging der junge Edgar vorüber. Er grüßte sie. „Kennst du ihn?", flüsterte Mary Newman der Mary Devereaux zu. „Nein", antwortete diese, obwohl sie schon den Bitten Edgars nach- gegeben und ihm durch die Vermittlung Virginias, die als Botin diente, eine Locke von ihren Haaren geschickt hatte. Edgar ging auf beide zu; und da Mary Newman ins Haus zurückgerufen wurde, blieb er mit dem Mäddien, das er liebte, allein. Er sprach mit ihr von ihren Haaren, von diesen Haaren, welche, wie er sagte. Dichter verrüdit machen können. Seit diesem Tag besuchte er Mary Devereaux jeden Abend, ein ganzes Jahr hindurdi; sie fügt hinzu, daß er während dieser ganzen Zeit, soviel sie wenigstens wisse, nidit ein einziges Mal getrunken habe. Er konnte, sagt sie auch, Menschen mit dunkler Haut nicht leiden."^ Er liebte voll „Ver- zweiflung", geriet leidit in Zorn und war sehr eifersüchtig. Er hatte seine Gefühle kaum in der Gewalt, sein seelisches Gleichgewidit war oft gestört, er hatte, wie Mary meint, „zuviel Gehirn". Er machte sich über alles lustig, was heilig war, und ging niemals in die Kirche. Er sprach häufig von einem Geheimnis, das auf ihm laste, und das er niemals werde ergründen können. Er glaubte, er sei geboren, um zu leiden, und das vergifte sein ganzes Leben. Frau Clemm sprach auch in Andeutungen von einem Familiengeheimnis, von irgend- einer Schande. „Eddy" sprach mit Mary immer nur von seiner Liebe, nie von seiner Poesie. Virginia überbrachte Mary die Briefe, die 6i) Die Gesichtsfarbe seiner Mutter muß bei ihrem sdiwarzen Lodsenhaar bleidi und weiß gewesen sein. "° Das Leben Edgar Poes \ Edgar ihr sdirieb, und am Abend gingen sie gemeinsam aus und ließen sich häufig auf einem der Hügel außerhalb von Baltimore nieder. In einer Mondnacht, als sie eine Brücke überschritten, an deren Ende das Haus eines Pastors stand, packte Eddy Marys Arm, er wollte sie ins Haus hineinziehen: „Komm Mary, heiraten wir, wir könnten ebensogut jetzt wie zu irgendeiner anderen Zeit heiraten." Das Haus Marys war ganz in der Nähe; sie kümmerte sich nicht um seine Worte und ging einfadi nadi Hause. Sie erzählt außerdem, daß ihr Bruder sich dem Gedanken an eine Heirat mit Eddy widersetzte, weil dieser „unfähig sei, sein Leben zu verdienen", wie Allan, der auch gegen die Heirat war, Eddy geschrieben haben soll(?); und sie erzählt auch, wie sie eines Abends auf die Aufforderung eines gewissen Herrn Morris die Lieblingsromanze Eddys sang {Come, rest in this bosom — Komm', ruh auf diesem Busen), was Eddy vor Eifersucht ganz toll machte. Sie berichtet schließlidi von jener Szene, die den Bruch herbeiführte. Eines Abends wartete sie vergebens bis zehn Uhr auf die Ankunft ihres Geliebten. Ihre Mutter kam in den kleinen Salon herein und sagte ihr, es sei Zeit, sdilafen zu gehen. Die Fenster des kleinen Salons waren geöffnet, Mary hatte den Arm auf das Fensterbrett gestützt, der Kopf lag auf den Armen und sie weinte. Als die Mutter hinausging, ersdiien Eddy: er war betrunken. Das sei das einzige Mal gewesen, sagt Mary, daß sie ihn in diesem Zustand gesehen habe. Das Tor des Hauses war geschlossen, er kam zum Fenster, dessen Flügel halb gesdilossen waren und öffnete sie. Er hob den Kopf Marys in die Höhe, sagte ihr, daß er auf der Brücke Kameraden getroffen habe und dann mit ihnen in Barnum's Hotel gegessen und getrunken habe. Er habe sidi so schnell als möglich heimlich davongemacht, um sie zu ver- In Baltimore bei Frau Clemm ständigen. Nun genüge ein Glas "Wein, um ihn betrunken zu machen, und er habe an diesem Abend mehr als ein Glas getrunken. Mary öffnete die Tür und setzte sich mit ihm im Mond- schein auf die Treppe. Und dann entstand zwischen den beiden Liebenden ein Streit, über dessen Ursache Mary nidit sprechen will. Er hatte zur Folge, daß Mary die Treppe hinunterrannte, um das Haus herumlief und von rückwärts wieder in das Zimmer eilte, in dem ihre Mutter sich aufhielt. Die Mutter war verwirrt und fragte: „Mary, Mary, was geht denn vor?" Poe war Mary gefolgt und trat nun auch in das Zimmer ein. Frau Devereaux befahl ihrer Tochter hinauf- zugehen, was diese auch tat, und blieb mit Edgar allein, der schrie: „Ich muß mit Ihrer Tochter sprechen! "Wenn Sie ihr nicht sagen, daß sie herunterkommen soll, werde ich sie holen gehn, ich habe dazu das Recht!" Frau Devereaux, die sehr groß und stark war, stellte sich vor die Tür zur Treppe: „Sie haben dazu nicht das Recht und werden nicht hinaufgehen"; worauf Poe antwortete: „Ich habe das Recht! Sie ist meine Frau in den Augen des Himmels!" Da gab Frau Devereaux Edgar den Rat, nach Hause zu gehen und sich schlafen zu legen; was er auch tat. Von diesem Tag an war das Haus Marys für Edgar ver- schlossen, und sie schickte ihm seinen ersten Brief, ohne ihn zu öffnen, zurück. Sie öffnete den zweiten; außerdem ver- öffentlichte Poe in einer Zeitung von Baltimore ein kurzes Gedicht An Mary, in welchem er sie der Unbeständigkeit anklagte und aus dem man sie wiedererkannte. Daraus ent- stand viel Ärgernis, Marys Onkel wurde cowhided, d. h. er wurde in seinem eigenen Geschäft: von Edgar gepeitscht. Die Devereaux verließen nach diesem Zwischenfall Baltimore. So endete die Liebesgeschichte von Edgar und Mary bereits auf die gleiche "Weise, auf die später eine andere Liebesgesdiichte Das Leben Edgar Poes Poes enden sollte. Eine lange, heftige Werbung findet ihr Ende in einer Szene, in der Edgar betrunken vor seiner Schönen erscheint und davongejagt wird. Inzwischen madite Herr Allan in Ridimond am 17. April 1832 sein Testament. Die Wassersucht bedrohte ihn immer heftiger, und Poe sdieint durdi Briefe aus Ridimond Wind von dem sdilechten Gesundheitszustand seines „Pa" bekommen zu haben. Daher kam Edgar nadi zweijähriger Abwesenheit im Juni wieder in Ridimond an. Was erhoffte er sich? Ein wenig Neigung, ein wenig Geld, ein wenig Erinnerung? Als er jedoch die Türe seines früheren Heims öffnete und nach seinem Zimmer verlangte, informierte ihn der alte Neger, der das Haus beaufsiditigte, daß das Zimmer des „Marse Eddy" in ein Gästezimmer verwandelt worden sei. Nun ver- langte Edgar die neue Frau Allan zu sprechen. Sie kam in den Salon herunter. Edgar machte ihr heftige Vorwürfe: warum hat man ihm sein Zimmer weggenommen? Sie antwortete, daß sie Herrin in ihrem Haus sei. Poe ging nun so weit, daß er ihr unterschob, sie habe aus Gewinnsucht gehandelt, als sie Allan heiratete. Man hörte indessen von oben die Stimme eines der Erben seines „Pa". Frau Allan antwortete Edgar, daß er hier nidit nur keine Rechte habe, im Gegenteil, er sei Allan für seine Wohltat zu Dank verpflichtet. Und dann schickte sie diesem in sein Büro die Mitteilung: Edgar Poe und sie könnten nicht einen Tag unter demselben Dadi bleiben. Edgar blieb inzwischen hartnäckig im Salon sitzen, bis er das gewohnte und von ihm gefürditete Geräusch eines Stockes auf dem Fußboden und einen ihm wohlbekannten Sdiritt hörte — und sich aus dem Staub machte. Er verließ eine Tür in dem Augenblick, in dem John Allan in der andern ersdiien. In Baltimore bei Frau Clemm 123 Er flüchtete sich zu den Mackenzies, wo er seine Schwester Rosalie wiedersah und wohin ihm die Tante Nancy ein wenig Geld schickte. Dann fuhr er nach Baltimore zurück. Im Herbst 1832 übersiedelte Frau Clemm aus der Milk Street mit ihrer gelähmten Mutter, mit Virginia und Edgar in ein ganz kleines Häuschen, 3, Amity Street. Das alte Leben voll Elend und Arbeit ging dort weiter. Während des ganzen Jahrs 1833 schrieb Poe an Allan nur einen einzigen Brief. Dieser vom 12. April datierte Brief ist ein Dokument der Verzweiflung. Poe teilt darin seinem Vor- mund mit, daß er ohne Geld sei, ohne Arbeit, ohne Freunde, krank: „um Gotteswillen, haben Sie Mitleid mit mir und retten Sie midi vor dem Untergehen.""^ Allan antwortete auch diesmal nicht, und dieser vergebliche Hilferuf war der letzte, den Poe seinem „Pa" schicken sollte. Die Hydropsie des Herrn Allan machte große Fortschritte. Gegen Ende Juli begab er sich mit seiner ganzen Familie, seiner Frau, seiner Schwägerin, den Kindern und den Dienern, mit einer wahren Karawane zu den Virginia Hot Springs, den warmen Quellen Virginias, um dort, vergeblich, Heilung zu suchen. Inzwischen nahm aber das Schicksal Edgars eine "Wendung zum Besseren. Zwar hatte der Philadelphia Saturday Courier keine seiner Einsendungen preisgekrönt, aber als im Juli 1833 der Baltimore Saturday Visiter einen Preis von fünfzig Dollar für die beste Erzählung und von fünfundzwanzig Dollar für das beste Gediciit, die eingeschickt würden, ausschrieb, tat Poe dennocii mit. Die Schiedsriciiter bei diesem Ausschreiben waren John P. Kennedy, Dr. James H. Miller und J. H. B. Latrobe; von dem Letztgenannten haben wir einen Bericht über die Sitzung, in der die Erzählungen und Gedichte vorgelesen wurden. 62) „For God's sake pity me, and save me from destruction." {Valentine Museum Poe Letters, Brief 31.) 1^4 Di»^ Leben Edgar Poes Man sieht, wie das junge Genie Poes gleich im ersten Anlauf seine Zuhörer gepackt hatte. Poe erhielt den Preis von fünfzig Dollar für seine Erzählung: Das Manuskript in der Flasche, und er bekam nur deshalb nicht audi den Lyrik- preis (für sein Gedicht Das Kolosseum), weil die Preis- richter zögerten, beide Preise demselben Autor zu geben. Als Das Manuskript in der Flasche mit den lobenden Bemerkungen der Sdiiedsriditer veröffentlidit wurde, wandte sich die allgemeine Aufmerksamkeit dem Namen Edgar Poes zu. Dieser dankte seinen Riditern persönlich. Latrobe hat uns ein pittoreskes Bild von jenem Besudi gemalt, bei dem Poe ebenso düster gewesen zu sein scheint wie sein „Rabe": „er war ganz in Sdiwarz gekleidet, sein Anzug war bis zum Hals zugeschlossen und reichte bis zu der schwarzen Krawatte . . ., so daß keine Spur von "Weiß zu sehen war." Er berichtet uns auch, daß der Dichter eben damals durch eine jener Krisen von heftigster Erregung hindurch- gegangen sei, welche mit Perioden von Depression ab- wechselten: Poe, der um diese Zeit die Reise in den Mond (Hans Pfaall) schrieb, bildete sich ein, während seiner Beschreibung der Reise selbst zum Mond gefahren zu sein, er gestikulierte, schlug die Hände ineinander, klopfte mit dem Fuß auf den Boden und sprang in die Luft. Es gab damals in Baltimore zwei literarische Gesellschaften: die eine, die künstlerisch bedeutendere, wurde von Kennedy und Gwynn geleitet; zur andern gehörten die Schriftsteller, die mehr für den volkstümlichen Geschmack der Magazine schrieben. Poe schloß sich der ersten Gruppe an, und Kennedy, der vom Genie des Dichters gleich im ersten Anlauf erobert worden war, wurde sein Sachwalter und sein Freund, er „lancierte" ihn. So ging das Jahr 1833 zu Ende, beschienen von den ersten Strahlen eines beginnenden Ruhms, die aber doch nicht In Baltimore bei Frau Clemm 125 das Elend aus einem armen Heim verscheuchen konnten. In Ridimond lag John Allan im Sterben. Und zu Beginn des neuen Jahres stand Edgar Poe noch einmal vor dem Hause der Allans, er versuchte wohl, von seinem Adoptivvater doch noch Verzeihung zu erlangen und für seine „Recäite" ein- zutreten. Man erzählt, daß sich Edgar sofort nadi seiner Ankunft ins Haus stürzte, den alten Hausmeister, der ihn anhalten wollte, wegschob, in einem Sprung die Treppe hinaufgeklettert war und ins Zimmer eindrang, in dem Allan, den die Hydropsie an den Stuhl fesselte, von seinen Polstern umgeben dasaß und die Zeitung las; den Stock hatte er neben sich. Der alte Mann hob die Augen von seiner Zeitung auf und sah plötzlich in der Türe eine Erscheinung aus der Vergangenheit: seinen „Adoptiv- sohn", der verlegen wie immer vor seinem „Pa" stand. Und nun wollte Edgar ins Zimmer treten. Aber John Allan packte den Stock, den er neben sich hatte, sprang halb auf und schwang ihn in der Luft; dabei spie er einen Sturzbach von Beschimpfungen aus. Seine Frau und seine Diener, die durch sein Sdireien angelockt waren, liefen herbei, und dieselben schwarzen Sklaven, die ehemals Edgar bedient hatten, warfen ihn aus dem Haus hinaus. Das war die letzte Unterredung zwischen diesem „Vater" und diesem „Sohn". Am 27. März 1834 starb John Allan. Seine "Witwe focht das Testament an, welches außer verschiedenen Zuwendungen an die Familie John Allans auch nocäi ein Legat für die illegitimen Zwillinge und deren Mutter Frau Wills enthielt. Edgar wurde in diesem Testament niciit einmal genannt. Damit war sein Elend endgültig beschlossen, keine noch so schwache Hoffnung gab es mehr auf eine Versöhnung mit dem scäiwer- reichen Vormund. Poe hatte nun keine andere Stütze mehr auf der Welt als Frau Clemm. Nacii seiner Rückkehr zu dem einzigen Menschen, 126 Das Leben Edgar Poes bei dem er von nun an Schutz finden sollte, dürfte audi der Gedanke an eine Heirat mit Virginia in seinem Kopf ent- standen sein und eine festere Form angenommen haben. Vir- ginia war damals kaum zwölf Jahre alt, Edgar fünfund- zwanzig. Diese „Idylle", wie einige gesungen haben, war für Frau Clemm ein bequemes Abkommen, für Virginia, das kleine Mädchen, das den großen Vetter verehrte, eine glüds- volle Unterwerfung; für Edgar enthielt die Heirat mit seiner kleinen Cousine noch ganz andere, bedeutende Reize, von denen später die Rede sein wird. Aber die große Jugend Virginias war ein Hindernis für eine sofortige Heirat. Außerdem machten die Neilson Poes Vorstellungen. Man wartete also ab. In den Jahren 1834 — 1835 lebte die Familie in furchtbarer Armut. Carey, Lea &; Carey, denen Poe das ganze Manuskript der Geschichten des Folio Clubs geschickt hatte, waren mit der Veröffentlichung noch nicht herausgekommen. Die wenigen Erzählungen, die in den Zeitungen ersdiienen, stellten nur ein mageres Einkommen dar. Der rettende Engel dieser Tage war Kennedy, dem Poe in einem herzzerreißenden Brief den ganzen Umfang seines materiellen Elends ver- raten hatte — er konnte nämlich einer Einladung zu einem Essen nidit folgen, da er keine passenden Kleider besaß. Kennedy gab ihm daraufhin Kleider, freien Tisch und lieh ihm sogar sein Pferd, damit er wieder in Übung komme — die vornehmste Aufmerksamkeit, die man einem Gentleman Vir- ginias erweisen konnte. Aber den größten Dienst leistete Kennedy Poe dadurdi, daß er ihm eine Empfehlung an "White gab, an den „Drucker und Eigentümer""^ des Southern Literary Messenger in Ridi- 63) „Printer and Proprietär", so nannte White sidi selbst (V. E., Bd. 8, S. V). 1 In Baltimore bei Frau Clemm 127 niond. Poe schickte nun seine Erzählungen an White. B e r e- n i c e, dann M o r e 1 1 a wurden angenommen und im März und April 1835 mit lobenden Begleit Worten veröffentlicht. Poe schickte White aus Baltimore auch seine ersten kritischen Artikel. White, der ein ausgezeichneter Geschäftsmann war, fehlte es jedodi an den literarisdhen Eigenschaften, die für den Erfolg seiner Zeitung nötig waren. Er erriet, daß Poe der Mensch sei, den er brauche, und er fragte bei ihm an, ob er bereit sei, nach Richmond zu kommen. Da die alte Frau Poe am 7. Juli 1835 gestorben war, bestand die Familie nur mehr aus Frau Clemm, ihrer Tochter und Edgar. Nichts hielt Poe mehr in Baltimore zurück. Frau Clemm und Virginia sollten folgen. Er fuhr in der Mitte dieses Sommers allein nach Richmond voraus. IN RIGHMOND DER KRITIKER DES „SOUTHERN LITERARY MESSENGER" DIE HEIRAT MIT VIRGINIA In Ridimond lebte Poe zuerst einige Tage bei den Mackenzies, dann mietete er sidi bei einer Frau Poore ein, die eine Pension hatte. Von hier ging er ins Büro des Southern Literary Messenger — das neben dem alten Comptoir der Firma Ellis &; Allan lag — oder aber er besuchte jene alten Freunde, die ihn gut aufgenommen hatten, die Mackenzies zum Beispiel, die Galts, Bob Cabell, Rob Stanard, und audi Herrn "White, seinen Arbeitgeber, dessen Toditer Eliza, ein recht gebildetes Mädchen, ihm gefallen zu haben scheint. Einige „Anhänger" Allans weigerten sich, ihn zu empfangen; aber sie waren nicht sehr zahlreich. Und eines Abends, bei einer gesellsdiafllichen Veranstaltung, die in einem großen Haus jenseits des Flusses stattfand, stand Edgar seiner Elmira gegenüber. Die Erregung war auf beiden Seiten riesengroß. Aber bevor sie noch ein einziges Wort hatten wechseln können, führte der erschrockene Shelton seine Frau fort. Edgar hatte das Gefühl, Elmira ein zweites Mal verloren zu haben. Inzwisdien kamen aus Baltimore Nachrichten, die ihn zur Verzweiflung brachten. Er mußte nämlichi fürchten, die Hoff- nung seines Lebens zu verHeren. Die Neilson Poes hatten sich seine Abwesenheit zunutze gemacht und auf Frau Clemm einen Druck auszuüben versucht, damit ihm Virginia ge- waltsam weggenommen werde und bei ihnen wohne; sie wollten das Mädchen vor einer Heirat bewahren, die sie ver- urteilten. Poe, der in Richmond allein war, geriet wieder in In Richmond — Die Heirat mit Virginia iz^ einen seiner gewohnten Depressionszustände und begann nun \ — wie in Charlottesville, wie in "West Point — zu trinken. Besonders bei Frau Poore trank er, in der Pension, in der er wohnte. Er trank sogar am Morgen, bevor er in die Re- ' daktion des Southern Literary Messenger zur Arbeit ging. Er t arbeitete trotzdem. Aber man hört den Schrei der Verzweiflung aus dem Brief heraus, den er am ii. September an Kennedy sdirieb: „Idi bin in diesem Augenblidi in einer erbärmlichen Stimmung. Ich leide an einer seelischen Depression, wie ich sie nodi nie empfunden habe. Ich habe vergebens gegen diese Melancholie an- gekämpft — Siewerdenesmirglauben, wenn ich Ihnen sage, daß ich unglücklich bin, trotzdem sich meine Lage so gebessert hat . . . idi bin unglücklich und weiß nicht warum. Trösten Sie mich — denn Sie können es! Aber das muß schnell sein — oder es ist zu spät. Schreiben Sie mir unverzüglich. Überzeugen Sie mich, daß es der Mühe wert ist, ja daß es notwendig ist zu leben. Und Sie werden mir damit beweisen, daß Sie mein Freund sind. Überzeugen Sie mich davon, daß ich machen soll, was gut ist.""* Auf diesen Brief hin antwortete ihm Kennedy, der beste Freund Poes, der Mensdi, der ihn als erster „verstanden" hatte, mit dem Rat, er solle versuchen, einige Possen in der Art der französischen „Vaudevilles" zu schreiben, um dadurch sein Ein- kommen zu erhöhen. So falsch kann ein Mensch den andern verstehen. Inzwischen aber hatte "White Poe wegen seiner Anwand- lungen von Unmäßigkeit, durch die er augenscheinlidi wie alle 64) My feelings at this moment are pitiable indeed. I am suffering under a depression of spirits sudi as I have never feit before. I have struggled in vain against the influenae of this melan- choly — you will helieve me when I say that I am still miserable in spite of the great improvement in my circumstances ... I am wretdied, and know not why. Console me — for you can. But let it be quickly — or it will be too late. "Write me immediately. Convince me that it is worth one's while, that it is at all neces- sary to live, and you will prove yourself my friend. Persuade me to do what is right (V. E., Bd. 17, S. 17). Bonaparte: Edgar Poe. I. g 13° Das Leben Edgar Poes i Giflsüchtigen seinen Depressionszuständen zu entgehen ver- suchte, entlassen. Poe war in großer Not nach Baltimore zurückgekehrt. Und Frau Clemm, auf die wahrscheinlich die Verzweiflung ihres lieben Eddy einen tiefen Eindruck machte, willigte ein, daß er Virginia sofort heirate. Die Zeremonie wurde in aller Heimlichkeit am 22. September 1835 in der Episkopalkirche vom heiligen Paul gefeiert, Frau Clemm war der einzige Zeuge. Die Heirat mit Virginia, einem kleinen Mädchen von dreizehn Jahren, wirkte auf Eddy wie ein schmerzlinderndes Mittel. Am 29. September war White, der damit vermutlich auf einen Brief Poes antwortete, einverstanden, ihn wieder beim Messenger aufzunehmen. Aber der Brief warnt in einem freundschaftlichen Ton eindringlichst vor der „Flasche", und „es versteht sich von selbst", schreibt White, „daß jede Ver- pfliciitung meinerseits in dem Augenblick annulliert ist, in dem Sie sich betrinken werden". Einige Tage später kam Poe wieder nach Riciimond zurück, ihm folgten sofort Frau Clemm und Virginia, mit denen er sich diesmal in der Pension einer Frau Yarrington häuslich niederließ. Seit dem Wiedereintritt Poes im Southern Literary Mes- senger wuchs die Zahl der Abonnenten, die vorher nur einige Hundert betrug, schnell an. Poe entfaltete eine überaus fruchtbare Tätigkeit. Im Jahre 1835 allein veröffentliciite er außer kritischen Notizen und Leitartikeln siebenunddreißig Referate über amerikanische oder ausländische Bücher und Zeitschriften, neun Erzählungen, vier Gediciite und Auszüge aus dem P o 1 i t i a n. Die Gediciite dieser Zeit (To Sarah, ein Gedicht, das von Elmira inspiriert wurde, To Mary, The Hymn) gehören zu den unbedeutenderen Leistungen des Lyrikers; die Mehrzahl der Erzählungen stammte aus dem in Baltimore abgefaßten Manuskript der Geschichten des Folio Clubs. In In Richmond — Die Heirat mit Virginia 131 dieser Zeit des Southern Literary Messenger ruhte also die schöpferische Kraft Poes; dafür erwachte der große und ge- fürchtete Kritiker, der Poe für seine Zeitgenossen werden sollte. Im Dezember 1835 wurde das große Publikum durch die Hinrichtung" eines abgeschmackten Romans, der damals sehr beliebt war, durch die Hinriditung des Norman Leslie von TheodoreFay auf Poe eindringlichst aufmerksam gemacht. Ein derartiger Ton war in der amerikanisdien Kritik noch nie zu hören gewesen. Poe zog sich durch diese Arbeit die Feind- seligkeit des „Nordens" zu, da Fay zur Gesellschaft der Knicker- bocker gehörte, welche die Revue des Nordens herausgab. Aber durch den gleichen Streich wurde er berühmt. Von nun an mußte man ihn fürchten, hassen, besdiimpfen, aber audi bewundern. Im gleidien Monat wurde er Chefredakteur"^ des Southern Literary Messenger und sein Einkommen betrug bereits fünf- hundertzwanzig bis achthundert Dollar jährlich. Die kleine Familie litt nun wenigstens nicht mehr Hunger, von Wohl- stand war man Jedodi nodi weit entfernt. Vergebens hatte Frau Clemm versucht, auf ihre Redinung eine Pension zu eröffnen; es mußte daher der Plan, eine andere Wohnung zu mieten, aufgegeben werden. Außerdem wurde im Februar von Carey, Lea & Carey das Manuskript der Geschichten des Folio Clubs zurückgeschickt, und im März lehnten auch die Harpers die Herausgabe ab. Am 16. Mai 1836 heiratete nun Poe Virginia vor der Öffentlichkeit. Die Zeremonie fand in der Pension der Frau Yarrington statt. Das Paar wurde diesmal durch einen presby- terianischen Pastor miteinander getraut.''" Virginia hatte ein 65) Editor. 66) Edgar gehörte der episkopalen Kirche, der Religion der Allans an; seine Familie väterlidierseits war presbyterianisch, da die Poes von sdiottisdien Protestanten, die im 17. Jahrhundert in Irland Zufludit gefunden hatten, abstammten. IJJ Das Leben Edgar Poes Reisekleid an, sie trug einen weißen Hut und einen Schleier Unter den Eingeladenen befand sich White und seine Toditer Eliza; und man aß Kuchen, den Frau Clemm gebacken hatte. Aber obwohl die Mäddien im Süden manchmal sehr jung heiraten, hielt man es für nötig, die Bestätigung des Thomas Cleland, der Drucker beim Messenger war, eines frommen Presbyterianers, zu erlangen, eine Bestätigung, an deren Wahr- heit Cleland wohl geglaubt haben mußte und in der er erklärte daß Virginia einundzwanzig Jahre alt sei. Trotzdem fand der Reverend Amasa Converse, daß die Braut sehr jung aussehe. Die Eheleute verbraditen ihre Flitterwochen in Petersburg bei einem befreundeten Journalisten, aber vor Ende Mai waren sie schon wieder zurück in der Pension Yarrington bei Frau Clemm. Bald nachher mietete diese eine kleine Wohnung in der Seventh Street, nahm dort einige Pensionäre auf und begann wieder zu nähen, um die Einnahmen des Haushalts zu vergrößern. Aber Poe, der jetzt offiziell geheiratet hatte, war nun häufig nicht zu Hause. Er besuchte gern die Court House Tavern, und kam nur in seine Wohnung, um die Tage der „Krank- heit", die seinen Alkoholexzessen folgte, im Bett zu ver- bringen. „Die Gesundheit Eddys läßt so viel zu wünsdien übrig", sagte dann Frau Clemm, „er kann heute nicht ins Büro kommen." Aber White erriet die Wahrheit, und trotz der dreiundneunzig Referate, der sechs neuen oder umgearbeiteten Gedichte, der vier Essays, der drei Geschiditen aus der Feder Edgars, die in seinen Spalten erschienen waren, trotz der Er- zählung vom Arthur Gordon Pym, die Poe damals zu schreiben begonnen hatte, trotz der Studie über die Maelzel's Chess- Player, in der Poe zum erstenmal seine Fähigkeit zu „analy- sieren" zeigte (er kam darauf, daß hinter einem angeblichen Schachspielerautomaten ein Mensch stecken müsse), trotz des Ungeheuern und immer wadisenden Erfolges des Messenger In Richmond — Die Heirat mit Virginia 133 unter seiner Leitung, ein Erfolg, der darin bestand, daß in zwei Jahren die Zahl der Abonnenten von fünfhundert auf dreitausendfünfhundert gestiegen war, entschloß er sich, Edgar aus seinem Unternehmen austreten zu lassen. Die beiden trennten sich in gütlichem Einvernehmen. Whites Geduld muß jedoch durch die Unmäßigkeit Poes auf eine harte Probe ge- stellt worden sein; anderseits hat vielleicht der Ehrgeiz Poes, der nodi zu Allans Lebzeiten ausgerufen: „Die "Welt soll mein Theater sein!",''' gefunden, der provinziale Schauplatz von Ridimond sei gar zu klein für ihn. Er träumte davon, eine eigene Zeitsdirifl herauszugeben. Und zu Beginn des Jahres 1837 verließ Poe mit Frau Clemm und Virginia, nachdem er die paar Möbel, die er besaß, verkauft hatte, Ridimond, um sidh nach New York zu begeben. Wir müssen uns jedodi jetzt, wie es auch schon mehrere Biographen Poes getan haben, die Frage stellen: weldier Natur waren die Beziehungen des Dichters zu seiner kindlichen Frau, seiner kleinen Cousine Virginia? Stellt man sidi diese Frage nidit, dann verurteilt man sich selbst dazu, Edgar Poe nicht wirklidi zu verstehen, ja nidit einmal zu ahnen, aus welchen Bedingungen sein "Werk und sein Schicksal hervor- gegangen sind. Schon in Richmond, noch bevor die Tuberkulose Virginia zugrunde gerichtet hatte, war sie in ihrer kindlichen Sdiönheit und Anmut von einer kreidenen Blässe, die jedem auffiel, der sie sah. "War sie schon damals der Krankheit verfallen, die sie sich wahrscheinlich durch Henry Poe geholt hatte? Diese Möglichkeit ist nicht von der Hand zu weisen, und der Reiz, den für Edgar Frauen hatten, die tuberkulös waren, ein Reiz, 67) „The World shall be my theatre!" (Valentine Museum Poe Letters, Brief 7). 134 Das Lehen Edgar Poes der in ihm tiefer und individueller verwurzelt war, als daß er eine oberflächlidie Mode der Zeit hätte sein können, war wahrsdieinlidb ein widitiger Faktor bei seiner Neigung für die kleine Cousine, die dazu bestimmt war, an Schwindsucht zu sterben. Aber wenn auch Virginia damals noch nicht sichtbar dieser Krankheit verfallen gewesen, so verriet doch ihr Gesicht, daß sie für dieses Leiden „empfänglich sein" mußte. Nun ver- steht es das Unbewußte, diese Zeichen zu deuten. Poe nahm daher, als er heiratete, eine Kandidatin der Schwindsucht zur Frau, eine Kandidatin der gleidien Krankheit, an der seine geliebte Mutter, noch bevor er drei Jahre alt geworden, gestorben war. Aber Virginia war noch etwas anderes als nur die noch mächtig werdende Verkörperung seiner Mutter, an die Poe in seinem Unbewußten fixiert geblieben. Sie war zu gleicher Zeit eine „Schwester", eine ganz kleine Schwester, die Verkörperung Rosaliens. Wie diese war sie infantil geblieben und auch dazu bestimmt, es zu bleiben, wie diese war audi sie geistig nicht sehr entwickelt. Rosalie war damals fünfundzwanzig Jahre alt, aber beide Frauen schienen gleidi alt zu sein, wenn sie sich im Garten der Mackenzies damit vergnügten, zu schaukeln oder Schnur zu springen und wie Kinder zu schreien. Virginia blieb ihr ganzes kurzes Leben lang immer die gleidie. Und nicht umsonst rief Edgar sie niemals anders als „Sis", was eine Abkürzung von „Sister", Schwester, ist. In ihrer zarten, ge- brechlichen Gestalt wurde daher für Poe ebenso die ätherisdie Mutter, die seit ihrer Kindheit krank gewesen, als audi die kleine Schwester von damals lebendig. Zu gleidier Zeit hatte er außerdem eine schützende und nährende Mutter in der Person seiner Tante und Schwiegermutter, der Frau Clemm, erheiratet, die er „Muddy"''^ nannte, ein Name, in dem viel- es) Englisch mud = Schmutz, Kot. Ich behaupte übrigens keines- wegs, daß diese "Wortassoziation Poe bewußt gewesen ist. Es soll In Richmond — Die Heirat mit Virginia 135 leidit mitklingen sollte, was für erniedrigende Arbeiten sie im Haushalt zu madien hatte. Virginia entsprach seinem dichterischen „Ideal". Sie hatte große, glänzende, sdiwarze Augen, eine etwas zu hohe Stirn und rabensdiwarze Haare, die mit einem wachsbleichen Teint stark kontrastierten. Eine krankhafte und seltsame Auf- gedunsenheit schien ihr bis zu ihrem Lebensende geblieben zu sein."^ Sie sah so aus wie die Heldinnen, welche die Ge- sdiiditen Edgar Poes bevölkern. Biographen Poes, wie Hervey Allen,'^" sind infolgedessen zu dem Schluß gelangt, daß Virginia dem Diditer das „Urbild seiner Heldinnen" eingegeben habe, als sie in sein Leben eintrat. Tatsächlidi erinnert die Berenice, die audi die Cousine des Ägeus ist, auf das seltsamste an Virginia; Ligeia hingegen mit ihren sublimen Augen und ihrer „"Wissenschaft" gehört einem i anderen, größeren, beherrschenderen Typ an. Daß nun Virginia 'in das furchtbare Königreich eintreten konnte, in dem die Seele ihres düsteren Gatten gespensterte, war aber nur möglich, weil eine andere den Weg gebahnt hatte. Die erste Liebe des Helden ist Ligeia gewesen, sie bereitete für Rowena, seine zweite Frau, das unheimliche Hodizeitsgemadi mit den ab- geblaßten Goldtapeten vor. Ganz ebenso mußte auch Virginia, bevor sie in das Werk und in das Leben Poes eintrat, in Elizabeth Arnold eine Vorgängerin gefunden haben. Das beweisen übrigens die Gedidite, die Poe geschrieben hatte, nodi bevor er in Baltimore neben Frau Clemm und audi daran erinnert werden, daß der Kosename für Mutter häufig Mutti ist, was stark an das englische, außerdem oft gebraudite Muddy anklingt. 69) Siehe das Aquarell, das nadi ihrem Tod in Fordham ge- macht wurde, und das übrigens das einzige Porträt Virginias ist, welches wir besitzen. Nadi S. 240. 70) Israfel, S. 388. I2i D"^ Leben Edgar Poes 1 Virginia seine Erzählungen verfaßte: die nekrophile Heldin lebte also bereits vorher, vor Virginia, in ihm. In West Point schon hatte er Die Schläferin und Lenore verfaßt, und damals bereits schrieb er, daß er nur dort lieben könne,' „wo der Tod seinen Hauch mit dem der Schönheit vermisdie".' Aber diese „Fixierung" an die Mutter seiner Kindheit, diese vergessene und dodi allmächtig gebliebene Liebe, die der Ab- nützung entzogen ist, welcher die bewußten Gefühle unter- liegen, mußte für das Liebesleben Edgar Poes ernste Folgen haben. Tatsädilich scheint Poe sein ganzes Leben hindurdi dieser ersten Liebe „treu" geblieben zu sein, treu in physi- schem Sinn. Und gerade um dieser Liebe treu bleiben zu können, nahm er seine kleine kränklidie Cousine Virginia zur Frau, ohne daß er selbst die tieferen Gründe seiner Wahl kannte. Wir können uns vorstellen, welche Folgen diese Wahl für die intimen Ereignisse seiner Ehe hatte. Anfangs, als Edgar Virginia heiratete, war sie zu jung, und wegen ihrer zu großen Jugend respektierte er sie, wobei er gewiß sich selbst sehr hodi einschätzte. Wenige Männer wären zu einer so hohen, so ätherisciien Liebe fähig, wie er, Edgar, sie für seine angebetete Frau empfand! Dann ging die Zeit weiter und der „Respekt" nahm nicht ab — warum sollte sich etwas an dem ätherischen Zauber ändern, der den Lieb- haber Eleonorens im Tal des vielfarbigen Grases berauschte? Aber bald kam die Krankheit, der „Respekt" wurde zu einer gebieterischen „Pflicht", und die ganze physische Leidenschaft, die nicht zum Ziel kam, floß bei Edgar in die stets wachsende und erregtere Verehrung hinein, die er seiner Kind-Frau widmete. Was dachte wohl Virginia von all dem? Wer wird das je wissen? Sie war ein Kind, ein einfacher Mensch, geistig nicht sehr entwickelt, und sie scheint sich widerstandslos mit ihrem Schicksal, mit der Armut, Krankheit, Sorge und dem In Richmond — Die Heirat mit Virginia 137 Respekt" abgefunden zu haben. Sie bewunderte, sagt man, ihren Eddy, ohne ihn zu verstehen, und die arme Kranke war ihm dafür dankbar, daß er auf sie so viel Rücksicht nahm und [zu ihr so zärtlich war. Und Frau Clemm war stolz, daß Eddy Isidi seiner Sis so aufopferungsvoll annahm, seiner Frau, die er, lals er sie heiratete, nur „wie eine teure Cousine" liebte. Das [sollen die eigenen "Worte der Frau Clemm gewesen sein.'^ Es wird von mehreren Biographen Poes, vor allem von IWoodberry, zugegeben, daß Edgar eine „reine Ehe" geführt habe, und sie versuchen, diese Tatsadie verschieden zu erklären. Aber während die „Ohnmadit", die Impotenz Poes nadi Hervey Allen ''" hauptsächlich durch den Gebrauch des Opiums entstanden sein soll, dem er sich zuerst in Baltimore in der armseligen Wohnung bei Frau Clemm hingegeben hatte, ist sie für Joseph Krutdi^^ vor allem psychischen Ursprungs Krutdi erwähnt nidit einmal die Opiumsucht Poes — und durdi die Fixierung an die Mutter verschuldet, eine Fixierung, die Krutdi zwar nicht sehr genau studiert, wohl aber sehr I 71) Im Newark Courier vom 19. Juli 1900 sdireibt Frau Phelps: „Frau Clemm, seine Tante, war die Freundin meiner Mutter. Idi erinnere mich, meineMutter und Frau Clemm über die Heirat sprechen gehört zu haben. Er liebte seine Cousine nur wie eine teure Cousine, als er sie heiratete, sie aber war ihm zärtlidi zugetan, und sie war sdiwächlidi und brust- krank. Solange sie lebte, widmete er sich ihr mit der ganzen Glut eines Liebenden . . ." „Mrs. Clemm, his aunt, was my mother's dear friend. I know something about . . . (the marriage) having heard my mother and Mrs. Clemm discuss it. He did not love his cousin, Iexcept as a dear cousin, when he married her, but she was fondly attadied to him and was frail and consumptive. While she lived he devoted himself to her with all the ardor of a lover . . ." (hrafel, S. j/i). 72) hrafel, S. J70 ff. 73) Joseph Wood Krutch, Edgar Allan Poe. A Study in Genius. London 1926. Alfred A. Knopf. \ 138 Das Leben Edgar Poes richtig erkannt hat. Nun scheint die letztere Hypothese wohl geeigneter als die erste, das Tatsächliche in Poes Liebesleben zu erklären.''* Wir wissen, daß sidi Poe in Charlottesville wie in West Point, mit sechzehn Jahren ebenso wie mit einundzwanzig, Ausschweifungen hingegeben hat. Welcher Art waren diese Exzesse? Er trank, er spielte! Frauen werden dabei nirgends erwähnt, und unter den Schulden, die Allan seinem Mündel vorwarf, ist nicht eine einzige für eine Frau gemacht worden. Die ganze Zeit hindurch, die Poe bei der Armee, im Fort Independance, im Fort Moultrie oder in der Festung Monroe war, hören wir nicht von einer einzigen Frau sprechen. Bloß die idealen Schattengestalten der Helen und Elmira schwebten vor ihm einher. 1 74) Im zweiten Band des Israfel (S. 570 ff.) spricht auch Hervey Allen von einer psychischen Inhibition — und erwähnt dabei nidit mehr das nach seiner eigenen Ansicht sozusagen normale Betragen gegenüber Mary Devereaux. Aber er kann nicht weiter sehen und begnügt sidi mit der Mitteilung, daß die Sdiwierigkeit, den Fall Poe zu verstehen und zu erklären sowie die Beziehungen zwisdien Persönlidikeit und Werk aufzudeAen, daher kommen, daß sowohl seine physisdie als auch seine psydiisdie Struktur ganz besonders kompliziert aufgebaut seien . . . Das einzige, was man sagen könne, fügt er hinzu, sei dies: „Die Wurzeln von Poes Unglüdi, seinen Qualen, seinem Zusammen- bruch, ebenso wie die seiner Macht als literarischer Künstler stecken in irgendeiner Inhibition seines Sexuallebens." Dieser verständnisvollen Haltung der jüngsten amerikanisdien Biographen Poes kann man als Beispiel Emile Lauvri^re gegenüberstellen. In seiner monumentalen „itude de Psychologie pathologique" , die er Poe gewidmet hat {Edgar Poe, sa vie et son ceuvre, Paris 1904, Felix Alcan 730 Seiten), ist das Problem des Sexuallebens seines Helden, das doch vom Standpunkt der patho- logischen und jeder andern Psychologie sehr wichtig ist — nidit einmal gestreift. Der Autor macht mit Hochachtung vor dem Alkoven Virginias halt und begnügt sidi in Summa damit, nadi der Mode seiner Zeit Edgar Poe als „degenere superieur" zu be- handeln. Das war und ist mensdiliche Prüderie imstande. e r In Richmond — Die Heirat mit Virginia 139 "W'ie stark war wohl die Leidenschaft, die der fünfzehn- jährige Edgar für seine Elmira empfand, mit physischer Er- regung gemischt? Vielleidit küßten sie sich''^ — dann trat das Sdiicksal und eine Ehe zwischen „ihn und sie". Nach West Point, in Baltimore, scheint Edgar in Eintracht mit seinem Bruder ein wenig der rasch wieder verschwindenden Kate Blakely den Hof gemadit zu haben. Das war aber eine Angelegenheit von geringer Bedeutung. Die „große Liebe" jener Zeit hieß Mary Devereaux, der die kleine Virginia damals die Briefe zutrug. "Wir haben nadi dem Bericht, der von Mary ungefähr vierzig Jahre später selbst niedergeschrieben wurde, ausführlich Epi- soden aus dem Verlauf dieser Liebe vorgeführt und auch von ihrem Ausgang erzählt.'" Fast ein ganzes Jahr hindurch, sagt Mary, habe Edgar sie aufgesudit und alle Abende sei er mit ihr spazierengegangen. An einem mondhellen Abend, an dem er seltsam erregt war, wollte er die Dinge beschleunigen und Mary ins nächstgelegene Presbyterium schleppen, um sie sofort 75) To Sarah The gentle zephyr floating by, In chorus to my pensive sigh, Recalls the hours of bliss, When from thy balmy lips I drew Fragrance as sweet as Hermia's dew. And left the first fond kiss. „Der sanfte Zephyr, der vorüberweht und sidi mit meinem nadidenklidien Seufzen vermengt, erinnert mich an die Stunden des Guides, in denen idi von Deinen Balsamlippen einen Duft atmete, der so süi5 war wie der Tau Hermiens, und meinen ersten zärt- hdien Kuß daraufdrüdcte." Dieses Jugendgedidit, von dem wir nur eine Strophe zitieren, wurde von Sarah Elmira Royster inspiriert; es ersdiien im Southern Literary Messenger, August 1835, unter dem Pseudonym „Sylvio". (Nadi J. H. "Whitty, The Com- plete Poems of Edgar Allan Poe, Boston and New York, Houghton Mifflin Company, S. 142 u. 317.) 76) S. 118 — 122. ^4° Das Leben Edgar Poes zu heiraten. Sie entkam ihm. Kurze Zeit nachher ersdiien er betrunken vor seiner Geliebten, und infolge eines Streites, dessen Ursadie Mary verschweigen will," flieht sie und flüditet zu ihrer Mutter. Frau Devereaux untersagt nun Poe ihr Haus. Hervey Allen sdiließt aus dieser letzten Episode, daß sich Poe bei seiner Liebschaft mit Mary wie ein normaler Verliebter betragen habe und daß er an diesem letzten Abend „augen- scheinlich haben wollte, was alle Männer wünschen". Ich weiß nicht, ob das stimmt. Poe wurde, meine idi, gar nicht auf die Probe gestellt. Es gelang ihm auf andere Weise, sich so seltsam und so „abschreckend" zu betragen, daß Mary ihn nicht mehr empfangen durfte. Er war derart betrunken, daß diese Trunkenheit allein genügt hätte, Marys Schrecken zu er- klären. Nun hat sich aber Edgar während eines ganzen Jahres (wenn die Erinnerungen Marys nicht die Zeit seiner Werbung verlängert haben) wie ein merkwürdig sanftmütiger und gehorsamer Liebhaber aufgeführt, denn Mary hatte „Prin- zipien" (infolgedessen warf sie Poe vor, nicht viele zu haben); während eines ganzen Jahres erschredite er sie also nidit. Plötzlich aber, an einem Abend, nachdem der Plan einer sofor- tigen Heirat sich ihm aufgedrängt hatte, erscheint er vor Mary in einem derartigen Zustand, daß sie ihn hinausjagen und dann die Beziehungen abbrechen „muß". Das sieht fast so aus, als ob diese Situation „eigens" veranlaßt worden wäre, wenn man einen solchen Ausdruck bei einer unbewußten Absidit anwenden kann. Ein anderer Heiratsplan Poes — nach dem Tod der Virginia — , den ein Anfall von Dipsomanie eben- falls vernichtete, war nun der Anlaß, daß Baudelaire schrieb, der Dichter „sei zu seinem Laster geflüchtet, um einem Meineid gegen die arme Tote, deren Bild immer in ihm lebte, zu ent- 77) We then had a quarrel, about whose cause I do not care to speak (Israfel, S. 334). In Ridimond — Die Heirat mit Virginia 141 ; gehen";''* Baudelaire war nicht so weit von der "Wahrheit ent- Ifernt, als es vielleicht aussehen mag. Man muß seine Bemer- kung nur zweifach transponieren: Baudelaire spridit einige [Zeilen weiter von einem „Vorsatz" von seiten Poes, wir aber müssen sagen, es handle sich um eine unbewußte Absidit; und außerdem war die „arme Tote", deren Bild in Edgar Poe immer noch weiterlebte, nidit Virginia, sondern seine geliebte und verlorene Mutter. Virginia war in dem Leben Edgars noch gar nicht vorhanden, als er zum ersten Male im P ä a n den Verlust seiner Lenore besang, und noch bevor er der "Witwer, ja noch bevor er der Gatte Virginias wurde, in der Zeit Marys, zwang ihn schon eine andere Tote, jenen Alkohol zu trinken, dessen "Wirkungen ihn davor bewahren sollten, seine Liebe sofort zu realisieren. Der gleiche „"Wiederholungszwang" verfolgte ihn sein ganzes Leben hindurch und schützte ihn in jedem Fall davor, die fleischliche Liebe zu versuchen. Krutch^" hat gemeint, daß wir die Antwort auf das widitigste Rätselwort aus dem Leben Poes kennen würden, wenn wir wüßten, welche Tote hinter dem Tor zum Grabe liegt, das den Liebhaber von Ulalume auf seinem "Weg zu Astarte, dem Symbol der Fleischesliebe,*" aufhält. Krutch selbst ahnte es: unter dem Gewölbe von Ulalume ruht Elizabeth Arnold. Nun war Virginia unter allen Frauen, denen Poe begegnete, das "Wesen, das ihn am stärksten an Elizabeth Arnold erinnern und in ihm den unbewußten Eindruck hervorrufen konnte, daß er seiner ersten Liebe treugeblieben, trotzdem er eine zweite Frau liebte. 78) Edgar Poe, sa vie et ses' oeuvres. Als Einführung zu den Histoires extraordinaires. 79) I. "W. Krutdi, Edgar Allan Poe. S. 6z. 80) „She is warmer than Dian." Sie ist wärmer als Diana. {Ulalume.) 14'' Das Leben Edgar Poes Erstens hieß sie Virginia, und das ist der Name der Provinz, in dem seine geliebte, niemals vergessene Mutter dahingesiedit und erstarrt war, bevor noch Frances Allan, seine zweite Mutter, ihn aufgenommen hatte, und bevor er seiner „Helen" begegnet war. Außerdem hieß sie auch Eliza. Und schließlich war diese „Sis" von seinem eigenen Blut, fast eine Schwester; eine dunkle Ahnung von Inzest schwebte über dieser Ver- bindung. Die Schranke des Inzestverbots schien ihn von ihr wie von seiner Mutter zu trennen, aber nicht deshalb, weil er, wie in seiner Kindheit, zu klein war, sondern weil jetzt sie zu klein war. Und wie seine Mutter sollte sdiließlich audi sie in der Anmut ihrer Jugend sterben. In ihr lebte also wie in der zweiten Morella die „Mutter" wieder auf; wie in der Rowena verkörperte sich in ihr auch Ligeia wieder. Sie war die Treue unter dem Ansdiein der Untreue, ein einzigartiges Gestirn, wie es sidi kein zweites Mal über dem Leben Poes erheben sollte, ein Gestirn, das ihn vor dem SchifFbruch schützte. Edgar Poe war von schwacher Gesundheit. Von seinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr an (damals hatte er West Point verlassen) war er unheilbar krank: seit damals beklagte er sich unaufhörlich über sein „schwaches Herz" und seine nervösen „Depressionen". "Was soll man unter dem „schwadien Herzen" Poes ver- stehen? Ein Herzleiden, eine Herzneurose oder beide zugleidi? Oder vor allem jene übermäßige Empfindlichkeit beim Alkoholgenuß, von der so viele Zeugen uns berichten, und durch die seine Herzanfälle mit seinen Rausdizuständen zusammenfielen? Er war der Sohn eines Alkoholikers; wenn sein Vetter "William Poe in einem berühmt gewordenen Brief," in dem er Edgar ermahnt, nüchtern zu sein, von dem Miß- 8i) "William Poe an Poe, ij.Juni 1843 (V. E., Bd. 17, S. 145). I In Richmond — Die Heirat mit Virginia 143 brauch der Flasche, „dem großen Feind unserer Familie" spridit, so ist gewiß damit auch auf David, den Vater des [Dichters, angespielt. Der Keim war von Alkohol durchtränkt, und dies allein konnte den Organismus für das Gift über- empfänglich gemacht haben; es ist daher gar nicht nötig, daß wir zur Erklärung jener Tatsache die Legende von den Kindern [heranziehen, die mit in Wacholder getauchtem Brot ernährt [wurden.*^ Poe war Alkoholiker, zum mindesten von der [vorhergehenden Generation her, und mit allen organischen Schäden behaftet, die aus solchem Ursprung entstehen. "Was nun seine Krisen von melancholischer Depression betrifft, so können wir neben die Beschreibung, die er zum [Beispiel in einem Brief an Kennedy, den wir bereits zitiert fhaben,^" von einem dieser Zustände gibt, auch die Berichte über andere Erregungszustände und Zustände seltsamer Über- reiztheit, die in seinem Leben vorkamen, stellen, um daraus das Bild eines Zyklothymikers zu erhalten. Poe scheint die zyklothyme Konstitution als lästiges Erbteil mitbekommen zu haben; das Schicksal verstand es, sich dieser Konstitution mit Hilfe der Ereignisse, die ihn in seiner Kindheit über- wältigten, zu bedienen! Poe war seit seinem dritten Lebensjahr vom Schicksal dazu [verurteilt, in ewiger Trauer zu leben. Da er an eine Tote fixiert war, sollte seine Liebe niemals wirklich von dieser Erde sein, das gesunde und lebende Fleisch war von jenem Ereignis [an aus dem Bereich seiner Leidenschaft ausgeschlossen. Seine düstere Treue zwang seine Phantasie dazu, jeden andern Weg [als diese beiden Wege auszuschließen: sie träumte vom Himmel oder vom Grabe, je nachdem, ob er dem Pfad folgte, den die ['„Seele", oder dem, den der Körper der Verschwundenen ge- 82) Siehe S. 16, Fußnote. 83) Siehe S. 129. 144 Das Leben Edgar Poes nommen hatte. Er sollte nichts anderes mehr besingen können als die Nesace und die Berenice, und nur sie suchte er im Leben. Virginia, das kleine, unschuldige und tuberkulöse Mädchen, Halb-Engel und bald Halb-Leidinam, kam daher seinem Ideal am nädisten, sie war dazu besonders geeignet, ihm die Illusion zu verschaffen, er habe seine verlorene „Geliebte" wiedergefunden. Erschreckt fuhr er jedoch zurück, wenn er bei andern Frauen, die ihn manchmal anzogen, bemerkte, wie das lebende Fleisch die irreelle, engelhafte und düstere Spiegelung durchbrach, die seine Phantasie auf sie projiziert hatte. So war Edgar Poe aus Treue zu seiner geliebten und ver- schwundenen Mutter ein echter Nekrophiler geworden. Aber im Gegensatz zum Sergeanten Bertrand,^* dessen Kindheits- geschichte zu kennen sehr interessant gewesen wäre, hat Edgar Poe eine mächtige Verdrängung seiner Nekrophilie erlitten. Hätte er sie nicht verdrängt, so wäre er vors Gericht ge- kommen; da aber diese Nekrophilie verdrängt war, wurde er, dessen Sexualität, trotzdem sie die Tat inhibierte, ein Pendant ist zu der eines Bertrand, ein Psychopath und ein Dichter, und dies in dem Maße, in dem sich bei ihm die unheimliche Rückkehr des Verdrängten mit der künstleri- schen Sublimierung der Liebesthemen, die unter allen andern am schwierigsten zu „sublimieren" sind, vermengte. Die Neurose, hat Freud geschrieben, ist das „Negativ" der Perversion. Das gilt manchmal auch vom Kunstwerk. Edgar Poe hatte das dunkle Gefühl, daß ein schreckliches „Mysterium" seine Seele und sein Leben bedränge, wobei er natürlich die genaue Natur dieses Mysteriums nicht kannte. Er sprach häufig von diesem Gefühl, und seine Äußerungen waren gewiß mehr als der Ausdruck einer romantischen Mode! Aber die Augenblicke, in denen er jenes schreckliche „Myste- 84) Siehe Bd. III, S. 322, Fußnote 47. In Richmond — Die Heirat mit Virginia 145 rium" in sidi erwachen fühlte, waren keineswegs die unglück- lichsten seines Lebens. Die Depressionen traten bei ihm in den Perioden der „Leere" auf, in denen er in sich und um sich herum nichts als Einsamkeit fühlte. Diese Perioden von Depression scheinen bei Edgar, und dies entspricht dem gewöhnlidien Mechanismus der De- pression, zuerst Perioden der Trauer, die durch die Ab- wesenheit des geliebten Wesens entstanden waren, gewesen zu sein. Welches war nun dieses geliebte Wesen, dieses Poe erreichbare geliebte Wesen? Dieses Wesen war nicht mehr seine wirkliche Mutter, die ja für immer außer Reidiweite lag, sondern die „Imago", auf die er seine Liebe zu ihr übertragen hatte, das Bild, das er in sich trug oder das er in die Welt projizierte. Und immer, wenn der geliebte, teure Leichnam nidit da war, wenn er sich seinem äußern Auge entzog, oder vor dem inneren Blick versdileierte, verfiel der einsame und verzweifelte Poe einer düsteren Depression. Nun scheint Poe ein gewisses Minimum an äußerer Realität, an realer Gegenwart des geliebten Bildes gebraucht zu haben, und darin bestand die Wirksamkeit des Einflusses, den Virginia auf sein Leben hatte. Damals, in Richmond im Jahre 1835, als er fürchten mußte, sie zu verlieren, nachdem er sie kaum gefunden, unterlag er — er sagt dies in seinem Brief an Kennedy — einer Seelendepression, wie er noch nie eine empfunden hatte. Und später, als der Tod sie ihm wirklich fortgenommen und der geliebte, kleine, sterbende Körper nicht mehr neben ihm war, überlebte er sie nur mehr kurze Zeit. Aber jener geliebte Körper kannte nodi eine andere Tür, durdi die er zurückkommen konnte: und das war die Tür des f Grabgewölbes, das in der Seele Edgars tief unten so vorhanden war wie das Grab Madelinens in den tiefen, unterirdischen Gängen des Schlosses der Usher. Und Edgar war nicht depri- Bonaparte: Edgar Poe. I. 10 14^ Das Leben Edgar Poes miert, wenn Madeline den erzenen Deckel ihres Sarges zurück- stieß und vor Roderick erschien, um ihn zu gleicher Zeit zu erschrecken und zu beglücken, sondern, wenn sie in der Tiefe des Grabgewölbes in ihrem Sarge blieb. Denn dann überkam ihn Trauer und Leere. Die äußere und reale Gegenwart Virginias hat unleugbar zu solcher "Wiederkunft beigetragen. Das wird durdi die Tat- sache bestätigt, daß Poe seine ersten Geschichten, unter denen sidi die M o r e 1 1 a, die B e r e n i c e befinden, gerade in Baltimore sdirieb, nachdem er sich endgültig bei seiner Tante und seiner Cousine niedergelassen hatte. Aber trotz Virginia, und trotzdem Madeline in ihrem Grabe beharrlich weiterlebte, gab es manchmal Zeiten, in denen Edgar der Trauer und Leere verfallen war. Daß Edgar ein Dipsomane gewesen, ist eine erwiesene Tat- sache, und es besteht kaum ein Zweifel darüber, daß er auch ein Opiumsüchtiger war. Aber während seine Trunkenheits- krisen sich sichtbar und lärmend äußerten, blieb seine Opium- sucht beinahe verborgen. Wir besitzen daher nur wenig Zeugnisse, die von ihr be- richten. So teilt uns Miss Herring, seine Cousine, mit, daß Poe im Jahre 1842 in Philadelphia Opium nahm. Sie sagt, daß sie ihn in jener Zeit „oft gesehen habe, wie er (Poe) jedes Glas "Wein zurückwies, daß aber die meisten Exzesse dieser Zeit durch einen reichlichen Gebrauch von Opium hervorgerufen wurden . . . Während dieser Anfälle wurde er bei voll- kommener Ruhe bewacht, und man tat alles mögliche, um seine Laster und Fehler zu verbergen."*^ 85) She had often seen him (Poe) decline to take even one glass of wine but . . . that, for the most part, his periods of excess were occasioned by a free use of opium . . . During these attacks he was kept entirely quiet, and they did all possible to conceal 1 In Richmond — Die Heirat mit Virginia 147 Rosalie Poe hingegen bezeugt, daß 1846 ihr Bruder in [pordham bat, man möge ihm Morphium geben. 1847 wollte er sidi mit Laudanum vergiften. 1849 ersudite er Sartain in Philadelphia flehentlichst, ihm Laudanum zu verschaffen. Daher kommt "Woodberry, nadidem er die einander wider- spredienden Zeugnisse über die Opiumsucht Poes diskutiert hat, gewiß mit Recht zu dem Schluß: „Zu dieser wichtigen Angelegenheit kann ich nur sagen, daß ich zu der Meinung hinneige, Poe habe in Baltimore begonnen" (natürlich zwischen 1831 und 183J) „sich dem Gebrauch von Drogen hinzugeben und die Zeiten, in denen er sich des Alkohols enthielt, waren jene Perioden, in denen er zumindest einen mäßigen Gebrauch von Opium machte . . ,"^^ Hervey Allen, der diese Quellen zitiert hat, spricht im Israfel auch noch von „psychologischen Beweisen" dafür, daß Poe intermittierend opiumsüditig war: er verweist auf die relative Seßhaftigkeit in Baltimore und auf den „opiomani- sdien" Charakter vieler seiner Geschichten, deren düstere Helden übrigens mit dem Opium vertraut sind. Man könnte auch von einem Einfluß sprechen, den der von Poe so be- wunderte Coleridge, ein Opiumesser, auf ihn ausgeübt habe. Hervey Allen schreibt dann dem Opium die Verantwortlich- keit für die sexuelle Impotenz Poes zu, der nach seiner Meinung sich Mary Devereaux gegenüber noch wie ein normaler Liebhaber betragen habe. Wir haben schon gesagt, was wir von dieser Behauptung halten. Wenn Poe, was durchaus möglich und selbst wahrscheinlich ist, zum Opium seine Zuflucht nahm, dann war dieses Opium eher dazu ge- eignet, eine in ihm schon existierende Inhibition zu stabilisieren, his faults and failures. (W oodberry, 1905, Bd. II, Poe and Opium, S. 428, veröffentlicht einen an ihn geriditeten Brief der Miss Poe vom 28. August 1884, in dem Miss Herring zitiert wird.) 86) Woodberry, S. 430. I4S Das Leben Edgar Poes als sie erst zu schaffen. Poe wurde nidit deshalb impotent, weil er Opium genommen hatte, sondern er nahm das Opium, um sich die Pflicht, impotent zu bleiben, zu erleichtern. Das ist wahrsdieinlidi audi der Fall vieler Opiumsüchtiger. Im übrigen bestand für Poe darin nur eine der Wohltaten des Opiums. "Wie die in den Perioden der als wahrsdieinlich anzunehmenden Opiumsucht geschriebenen Erzählungen beweisen, ergab sidi Poe dem Opium in erster Linie darum, um der „Trauer" zu entgehen, in die er geraten war, wenn die „Tote" trotz der Gegenwart Virginias nicht wiedererschien. "Wir werden nie wissen, bis zu weldbem Grad die An- wesenheit "Virginias diesen Beschwörungen genügte, und in- wieweit Opium hiezu nötig war. Jedenfalls aber war das Opium für ihn das Mittel, das ihn seßhaft und häus- lich machte, das sein Freund war. Der Künstler Poe war infolgedessen ein Opiophile, er hat niemals über das Opium abfällig gesprochen, im Gegenteil, er hat die Gestalten und Landschaften des Traums besungen, weldie die subtile und „ästhetisdie" Droge herbeizaubern konnte. Und ob er sie nun in stärkerem oder geringerem Maß zu sich genommen hat, selten oder oft, in dieser oder einer anderen Form nach der Mode der Zeit hinuntergeschluckt, er besang das Opium ganz so, als ob er die Mutter besingen würde, die das Kind in den Armen wiegt; das Opium verhalf ihm zu einer gesegneten Betäubung, die seinen Körper jenem geliebten Leichnam ähn- lich madite, zu dem seine Sehnsucht ihn hinzog, und dadurch beinahe mit ihm vereinigte. Ein so vollkommenes Kompromiß verwirklichte das Opium für Poe: es verhalf zu einer intensiven Beschwörung des Ob- jektes seiner makabren Liebe, aber es machte gleichzeitig seine sdirecklichen Triebe unfähig, die Fesseln abzuwerfen; das Objekt blieb also in der Phantasie, und das Subjekt Poe stand ihm ohnmächtig, starr gegenüber. Das Opium öffnete Poe das In Richmond — Die Heirat mit Virginia 149 unbewegliche Königreich des Traumes, in dem die bösesten Triebe die Möglichkeit finden, ohne Gefahr zu ihrer Befriedi- I gung zu gelangen. Der Alkohol spielte im Leben Poes eine andere, immerhin I aber eine verwandte Rolle. Poe trank vor allem, wie das übrigens häufig der Fall ist, niemals zu Hause, immer nur fern von den Frauen, die ihn I besdiützten oder liebten. Als er an der Universität von ' Charlottesville zum erstenmal von seiner geliebten „Ma" getrennt war, hatte er im Kreis seiner Kameraden seine erste, starke Trunkenheitskrise. In "West Point, nach dem Tod der Frau Allan, trank er audi hier wieder gemeinsam mit Kameraden. Eine einzige Ausnahme, auf die idi aufmerksam mache, ohne daß ich sie zu erklären versuche, bildete die Zeit, in der Poe als einfacher Soldat bei der Armee war und dort nüchtern blieb. Als Poe in Richmond 1835 glaubte, Virginia verloren zu haben, begann er wieder zu trinken. Er trank aber auch, als er mit ihr 1836 verheiratet war, ganz so, als ob zu gewissen Zeiten weder Virginia noch das Opium die wahre Arznei waren. Aber immer geschah dies außer Haus, und immer mit Kameraden;'^ er kehrte nur heim, um sich nach den Gelagen, die er „nachher" stets bedauerte, von den zärtlichen Händen der Frau Clemm pflegen zu lassen. Der Alkohol sdieint aber bei Poe einem andern Zwei ge- dient zu haben als das Opium. "Während der Hauptzweck des Opiums darin bestand, ihm einen direkten "Weg zur Rück- kehr zu der toten Frau, dem Bild der geliebten Mutter zu öffnen, indem es ihm audi die Keusdiheit erleidhterte, diente ■? 87) „Lassen Sie dodi für immer von der Flasdie ab und von den Flasdienkumpanen", beschwor "White Poe in seinem Brief vom 29. September 1835. (Separate yourself from the bottle, and bottle companions, for ever!) lyo Das Leben Edgar Poes der Alkohol der gleichen makabren Treue auf eine andere "Weise. Jedesmal, wenn eine lebende Frau Poe in Versuchung brachte, öffnete ihm der Alkohol den Weg zur „Flucht" und machte es Poe dadurch möglidi, der geliebten Toten treu zu bleiben. Poe nahm nun, wie das übrigens die Regel ist, zum Alkohol unter dem Signum der „latenten Homosexualität" seine Zu- flucht. Er trank nie allein, sondern immer mit Trinkgefährten; wenn er die in Versuchung führende Frau floh, brauchte er Männer, um bei ihnen Zuflucht finden zu können. Als Mary Devereaux seine Treue zu der Toten gefährdete, berausdite er sich eines Abends mit Kameraden, die er irgendwo getroffen hatte und verlor dadurch das Mädchen; später werden wir ihn noch zweimal in das "Wirtshaus „fliehen" sehen, um zwei anderen wirklichen Frauen knapp vor der Ehe zu ent- rinnen. Er trank in Charlottesville und in "West Point: wir wissen jedoch von keiner Frau, der er dort den Hof gemacht hätte. Aber kennt man denn die mehr oder minder bewußten Ver- suchungen, denen der junge Student oder der junge Kadett durch wirkliche Frauen, die vorübergingen, ausgesetzt war? Ein größerer "Widerspruch scheint in der Tatsache enthalten zu sein, daß der „verheiratete" Poe in manchen Zeiten das Bedürfnis gehabt hat, auch vor Virginia in das "Wirtshaus zu „fliehen". Gerade diese Tatsache liefert uns aber am besten den Sdilüssel zur Sexualität Poes aus. Als Poe Virginia heiratete, war sie schwächlich und bleich. Bald begann die Krankheit sie zu zerstören. Nun war gerade diese Art Frauen das bevorzugte Objekt von Poes Sexualwahl. "Wenn Edgar keusch war, so geschah dies zu dem Zweck, um einer geliebten Toten treu zu bleiben, aber auch, um sidi vor den sadistisch-nekrophilen Versuchungen zu schützen, welche die lebende, besonders aber die kränkelnde Frau als „Über- In Richmond — Die Heirat mit Virginia iji tragung" seiner ersten Liebe in ihm wecken sollte. In dem Maße nun, in dem Virginia dahinsiechte, wuchs die unbewußte Versuchung. Kann es uns daher überraschen, daß Poe, wenn er sah, wie seine geliebte kleine Frau vom Husten geschüttelt wurde und von den Hämoptoen, die Flucht ergriff und sich in dem "Wirtshaus niederließ, wo die andern Trinker, die Männer, ihn gegen die furchtbare Versuchung schützten, die von der Frau ausging? "Wenn Poe mit soldiem Entsetzen jegliche sexuelle An- näherung der Frau floh, geschah dies nicht ohne realen Grund. Er ahnte unbewußt, welche Gefahr drohte: die Entfesselung seiner Sexualität hätte mit gleichem Schlag die seiner sadisti- schen Nekrophilie herbeigeführt. Er konnte diese nur dadurch im Zaum halten, daß er keusch blieb. Man hat oft hervor- gehoben, wie keusch sein Werk sei; aber die ihn dafür belobt haben, wußten nicht, daß Poe wahrscheinlich vollkommen keusch bleiben mußte, um nicht in seinem Leben statt in seinem Werk das Drama der Schwarzen Katze zu verwirk- lichen. Je älter Poe wurde, desto betonter sdieinen seine hypo- manischen Krisen wie seine Anfälle von Depression gewesen zu sein, obwohl dazwisdien immer wieder Zeiten der Ruhe und eines relativen Gleichgewichtes lagen. Die Depressionen standen unter dem Zeichen der „Trauer", wie wir gesagt haben, und einer äußeren und inneren Ab- wesenheit des geliebten Wesens. Manchmal aber wirkten sie auch unter einem andern Zeichen: unter dem der „nervösen Erschöpfung", die durch den Kampf hervorgerufen wurde, den Poe mit jenen Versuchungen führte, die manchmal von der wirklichen Frau ausgingen, jenen Versuchungen, die in ihm jedesmal seine furchtbare sadistisch-nekrophile Sexualität weckten. Um den Depressionen der ersten Art zu entkommen, IJ2 Das Leben Edgar Poes scheint Poe seit jener Zeit in Baltimore hauptsächlich zum Opium gegriffen zu haben; um den andern zu entgehen, zum Alkohol. Der Alkohol erlaubte es ihm wirklich, die gefährlich ver- führerische Frau zu „fliehen"; er ist außerdem das souveräne und „männliche" Mittel, die Verdrängungen, besonders die der aggressiven Triebe, aufzuheben. Diese aggressiven Triebe neben einer Frau zu befreien war jedoch für Poe so gefährlich, daß er, aus Reaktion gegen sie, für Virginia zum zärtlichen, er- gebenen, keuschen, ätherisdien Gatten wurde, als den man ihn so häufig gerühmt hat. Aber mandimal war es ihm nidit mehr möglich, diese Unterdrückung zu ertragen; wenn er durdb den Kampf mit seinen schrecklichen Trieben erschöpfl und auf das schmerzhafteste deprimiert war, dann floh er in das Wirtshaus. Dort erlaubte ihm der Alkohol, den er in der sdbützenden Gesellschaft von Männern zu sidi nahm, die unterdrückten ag- gressiven Triebe zu befreien und abzulenken. Und es genügte manciimal ein einziges Glas, um seinen schmerzenden Anfall von Depression in eine glückvolle hypomanisdie Krise zu ver- wandeln. Die ganze Zeit hindurch, die nun sein Rausch dauerte, fühlte er sidi als Mann und mächtig, bis zu dem Augenblick, wo er von physisdiem Übelbefinden und moralischen Gewissens- bissen getrieben heimkehrte, um sich zu Hause von den zärt- lichen Händen der Frau Clemm pflegen zu lassen und den niemals gehaltenen Entschluß zu fassen, daß er das Trinken lassen werde. Die heftigsten Gewissensbisse, die auf jeden der dipsomani- schen Fluchtversuche folgten, erscheinen nun in einem selt- samen Licht, wenn wir daran erinnern, daß Poes Vater David Trinker gewesen und sich zweimal zu entscheidenden „Fluchten" entschlossen hatte; das erstemal hatte er das väter- liche Haus verlassen, um Schauspieler zu werden, das zweitemal In Richmond — Die Heirat mit Virginia 153 war er seiner kranken Frau durchgebrannt. Und wie oft hat Edgar mit den Augen des ganz kleinen Kindes seinen Vater be- trunken nach Hause kommen gesehen? Und wie oft vielleicht hat der Vater, wie man das bei Trinkern gewohnt ist, die geliebte Mutter grob angefahren? Das Kind muß damals, wie das in soldiem Fall wohl die Regel ist, die Partei seiner Mutter ergriffen haben und auf den Vater bös gewesen sein. Daraus folgte der Abscheu vor der „Flucht", aus der man in solchem Zustand zurücJckommt, und vor dem Getränk, das zu solcher Gewalttätigkeit verleitet. Im übrigen aber identifizierte sich Poe, dessen Ödipus- komplex, wie das bei sehr intelligenten Kindern vorkommt, frühzeitig gereift sein mag, wahrscheinlich sehr bald mit diesem Vater und nahm tatsächlich dessen Platz neben seiner ge- liebten Mutter ein, nachdem David Poe jene letzte „Flucht" gelungen war, durch die er seine Familie verließ, als der kleine Edgar eineinhalb Jahre alt war. Bloß jene Leser, die nichts von den sicheren Beobachtungen wissen, welche die Psychoanalyse erlaubt, werden erstaunt sein, daß wir Eindrücken, die in einem solchen Alter empfangen wurden, einen derartigen nachhaltigen Einfluß zuschreiben. Allerdings werden die Eindrücke, die das Kind in dieser Zeit empfängt, vom Unbewußten in den folgenden Jahren ver- arbeitet und können sich erst dann in ihrer ganzen "Wichtigkeit manifestieren. Sehr häufig aber werden sie schon sehr früh von dem kleinen Kind verwahrt; man kann daher, besonders im Leben Poes, nicht den dauernden Einfluß jenes Vaters verkennen, den der Knabe nach einem Alter von eineinhalb Jahren nie mehr wiedersehen sollte. Wir sehen nun einerseits, wie entsetzt Poe darüber war, so wie sein Vater zu sein, und welche Gewissensbisse ihn jedesmal packten, wenn er ihm ähnlich gewesen; anderseits aber steckte in ihm der unwiderstehliche Zwang, so wie dieser IJ4 Das Leben Edgar Poes Vater zu handeln, ihn nachzuahmen, ein Zwang, der aus der Identifizierung mit diesem Vater folgte. Daraus entstand nun ein unlösbarer Konflikt und jenes Bild einer Dipsomanie, bei dem Perioden, in denen er dem Getränk verfallen war, mit jenen andern der Gewissensbisse wechselten.^* Die Flucht vor der Depression, die Flucht vor der Frau und der Untreue, die Fludit vor der Versuchung, welche aus einer Sexualität von furchtbarem "Wesen hervorging, die Iden- tifizierung mit einem Vater, der getrunken und solche „Flucht- versuche" unternommen hatte, alle diese Faktoren halfen zu- sammen, um Edgar trotz der Gewissensbisse immer von neuem wieder in die Gasthäuser zurückzutreiben. Im übrigen können wir eine Spiegelung der Trunksudit- perioden Poes, der hypomanischen Perioden seines Lebens in seinem Werk selbst sehen. Diese Perioden hatten keineswegs, wie man manchmal behauptet hat, eine schöpferische Unfrucht- barkeit zur Folge, sie entsprachen jedoch in seinem Werk hauptsächlich einer Entfesselung der aggressiven Triebe. Der scharfe Kritiker des Southern Literary Messenger in Richmond trank — ganz so wie der junge Empörer von Charlottesville oder von West Point getrunken hatte, und zwischen solchen 88) Dr. Heinz Hartmann (Wien) hat mir mitgeteilt, daß nach zahlreichen Beobaditungen die Dipsomanen fast durchweg Alkoholsüchtige der zweiten Generation sind. Der bei Poe be- schriebene psychische Mechanismus gilt also allgemein und beinahe für alle Fälle der Dipsomanie. Übrigens hat mich die Bemerkung Dr. Hartmanns zu diesem Teil meiner psychologischen Analyse des besonderen Falles Edgar Poe veranlaßt. Die dipsomanische Form, in der sich die Trunksucht Poes zeigte, könnte infolgedessen vielleicht als Beweis für die Trunksucht seines Vaters angesehen werden, die von mandien geleugnet wird. .. P^'^. ^'^^'^ besdiriebene psychische Mechanismus kommt in der Ätiologie _ der Dipsomanie selbstverständlidi erst sekundär zu der ursprünglidien manisdi-depressiven Konstitution hinzu. In Richmond — Die Heirat mit Virginia 155 dipsomanischen Krisen sollten später das Schwatzende Herz und Die schwarze Katze geschrieben werden. Ich will aber keineswegs gesagt haben, daß Poe während seiner Trunkenheit schrieb: in solchen Augenblicken war er dazu viel zu krank. Gegen die unerträglichen Depressionszustände, in die seine manisch-depressive Konstitution, die übermäßige Belastung seiner Nerven durch eine ewigwährende Trauer, und der Kampf gegen die Versuchungen einer verdrängten und schrecklichen Sexualität seinen debilen Körper versetzten, griff Poe also zu mehreren Verteidigungsmitteln: zu Virginia, zum Opium, zum Alkohol, zur „Flucht". Wenn er aber nur über diese Mittel verfügt hätte, so wäre gewiß noch früher der Sdiatten auf ihn herabgelangt, der das Ende seines Lebens verdunkeln sollte — und wir hätten seinen Namen nie gekannt. Poe hatte jedoch noch eine andere „Droge" zur Verfügung, um zu verhindern, daß seine seltsame, unbeständige und ge- quälte Natur aus ihm einen wirklichen Verbrecher oder wahren Narren mache, eine Droge, die nicht jedermann zur Verfügung steht: die Tinte, mit der er auf dem Papier in seiner sdiönen und gepflegten Handsdirift die makabren, furchtbaren, aber tröstenden „Bilder" aufzeichnete, die ihn manchmal seiner Trauer entrissen. Und weil ihm dieser Streich wie niemandem andern vor ihm geglückt, weil ihm die künstlerische „Sublimierung" dessen gelungen war, was an Dunkelstem und Grausamstem fcin der Tiefe des Menschen ruht, die künstlerische Sublimierung I der sadistischen Nekrophilie, ist der Name Poes, ein Name der von diesem Kritiker auf das ungerechteste besdiimpfl, von jenem übertrieben gepriesen wird, auf seine Art unsterblich geworden. IN NEW YORK UND PHILADELPHIA DER REDAKTEUR VON „BURTON'S GENTLEMAN'S MAGAZINE" GROTESKEN UND ARABESKEN - Poe, Frau Clemm und Virginia kamen gegen Ende Februar 1837 in New York an, einer Stadt, in der sie ohne Freunde und ohne Hilfe dastanden. Sie bewohnten zuerst ein StoA- werk in einem armseligen Haus, das sie mit einem schottischen Budihändler namens Gowans teilten. Bald aber verließen sie diese Wohnung, um sich in der Carmine Street nieder- zulassen, wo Frau Clemm einige Pensionäre, unter ihnen Gowans, aufnahm. Von diesem besitzen wir ein idyllisches Gemälde des Lebens in der Carmine Street: man sieht auf diesem Bild einen nüditernen Poe, der um seine Mutter und seine junge Frau „mit den Augen einer Huri" zärtlich bemüht ist. Es scheint, daß sie ihm damals genügt hat, um die Angst zu beruhigen und daß die Spaziergänge, die er mit ihr am Abend beim Einbruch der Dämmerung zu dem nahen Friedhof von St. John unternahm, genügend Nahrung für seine Phan- tasie waren. Es war für den jungen Kritiker schwer, in New York eine Stellung zu finden, obwohl man seinen Namen im Norden schon kannte. Die unheilvolle Finanzpolitik Jacksons war in ihren Folgen gerade dabei, den Kredit zugrunde zu richten, und das wirkte sich für die Literatur so aus, daß zahl- reiche Magazine und Zeitungen das Erscheinen einstellen mußten. In New York und Philadelphia IJ7 Allerdings war Poe dadurch von einer täglichen Redaktions- arbeit befreit, er konnte nun den Arthur Gordon Vyrr^^ schreiben und beenden. Die Abenteuer des Arthur GordonPym sind der einzige lange Roman, der von Edgar Poe verfaßt wurde. Er hatte schon in Richmond die Arbeit begonnen, zu der er von Paulding'" angeeifert worden war, da dieser behauptete, ein Roman in mehreren Bänden sei das kabbalistische Zeidien, das den "Weg zum Erfolg eröffne. Dieser Bericht von den Abenteuern Pyms, ein Gemenge aus versdiiedenartigsten Kompilationen, aus autobiographischen Erinnerungen, Poeschen Schrecken und Landschaften ist ein überaus interessantes Dokument für denjenigen, der die Psychologie Poes studieren will. Wir werden im zweiten Teil dieser Arbeit auf die Erzählung ausführlidi zurückkommen. Sdion jetzt aber notieren wir gelegentlich des Pym, welchen Zauber der Gedanke an das Meer und an den Pol auf den Geist Poes ausgeübt hat. Sdion im Manuskript in der Flasche haben wir ein Gespenstersdiiff, ebenbürtig dem in Coleridges Ancient Mariner, bei einem antarktisdien "Wirbelsturm in einem un- geheuer großen Eistriditer versinken gesehen. Der gleiche Taumel eines ozeanischen Wirbels sollte übrigens den Alp vom Maelstrom beseelen. Daher wird es uns nicht über- raschen, daß Poe von dem realen Projekt einer antarkti- sdien Expedition begeistert war, von einer Expedition, die ausziehen sollte, um die Karte der Gegenden zu klären, in der Walfisdifänger umherirrten, und für die sich ein gewisser Reynolds seit mehreren Jahren eingesetzt hatte. Sdion im August 1836 lancierte Poe in den Spalten des Messenger einen 89) The Narrative of Arthur Gordon Pym, of Nantudset. Harper & Brothers, New York 1838. 90) Brief Pauldings an Poe, 17. März 1836 (V. E., Bd. 17, S.31). 15^ Das Leben Edgar Poes leidensdiaftlichen Aufruf zugunsten Reynolds, im Namen jener Wissensdiafl:, die er in einem Sonette beschimpft hatte. "Wie wir später sehen werden, war das aber nicht die gleiche Wissen- schaft wie damals. Im Januar 1837 erschien im Messenger ein neuer enthusiastischer Artikel für Reynolds, mit dem Poe übrigens niemals persönlich zusammengetroffen zu sein scheint.^^ "Wir müssen diese Begeisterung Poes für Reynolds auch wegen der Rolle zur Kenntnis nehmen, die der Name dieses Mannes im letzten Akt des Lebens unseres Dichters spielen sollte. Selbst auf die Gefahr hin, unsere Leser zu überraschen — was zweifellos durch mehr als eine unserer Behauptungen schon geschehen ist — , sagen wir gleich jetzt, welchem tiefen und unbewußten Symbolismus bei Poe diese Anziehung durch das Meer und den Pol entspradi. Diese Gleichstellung des Meeres mit unserer Mutter ist von ewiger und allgemein- gültiger Symbolik, von einer Symbolik, die übrigens auf einer phylogenetischen Realität beruht. "Wir haben nun bereits ge- sehen, welche Sehnsucht nach seiner verlorenen Mutter in Poe schlummerte. Die Mutter aber war für Edgar mit den schredi- lichen Attributen Tod, Kälte, Eis versehen. Das weiße und eisige Polarmeer mußte ihn daher mehr als jedes andere locken. So identifizierte sich Poe ebenso gerne mit Pym, der in der Phantasie dieses Eismeer erobert, wie mit Reynolds, der es in der Realität erobern sollte. Poe jedoch eroberte inzwischen weder Geld noch Ruhm. Zwar erschienen Auszüge aus dem P y m im Messenger und sdiließlich das ganze Buch in New York und London; das Elend wollte aber trotzdem nicht weichen. "Wir wissen nichts Genaueres über den Aufenthalt Poes in New York. Der "Winter 1837 bis 1838 war furchtbar und besonders kalt, die 91) Siehe die zwei Artikel in der "V. E., Bd. 9, S. 84 und 306. In New York und Philadelphia IJ9 kleine Familie litt sehr unter soldiem Mißstand, und Poe geriet von neuem in Schulden. Gowans half ihm, aber er konnte über seine eigenen Mittel nidit hinaus. Er war es auch, der Poe Pedder vorstellte, einem Engländer, der Gesdiiditen für die Jugend schrieb; und auf den Rat Pedders, der selbst mitging, verließ schließlich Poe im Sommer 1838 New York, um sich nach Philadelphia zu begeben. Philadelphia war seit dem achtzehnten Jahrhundert das Zentrum des Verlagsbuchhandels in Amerika. Dorthin hatte der „Buchdrucker" Franklin, nadidem er Boston verlassen, aus England die besten Druckpressen und die besten Budi- drucklettern gebracht, die damals existierten; dorthin wurde die Lithographie eingeführt, welche die Kunst der Illustration von Grund auf veränderte. Verschiedene Magazine waren in Philadelphia entstanden, hatten Erfolg gehabt, waren zugrundegegangen und immer wieder aus ihrer Asche unter neuem Namen auferstanden. Poe hatte diese Zeitsdiriflen als Knabe oft in den Comptoirs der Firma Ellis & Allan durchgeblättert, und jetzt verlegte der schon bekannte Kritiker seine Tätigkeit nach dem Hauptort der Magazine, mit dem bloß Boston oder New York rivali- sieren konnten. Als Poe 1838 nach Philadelphia kam, erschienen dort gleich mehrere große Magazine. Nun hatte er selbst unter dem Ein- fluß seines Erfolges beim Messenger in Richmond den Plan gefaßt, eine Revue im großen Stil zu gründen und zu leiten. Aber da die Gelder fehlten und das Elend drängte, mußte sich Poe damit begnügen, an einem Schulhandbuch der Conchologi e"^" zu arbeiten, ohne aber deshalb seinen teuersten Plan, das eigene Magazin, aufzugeben. 91a) The Conchologist's First Book, or, A System of Testaceous Malacology, Philadelphia, Haswell, Barrington and Haswell, 1839. i6o Das Leben Edgar Poes Das Handbuch war eine Kompilationsarbeit, zu der ihn gewiß Pedder engagiert hatte und um derentwillen eir von Pedder wahrscheinlich nach Philadelphia mitgenommen worden war. Ein Professor Thomas "Wyatt hatte nämlich kurz vorher bei den Harpers ein Handbuch der Conchologie veröffentlicht. Die Illustrationen des Bandes waren aber den Harpers so teuer zu stehen gekommen, daß sie sich weigerten, den vergriffenen Band neu zu drucken. "Wyatt faßte daher den Plan, sein Buch anderwo neu drud^en zu lassen, und sich dabei der seltsamen Kriegslist zu bedienen, das Budi unter einem Namen herauszugeben, der das Publikum mehr anlockte als der seine. Zu diesem Zweck wurde sein neuer Verleger durch Pedder mit Poe zusammengebradit. Auf solche Weise kam Edgar dazu, aus dem Stegreif Naturforscher zu werden und ein Handbuch der Conchologie herauszugeben, bei dem ihm "Wyatt half und ein gewisser Isaac Lee, und für das ihm Cuvier Übersetzungen lieferte; die Illustrationen wurden aus einem englischen Handbuch der Conchologie, das Thomas Brown verfaßt hatte, ohne Gewissensbisse gestohlen. Diese Arbeit, die auf dem Deckelblatt nur den Namen Poes trug, erschien im April 1839 in Philadelphia. Sie erreichte neun Auflagen. Man weiß nicht genau, was sie Poe selbst (außer dem Ruhm, er sei „Plagiator") einbrachte; als Poe später bei den Harpers seine gesamten Werke erscheinen lassen wollte, weigerten sie sidi natürlich, dies zu tun.*^ Die Entschuldigung Poes in dieser Angelegenheit bestand darin, daß er und seine Familie Hunger litten. Vor allem mußte man leben, und da er nirgends eine Stellung fand, war er gezwungen, bald in dem einen, bald in dem andern Magazin eine Geschichte oder ein Gedicht unterzubringen. 92) Hervey Allen (Israfel, S. 442) spricht von fünfzig Dollar, die Wyatt Poe für seinen Namen gegeben habe. ! In New York und Philadelphia i6i Wir wissen wenig über die erste Zeit, die Poe nun in Phila- delphia verbrachte. "Wir wissen auch nicht, wie Poe mit Burton in Verbindung trat; wohl aber ist uns die Tatsache bekannt, daß Burton ihn im Mai 1839 als „Mitarbeiter" an Burton' s Gentleman' 5 Magazine and American Monthly Review mit einem Gehalt von zehn Dollar wöchentlich anstellte — mit dem gleichen Gehalt, den er in seiner ersten Zeit beim Mes- senger hatte. Burton war Engländer. Er hatte seine Laufbahn als Schau- spieler begonnen, als Komiker. Außerdem war er Impresario. Er behauptete audi, ein Diplom vom St. John's College in Cambridge zu haben. Er hatte vor kurzem und mitten in der Finanzpanik ein Magazin gegründet und mit dieser Gründung Erfolg gehabt. Er war ein jovialer, rundlicher Mann, ein wenig brutal, ein wenig komisch; er hat die Be- kanntschaft Poes gemadit, indem er ihn einlud, bei ihm zu Hause „mit ihm einen Hammel zu tranchieren".^^ Inzwischen ließ Burton, ohne seinen Mitarbeiter zu fragen, auf der Julinummer den Namen Poes neben dem seinigen als Chefredakteur-Stellvertreter (co-editor) drucken; das führte zum ersten Streit, da Poe nicht die Absicht hatte, sich so wie beim Messenger mit Burton's Magazine zu identifizieren. Denn er wälzte in seinem Kopf Pläne für ein eigenes Magazin. Bei Burton ließ er den Mann, der aufgerieben wurde, ersdieinen, den Untergang des Hauses Usher, William "Wilson, Morella, Das Ge- spräch zwischen Eiros und Charmion, ferner einige Artikel über belanglose Bücher; er veröffentlichte auch i^^^^ einige nochmals überarbeitete Gedichte. Mit einem Schlag über- ^^^P strahlte der Glanz seiner Kunst die Banalität dieses Magazins."* k I 93) „I shall dine at home to-day at 3. If you will cut your mutton with me, good." (Burton an Poe, 10. Mai 1839. "V. E., Bd. 17, S. 4j.) 94) The Man That Was Used Up, August 1839. The Fall of the Bonaparte: Edgar Poe. I. 11 l62 Das Leben Edgar Poes "Wenn man Poe glauben darf, trank er damals nidit.''^ Aber Burton war mit ihm trotzdem unzufrieden und behauptete das Trinken sei an der unregelmäßigen Arbeit seines Mit- arbeiters schuld. Tatsädilidi kam Poe sehr unregelmäßig in das Büro; er war nämlich im geheimen damit besdiäftigt, sein eigenes Magazin, den Penn und die Veröflentlichung des ersten Bandes seiner Erzählungen bei Lea & Blandiard vor- zubereiten. Um jene Zeit kam der letzte unter den Typen Poesdier Helden, der „unfehlbare Raisonneur" zum Vorschein, anscheinend als Reaktionsbildung, als „Versicherung gegen den Wahnsinn"; daß Poe sidi damals vor einem solchen Ende fürchtete, ging aus den Stanzen vom Gespensterschloß hervor. Seit dem Frühjahr 1839 interessierte sich Poe für Geheimschriften, und im Januar 1840 veröffentlidite der Redakteur des Burton's Alexander's Weekly Messenger eine Herausforderung an die Welt, ihm jene Geheim- schrift einzusenden, die er nidit entziffern könne. Obwohl die von Alexander's Weekly erfaßbare Welt nur aus einigen hundert Lesern bestand, konnte die Entzifferung der Geheim- schriften einige Zeit in Anspruch nehmen. Inzwischen versuchte Home of Usher, September 1839. William Wilson, Oktober 1839. Morella, November 1839. The Conversation of Siros and Charmion, Dezember 1839. 9j) Poe an Dr. Snodgrass, Philadelphia, i. April 1841: „Von dem Augenblidc an, in dem ich zum erstenmal diesen niedrigsten aller Verleumder (Burton) gesehen habe, bis zu dem Augenblick, in dem ich seine Büros verließ... ich gebe Ihnen dafür vor Gott mein feierliches Ehrenwort als Gendeman ... ist über meine Lippen nie etwas kräftigeres als Wasser gekommen . . ." („I pledge you, before God, the solemn word of a gentleman, that I am temperate even to rigor. From the hour on whidi I first saw this basest of calumniators [Burton] to the hour in which I retired from his Office in uncontrollable disgust at his chicanery, arrogance, igno- rance and brutality, nothing stronger than water ever passed my Ups.") Audi Frau Clemm sagt, daß Poe während dieser Jahre keinen Wein getrunken habe (V. E., Bd. i, S. 160/161). In New York und Philadelphia i6i Burton seinerseits, natürlich ebenfalls im geheimen, seine Revue loszusdilagen, um ein Theater zu kaufen und dadurch zu seinem ersten Beruf zurückzukehren. Man weiß nicht, wer zuerst das Geheimnis des andern ent- deckte. Jedenfalls hatte Poe zu Beginn 1840 einen ersten Kon- flikt mit Burton wegen gewisser literarischer „Preise", die f dieser mit der vorgefaßten Absicht, sie nie auszubezahlen, aus- schreiben wollte, und die den Zweck hatten, Autoren zur Ein- sendung von Material zu veranlassen. Poe soll vergebens ver- sucht haben, ihn von diesem wenig ehrenhaften Unternehmen abzubringen. In dieser Zeit sind nun auch die Mitteilungen von der Absicht Burtons, sein Magazin zu verkaufen, Poe zu Ohren gekommen, und es paßte dazu, daß Poe im gleidien Augenblick Verhandlungen führte, um den Penn zu gründen. Burton be- schuldigte nun Poe, er habe sich für seinen Zweck der Abon- nentenlisten bedient; Poe beschuldigte Burton, daß er ihn ohne vorherige Benachrichtigung um seine Stelle bringen wollte. Und da Burton Poe die ganze Arbeit überließ und den Gehalt nicht erhöhte, entdeckte er eines Abends, als er aus New York von einer seiner Reisen, die er unternahm, um sein Theater zu gründen, zurückkam, daß das Büro des Magazins mit Stößen von Manuskripten und Briefen angehäuft war. Poe war zum Protest ganz einfach ebenfalls ausgeblieben. Der wütende Burton lud das Ganze auf einen Wagen, öffnete die Post und ordnete die Manuskripte bei einem gewissen Herrn Rosenbach, dessen Sohn uns von dieser Episode berichtet hat. Die Nummer des Magazins erschien am festgelegten Tag, aber Poe wurde aus dem Gent's Mag, wie er es nannte, hinaus- geworfen.°° Auf dieses Ereignis folgte ein Briefwechsel, in dem Poe von Burton verlangte, was ihm zukomme und in dem er ihm vor- 96) Israfel, S. 470/471. 11« 164 Das Leben Edgar Poes warf, er habe eine große Zahl seiner Artikel als „unzulässig" zurückgewiesen, was hinlänglidi seinen Ärger und sein Des- interessement als Mitarbeiter erkläre. Er erlitt in dieser Zeit einen jener gewohnten „nervösen Zusammenbrüdie", dem er von neuem durch Alkohol beizukommen versuchte: diesmal trank er Most.^'' Seit dem Ende des Jahres 1839 bewohnte Poe ein kleines Haus, das in der Coates Street gelegen war und dessen Fenster auf die seltsame Pagode des Architekten Browne und auf die Ufer der Schuylkill blickten. Seit jenen schon fernen Zeiten in Richmond hatte er kein behaglicheres Heim gekannt; es lag inmitten einer heiteren Landschaft:, und der nahe Fluß madite es manchmal im Sommer dem Diciiter, wenn er sidi wohl fühlte, möglich, seinen Lieblingssport auszuüben. Er ging auch hie und da aus, um mit Freunden Wassergeflügel zu jagen, und am Abend sang Virginia zu Hause die Lieblings- lieder ihres Gatten. Trotz ihrer schwachen Gesundheit setzte sie Blumen im Garten ein und kümmerte sich um die Obst- bäume. Und „Muddy" hielt wie immer, dank ihrer fast klein- lichen Sorge um den Haushalt, das Haus in einem Zustand peinlichster Sauberkeit; vielleiciit schlich schon damals die allerdings nodi kleine Katze Catterina durdh die Zimmer. 97) Fortsetzung des Briefes, den Poe am i. April 1841 an Dr. Snodgrass schrieb: „Nachdem idi Burton verlassen hatte, ließ ich midi dazu verleiten, gelegentlich M o s t zu trinken, was idi in der Hoffnung tat, Erleichterung nadi einem nervösen Anfall zu finden." {„After Tay leaving Burton ... I was induced to resort to the occasional use of eider, with the hope of relieving a nervous attack.") Vielleicht setzt Poe die Zeit, in der er Most zu trinken be- gonnen hatte, ein wenig zu spät an. In einem niditdatierten Brief fordert Burton ihn nämlidi auf, seine Depression „abzuschütteln". Poe hatte also von neuem unter diesen Depressionen zu leiden begonnen und wohl versucht, in der Zeit, in der er noch bei Burton war, im Alkohol ein Heilmittel zu finden. In New York und Philadelphia 165 In diesem Haus erlebte Poe endlich im Dezember 1839 das Erscheinen seines ersten Geschichtenbandes, der Tales of the Grotesque and Arabesque bei Lea & Blandiard, Phila- delphia 1840. Dieser Sammlung von fünfundzwanzig Erzählungen in zwei Bänden ging ein Vorwort des Dichters voraus, in dem I er sidi gegen die Behauptung verteidigte, er könne nichts als „Schrecken" sdiildern: „Die Epitheta des .Grotesken' und .Arabesken' bezeidinen. ■Rrie man sehen wird, mit genügender Genauigkeit den hauptsädi- lidien Inhalt der hier veröffentlichten Geschichten. Aber aus der Tatsache, daß ich während einer Zeit von zwei oder drei Jahren"^ fünfundzwanzig Geschichten geschrieben habe, deren allgemeiner Charakter sidi in Kürze mit jenen Beiwörtern charakterisieren läßt, kann man kaum mit Recht sdiließen — ein soldier Schluß entspridit zumindest nicht der Wahrheit — , daß idi für diese Art Erzählung eine übermäßige Vorliebe oder auch nur eine besondere Neigung habe. Sie wurden niedergesdirieben, weil ich hoffen konnte, sie später in einem geschlossenen Buch nodi einmal herauszugeben; idi I wünschte infolgedessen, daß in ihnen bis zu einem gewissen Grad eine gewisse Einheit der Absicht zum Ausdrude komme. Das ist tatsädilidi der Fall; und es ist durchaus möglich, daß idi nichts mehr in dieser Art sdireiben werde. Idi spreche hier von diesen Dingen, weil ich anzunehmen geneigt bin, daß das Übermaß an ,Arabeskem', das in meinen ernsten Geschichten auffällt, zwei oder drei Kritiker dazu verleitet hat, midi in aller Liebenswürdigkeit des ,Germanismus' (Germanism) und einer unheimlidien Laune zu besdiuldigen. Diese Anschuldigung zeigt von sdileditem Gesdimadt, und die Grundlagen, auf denen sie ruht, sind nicht sehr genau untersudit worden. Nehmen wir vorerst einmal an, die hier vor- gelegten ,Phantasiestücke' seien ,deutsch' (Germanic), oder was immer man will. Darauf müssen wir sagen, daß die heutige Zeit zu soldier .Vorliebe' für das ,Deutsche' hinneigt. Morgen werde ich viel- leicht nichts weniger als ,deutsch' sein, so wie ich gestern alles [^andere als dies war. Alle Erzählungen zusammen bilden außerdem nur ein einziges Buch. Meine Freunde könnten mit gleichem Redit 98) In Wirklidikeit waren es neun Jahre. i66 Das Leben Edgar Poes einen Astronomen beschuldigen, er beschäftige sich zu viel mit Astro- nomie, oder einen ethischen Schriftsteller, er behandle zu ausführ- lich die Moral. Die Wahrheit aber ist, daß mit einer einzigen Aus- nahme die Gelehrten nicht in einer einzigen dieser Geschiditen die Kennzeichen jener Art von Pseudo-Horror entdecken können, den wir als .deutsch' qualifizieren, weil man sich daran gewöhnt hat einige unbedeutendere Sdiriftsteller der deutschen Literatur mit diesem ,Irrsinn' (folly) zu identifizieren. Wenn in vielen meiner Schöpfungen die Angst das Hauptthema ist, so behaupte idi, daß dieser Schrecken nicht aus Deutschland kommt, sondern aus der Seele — daß ich diesen Schrecken einzig aus seinen legitimen Quellen hervorgeholt und daß ich ihn bis zu seinen legitimen Ergebnissen geführt habe. Sie finden in dieser Sammlung ein oder zwei Erzählungen (die aus dem Geist der Extravaganz hervorgingen und in ihm ausge- führt worden sind), von denen ich glaube, daß man ihnen kaum eine besondere Beachtung schenken wird; von ihnen werde ich nicht sprechen. Was aber die übrigen anbelangt: hier kann ich mich nicht mit gutem Gewissen ausreden, sie seien nur als übereilte Ver- suche anzusehen. Es steht mir besser an, meine ich, zu erklären: wenn ich gesündigt habe, so habe ich es nach reichlicher Überlegung getan. Diese kurzen Geschichten sind größtenteils das Ergebnis einer ausgereiften Absicht und sorgfältiger Arbeit.""" 99) V. E., Bd. I, S. ijo/iji, aus der dieses Vorwort übersetzt wurde. „Preface. — The epithets ,Grotesque' and .Arabesque' will be found to indicate with sufficient precision the prevalent tenor of the tales here published. But from the fact that, during a period of some two or three years, I have written five-and-twenty short stories whose general character may be so briefly defined, it cannot be fairly inferred — at all events it is not truly inferred — that I have, for this species of writing, any inordinate, or indeed any peculiar taste or prepossession. I may have written with an eye to republication in voIume form, and may, therefore, have desired to preserve, as far as a certain point, a certain unity of design. This is, indeed, the fact; and it may even happen that, in this manner, I shall never compose anything again. I speak of these things here, because I am led to think it is this prevalence of the ,Arabesque' in my serious tales, which has induced one or two critics to tax me, in all friendliness, with what they have i^ In New York und Philadelphia 167 Ich habe dieses Vorwort vollständig zitiert, weil es kein Dokument gibt, das klarer die literarische und beabsichtigte [ Stellung Poes zu seiner „unheilvollen Laune" zeigt. Nein, [betont er, er wird nicht von ihr beherrscht, er „schafft" sie nach seinem "Willen, er „wählt" dies eine Mal, für eben diesen einen Band, die Tönung unter den dunkelsten Farben! Und er wird helle wählen, wenn er helle haben will; und hat es nie getan, weil er es nie tun konnte. Später, in seiner Philo- sophie der Komposition, sollte er sogar behaupten, er habe, ohne jemals von der Eingebung gezwungen zu sein, ( die Strophen, die Ideen, die Bilder Stück für Stück angeordnet und sich die Verse, die "Worte, die Silben seines berühmten pleased to term ,Germanism' and gloom. The diarge is in bad taste, and the grounds of the accusation have not been sufficiently considered. Let us admit, for the moment, that the ,phantasy-pieces' now given are Gerraanic, or what not. Then Germanism is ,the vein' for the time being. To-morrow I may be anything but German, as yesterday I was everything eise. These many pieces are yet one bock. My friends would be quite as wise in taxing an astronomer with too mudi astronomy, or an ethical author with treating too largely of morals. But the truth is that, with a Single exception, there is no one of these stories in which the I sdjolar should recognize the distinctive features of that species of pseudo-horror which we are taught to call Germanic, for no better t reason than that some of the secondary names of German literature 1 have become identified with its folly. If in many of my produc- ! tions terror has been the thesis, I maintain that terror is not of Germany, but of the soul — that I have deduced this terror only from its legitimate sources, and urged it only to its legitimate ' results. There are one or two of the articles here, (conceived and executed in the purest spirit of extravaganza,) to which I expect no serious attention, and of which I shall speak no farther. But ! for the rest I cannot conscientiously claim indulgence on the score of hasty effort. I think it best becomes me to say, therefore, that I if I have sinned, I have deliberately sinned. These brief com- positions are, in chief part, the results of matured purpose and very careful elaboration." Das Leben Edgar Poes Raben gleidisam zureditgelegt. So sehr war Poe genötigt, vor andern und zum Teil audi vor sich selbst den Vorwurf zurückzuweisen, er sei ein "Wahnsinniger, der von einem grau- samen, psychischen unterirdisdien Grund beherrsdit werde, aus dem seine Eingebungen hervorstiegen. Diese Tatsachen madien auch die Haltung Poes, er sei ein „unfehlbarer Raisonneur", verständlich, eine Haltung, die in dem Maße immer deutlidier gewahrt wurde, in dem seine Vernunft zu scheitern drohte. Aber selbst dieses vorsichtige Vorwort zu den Gro- tesken und Arabesken enthält das Bekenntnis der Wahrheit: dieser Schrecken kommt nicht aus Deutschland, sondern aus der Seele. Wenn der Dichter also, wie er es selbst so gut sagt, Geschiditen schrieb, die die "Welt anders sdiaudern machen wollten als der damals moderne deutsche Pseudo-Horror, so erreichte er diese Wirkung gerade deshalb, weil er nicht nachahmte, sondern weil der Schrecken, der sie beseelte, die Angst seiner eigenen Seele war. In der Coates Street schrieb Poe auch einen Prospekt für die Veröffentlichung des Penn Magazine, ein kleines Manifest, in dem wie in einem Mikrokosmos seine kritischen und literarischen Theorien zusammengefaßt waren. Im gleichen Hause suchte ihn im Frühjahr 1 840 ein junger Schriftsteller und Dichter aus Saint Louis auf, der Thomas hieß, audi Redakteur eines Magazins war und später der beste Freund Poes werden sollte. Thomas war kränklich und hatte ein Hüftleiden; er kannte Henry Poe seit Baltimore, seit der Zeit, in der Edgar noch bei der Armee war, und Thomas und Henry Poe waren einmal Rivalen in einer Liebesgeschichte. All das war für Edgar der Anlaß zu einer „Übertragung" des Bruders auf Thomas; er führte sie auch tatsächlich durch. Und Thomas, der sich mit der Jugend für den alten liberalen Harrison einsetzte, bradite Poe sogar dazu, so wie er einige politisdie Gedichte zu sdireiben. In New York und Philadelphia 169 Der letzte Beitrag Poes für das Magazin Burtons ist vom Juni 1840 datiert. Es war der letzterschienene Teil des Frag- ments vom Tagebuch des Julius Rodman, daser hier anonym veröffentlichen sollte. Im Oktober verkaufte Burton sein Magazin einem George Graham, der sdion der Besitzer vom Atkinson's Casket war, einer redit sanftmütigen monatlich erscheinenden Publikation. Als das Geschäft abgeschlossen war, sagte Burton zu Graham: „Noch etwas: ich wünsche, daß Sie sich um meinen jungen Redakteur kümmern!" So trat Graham gegen Ende 1840 mit Poe in Beziehung. m PHILADELPHIA ,^ DER REDAKTEUR VON „GRAHAM'S MAGAZINE" VIRGINIAS GEÄNGSTIGTER GATTE George-Rex Graham (18x3—1894) aus Philadelphia, der Sohn eines zugrunde gegangenen Kaufmannes, hatte zuerst das Kunsttischlerhandwerk erlernt, dann Jus studiert, 1839 war er Advokat geworden. Kurze Zeit nadhher wurde er einer der Redakteure der Saturday Evening Post, dann der Besitzer von Atkinson's Casket und Graham's Lady's and Gentleman's Magazine (kurz: Graham's Magazine), das er 1841 durch die Fusionierung des Burton's mit dem Casket gründete. Er hatte große Absichten und wollte ein Magazin von viel größerem Format als die bisherigen schaffen, das selbst die North American Review in Boston und den Knickerbocker in New York übertreffen sollte. Die erste Auflage sollte gleich in die Tausende gehen, er hatte es als erster in Amerika wirklich auf das große Publikum abgesehen. Nun war Poe gerade der Verbündete, den er brauchte, und darum hätte er sich auch ohne die Empfehlung Burtons sicher an ihn gewendet. Poe seinerseits konnte den Penn noch nicht gründen, da es ihm an Geld mangelte. Er teilte Graham offen mit, welche Zukunftspläne er hegte, daß er sie nicht aufgebe, und nahm den Antrag an, Grahams Mitarbeiter zu werden. Sie wollten später entweder gemeinsam den Penn gründen, oder aber Graham sollte einen Teil seines Besitzes an Graham's Magazine Poe überlassen. Das waren so ungefähr die Ab- machungen. Für den Anfang sollte Poe bei Graham's Magazine freie Ellbogen haben, und dem Magazin die literarische Richtung In Philadelphia 171 geben, die ihm gefiel; er hatte nadi seinem Gutdünken Er- zählungen, Gedichte, Kritiken und Essays zu liefern, und war personlich beauftragt, sich die Mitarbeit der ersten Schrift- steller des Landes zu sichern. Ein einziger Sdiatten lag auf diesem Bild: während Graham die bisherige Gepflogenheit amerikanischer Zeitschriften änderte, Longfellow fünfzig Dollar für ein einziges Gedicht zahlte und auch nicht davor zurückschreckte, mehr als zweihundert Dollar für eine einzige Illustration auszugeben, bekam sein Mitarbeiter, also der Mensch, auf dem der Erfolg des Unternehmens ruhte, jährlich nur achthundert Dollar. Beinahe an jedem Morgen ging Poe, der am anderen Ende der Stadt wohnte, zu Fuß in das Büro von Graham' s Magazine, das er mit dem Hilfsredakteur Charles J. Petersen teilte. An jedem Morgen kamen auch Herr und Frau Graham in ihrem Wagen in das Büro. Graham lief eiligst die drei Stiegen des Hauses hinauf, um selbst die Post zu öffnen und die Geld- scheine herauszunehmen, die mit dem wachsenden Erfolg der Monatsschrift immer zahlreicher herbeiströmten. Poe sah zu, wie die Scheine in den Taschen des Besitzers verschwanden; Graham verließ dann das Büro und Poes Aufgabe bestand nun darin, neben Peterson, der wie er an den Schreibtisch gefesselt war, bei seiner Arbeit zu sitzen, Briefe zu beant- worten, sich um Mitarbeiter zu kümmern, Manuskripte aus- zuwählen, sie zum Druck zu geben und selbst so viel als nur irgend möglich zu schreiben, alles für ein jährlidbes Fixum von adithundert Dollar. Vom Juli 1841 angefangen stieg unter seiner Leitung die Zahl der Abonnenten von fünftausend auf zwanzigtausend, auf vierzigtausend im folgenden Jahr, was sechzigtausend Dollar in sechs Monaten einbrachte, und fünfzehntausend Dollar Reinerträgnis am Schluß des Jahres. Ein solcher Erfolg hatte kein Vorbild in den Annalen der Magazine. Aber der i/i Das Leben Edgar Poes Gehalt Poes blieb immer der gleiche, denn Graham, der keineswegs ein sdilediter Mensch, wohl aber sehr nachlässig war, dachte ganz einfadi nidit daran, seinen Mitarbeiter an einem Unternehmen teilnehmen zu lassen, das zu erfolgreich war, als daß nur ein einziger daraus den Nutzen ziehen durfte. Graham genoß großzügig und edelmütig seine wachsende Berühmtheit und seinen neuerworbenen "Wohlstand. Die per- sönlichen Beziehungen zwischen Poe und ihm hatten einen sehr freundschaftlidien Charakter; die Familie Graham führte mandimal im "Wagen die Familie Poe spazieren, Frau Graham nahm häufig Virginia bei ihren Einkäufen mit. Graham hielt ein offenes Haus, und bei seinen Diners und Soupers traf Poe Künstler und Schriflsteller wie Thomas Sully, Sartain, N. P. "Willis, Thomas Dünn English oder den berühmten Reverend Rufus Wilmot Griswold, der für ihn nodi eine widitige Rolle spielen sollte. Diese Mahlzeiten wurden belebt durch die Gesprädie aus- gewählter Gäste, und audi durdi einen vorzüglichen "Wein. Denn in der Ardi Street bei Graham war kürzlich durdi die Mauer, die sein Haus von Elijah "Van Sychel, dem benachbarten "Weinhändler, trennte, eine Tür durchgebrodien worden, durch die bei den Diners und Soupers die besten "Weine aus dem Keller "Van Sychels herbeigesdiafft wurden. So schritt beim Lichte der Kerzen, welche die Kristalleuchter auf dem Tisch funkeln ließen, beim Reflex der Spiegel in dem Speisesaal wieder einmal die "Versuchung an Edgar Poe vorüber. Allerdings, er war hier nicht mehr im Wirtshaus, bei seinen gemeinen Kumpanen. Trotzdem war aber audi dieser Trunk bei Graham und seinen Gästen, wie zu den Zeiten, da er in Ridimond die Freunde traf, nichts anderes als der Alkohol, den Poe außer Haus und mit Saufgefährten zu sidi nahm. Darum ängstigte sich Frau Clemm und darum wartete sie oft am Abend, während Eddy nodi im hellerleuchteten Speise- In Philadelphia 173 zimmer bei Tisch saß, in der Küche, um ihn nadi Hause zu be- gleiten. Hervey Allen meint zwar: „Es sdieint gewiß zu sein, daß das Jahr 1841 zu jenen Zeiten gehörte, in denen Poe von den Aufregungen verschont war, die ihn gewöhnlidi be- lästigten, von seiner Armut, und jenem psychischen Depressions- zustand, der ihn dazu verleitete, sich der Stimulantien zu bedienen."^"" Auf der folgenden Seite jedodi beschreibt Hervey Allen selbst die Soupers bei Graham, von denen wir soeben gesprochen haben, und die Versudiungen, die sie für Edgar Poe enthielten. Und einige Seiten weiter gibt er die Beob- achtung zum besten, daß das Zwiegespräch zwischen Monos und Una, das damals geschrieben wurde, in der Beschreibung des übernatürlichen Zustandes, in dem Monos unbeweglidi nacii seinem Tode schwebt, einen Reflex der Sen- sationen des Opiums darstellt. Das könnte schließlidi eine Erinnerung an vergangene Ereignisse sein. Jedenfalls aber waren die Erlebnisse mit dem Alkohol und dem Opium, die wir für diese Zeit ansetzen, nur ein vages Vorspiel für das, was noch kommen sollte. Und so viel ist siciier, daß das Jahr 1841 ein wichtiges Datum für die Laufbahn Poes als Erzähler bedeutete: denn in diesem Jahr tauchte in seinem Werk der letzte seiner Helden, der Detektiv Dupin, der Urahne Sherlock; Holmes', auf. * Der „unfehlbare Raisonneur" in Poe war inzwischen immer anmaßender geworden. 1841 hatte Poe versucht, die ganze Welt herauszufordern, sie möge ihm doch jene Geheimschrifl: senden, die er nicht entziffern könne. Im Februar 1841 sagte er in einem Bericht über Barnaby Rudge (einem Roman, der damals im Feuilleton erschien) das Ende des Romans 100) Israfel, S. 488. 174 Das Leben Edgar Poes voraus und behielt damit redit; Dickens erklärte, dieser Mann müsse „der Teufel sein", eine Würdigung, auf die Poe nicht wenig stolz war. Und nun schrieb er den Doppelmord in der Rue Morgue, in dem er in einem einzigen Werk die beiden Strömungen seiner Natur vereinigte, jene erste, die aus den tiefsten Schichten seiner selbst hervorkam und die „schlimmsten Schrecken" mit sich führte, und jene andere, die Widerstand zu leisten versuchte. So war das Jahr 1841 für Poe, den Chefredakteur von Graham's Magazine, trotz aller Versuchungen ein Jahr größter literarischer Tätigkeit und eines verhältnismäßig ruhigen Ge- deihens. Er war jedoch nicht zufrieden. Seine trotz allem unter- geordnete Stellung bedrückte ihn: „Durcli sein Hirn, bloß auf den Wink eines Meisters, Münze zu machen", schrieb er in diesem Sommer an Thomas, „ist nach meiner Meinung die härteste Aufgabe dieser Welt."^" Darum hörte er nie auf, seinem teuren Pewn-Projekt nachzuhängen, und er vergaß audi nicht, der Korrespondenz, die er wegen des Graham's Magazine mit Longfellow oder mit Halleck führte, Briefe beizulegen,^"^ in denen er sie um ihre Mitarbeit bei seinem in Vorbereitung befindlichen Magazin ersuchte. Und darum nahm er auch mit solcher Freude den Vorsdilag Thomas' an, der ihm durcii die Vermittlung des Sohnes von Tyler (Präsident Tyler war auf den alten General Harrison gefolgt) einen Platz als Beamten und dadurcli auch die materielle Unabhängigkeit versprach. Aber zu Ende 1841 hatte Poe weder diese Stelle bekommen, nocii war sein Peww-Projekt verwirklicht worden. loi) Poe an Thomas (V. E., Bd. 17, S. 94): „To coin one's brain into silver, at the nod of a master, is to my thinking the hardest task in the world." 102) V. E., Bd. 17, S. 86 ff. In Philadelphia 175 Das Haus Poes in der Coates Street war, wie wir gesagt haben, das behaglichste Heim, das er gekannt, seit sie zu dritt im Haushalt lebten. Es lag in einer herrlichen Umgebung. Dank der Einkünfte des Redakteurs von Graham's Magazine, die vernünftig verwendet wurden, gab es in der Wohnung einige dunkelrote Teppiche, Vorhänge, Betten mit Säulen, Stühle mit gemalten Blumen, ein Service aus chinesischem Porzellan, ein kleines Klavier und eine Harfe für Virginia. Dort war an einem Abend Ende Januar 1842 die kleine Familie mit den Herrings, Poes Vetter und Cousine, um ein Kohlenfeuer herum versammelt. Frau Clemm machte den Kaffee, die Katze Catterina lag neben ihr. Die Vögel schliefen im verhängten Käfig. Man bat Virginia, sie solle singen; sie setzte sich in ihrem weißen Kleid zur Harfe, und während sie ihre großen leuchtenden Augen zum Himmel hob, stieg ihre laute und reine Stimme empor. Alles, was sie wußte, hatte Poe sie gelehrt: ein wenig Französisch, ein wenig Musik, und wenn sie sang, hörte er ihr in Entzücken, in Ekstase zu. Aber an diesem Abend unterbrach sie sich plötzlich, griff mit der Hand an die Brust und ein Blutstrom floß auf ihr weißes Kleid. Alle bemühten sich um sie, man trug die Arme hinauf in ihr Zimmer und legte sie auf das Bett. Während Frau Clemm ihr feudite Tücher auflegte, rannte der entsetzte Poe zum Arzt. Doktor Mitchell wohnte am andern Ende der Stadt. Poe schleppte ihn herbei; aber von diesem Tag an mußte der Arzt zwei Kranken helfen, zwei Schwerkranken, von denen jeder an einer andern Krankheit litt. Nicht umsonst war an diesem Abend Elizabeth Arnold aus ihrem Grab heraus- gestiegen; sie war in Virginia derart wiederauferstanden, daß von neuem vor den Augen ihres Sohnes das vor langer Zeit vergossene Blut ihrer Hämoptoen zu leuchten begann, das Blut, das schon das Leichentudi der Lady Madeline gerötet hatte, bevor es das weiße Kleid Virginias befleckte. 176 Das Leben Edgar Poes Von diesem Tag an häuften sidi die Trunkenheitsfluditen Poes. Wir wollen hier den Brief Poes an Eveleth vom 4. Januar 1848 zitieren, in dem er selbst den Zustand beschreibt, in ■welchen er damals verfallen war: Sie fragen: „Könnten Sie mir nidit von ungefähr andeuten, was für ein ,sdiredilidier' Sdimerz es war, der das so tief bedauerte, ,absonderlidie Leben', das Sie führten, verursadit hat? Ja, das kann idi, und idi kann Ihnen mehr als eine Andeutung geben. Dieser ,Sdimerz' war der größte, der einen Mensdien treffen konnte. Vor sedis Jahren, während meine Frau, die idi mehr liebte, als je ein Mensdi vorher geliebt hat, sang, platzte ihr ein Blutgefäß. Man gab ihr Leben verloren, idi sagte ihr auf ewig Lebewohl und verbradite die ganze Zeit ihres Todeskampfes neben ihr. Aber sie erholte sidi zum Teil wieder und idi konnte von neuem hoffen. Gegen Ende des Jahres platzte das Blutgefäß von neuem. Idi erlebte genau die gleidie Szene nodi einmal... und nodi einmal — und nodi einmal — und immer wieder von neuem in verschiedenen Zeit- absdinitten. Jedesmal erlebte idi wieder ihre Todesagonie, und bei jedem Anfall ihrer Krankheit liebte idi sie um so heißer, idi klammerte midi an ihr Leben mit einer verzweiflungsvollen Hart- nädsigkeit. Aber idi bin von einer überaus sensitiven Konstitution ■— und in einem kaum gewöhnlidien Maß nervös. Idi wurde wahn- sinnig, und dazwisdien kamen Zeiten furditbarster Hellsichtigkeit. Während dieser Anfälle absoluter Bewußtlosigkeit trank idi — Gott weiß wieviel und wie oft. Und, verstehen Sie midi redit, meine Feinde sdirieben die Tollheit dem Getränk zu und nidit das Getränk der Tollheit. Idi hatte tatsädilidi fast alle Hoffnung auf eine dauerhafte Heilung verloren, als idi eine im T o d meiner Frau fand. Den kann idi ertragen und idi ertrage ihn, wie es einem Mann zukommt. Nur das sdiredtlidie, endlose Sdiwanken zwisdien Hoffnung und Verzweiflung hätte idi nicht länger ertragen können, ohne vollständig den Verstand zu verlieren. So empfange idi aus dem Tode des Wesens, das mein Leben war, ^ ein neues, aber — o Gott! — was für ein melandiolisdies Dasein.""' 103) Poe an - (nadi Ingram), V.E., Bd. 17, S. 287. Hervey Allen meint, daß dieser Brief an Eveleth adressiert sei {Jsrafel, S. 521): EDGAR POE (Nach einer Daguerreotypie aus dem Anfang der Vierziger jähre des vorigen Jahrhunderts) In Philadelphia ^77 Poe schrieb diesen Brief ein Jahr nach dem Tod seiner Frau und gab sich über seine eigene Gesundung Täusdiungen hin. ! Die Fortsetzung seiner Geschichte wird das zeigen. "Was seine t Dipsomanie betrifft, sieht er, zum Teil wenigstens, richtig, wenn er schreibt, daß seine Feinde darin unrecht haben, „die Tollheit dem Getränk, und nicht das Getränk der Tollheit" zuzuschreiben. In diesem Punkt haben die Dipsomanen und auch alle Rauschgiftsüchtigen schon von jeher aus Instinkt viel mehr gewußt, als die medizinische Kunst bis in die letzte Zeit ; hinein vermutete. Man ist heute immer mehr der Meinung, daß man psychisch ! schon von vornherein krank sein muß, um ein Giftsüchtiger j zu werden. Es wird nicht der ein Rauschgiftsüchtiger, der Jan. 4th, 1848. You say: „Can you hint to me what was the .terrible evil' which caused the ,irregularities' so profoundly lamented? Yes, I can do more than hint. This ,evil' was the greatest whidi can befall a man. Six years ago, a wife, whom I loved as no man ever loved before, ruptured a blood-vessel in singing. Her life was despaired of. I took leave of her forever, and underwent all the agonies of her death. She recovered partially, and I again hoped. At the end of a year, the vessel broke again. I went through precisely the same scene . . . Then again — again — and even once again, at varying intervals. Each time I feit all the agonies of her death — and at each accession of the disorder I loved her more dearly and clung to her life with more desperate pertinacity. But I am constitutionally sensitive — nervous in a very unusual degree. I became insane, with long intervals of horrible sanity. During these fits of absolute unconsciousness, I drank — God only knows how often or how much. As a matter of course, my enemies referred the insanity to the drink, rather than the drink to the insanity. I had, indeed, nearly abandoned all hope of a permanent eure, when I found one in the death of my wife. This I can and do endure as becomes a man. It was the horrible never-ending oscillation between hope and despair which I could not longer have endured, without total loss of reason. In the death of what was my life, then, I receive a new, but — Oh God! — how melancholy an existence." Bonaparte: Edgar Poe. I. 12 1/8 Das Leben Edgar Poes einer werden will: die Gewöhnung genügt nicht, denn wenn man nicht psychisch disponiert ist, kann man sidi diese Ge- wöhnung doch nicht zulegen. Von diesem heutigen medizini- schen Standpunkt aus wird Poe gerechter als zu seiner Zeit beurteilt, die nichts anderes zu tun wußte, als empört zu sein oder Vorfälle zu vertuschen, je nachdem, ob ein Feind oder ein Freund sich äußerte. Aber der klassischen Medizin unserer Zeit entgeht (ebenso wie dies der Intuition Poes entgangen ist) der tiefere Grund, warum Poe gerade am Lager Virginias von diesem unwider- stehlichen Antrieb gepackt wurde, sie zu fliehen und in den Schenken zu trinken. Er behauptet, der Schmerz habe ihn fortgetrieben, die grauenhafte Drohung, er werde seine Ge- liebte verlieren, besonders aber das unerträgliche Sdiwanken zwischen Furcht und Hoffnung; und die Allgemeinheit wird ihm recht geben und sagen, daß dies nach all dem sehr natürlidi und sehr ergreifend ist. Unsere Versuche hingegen, Poes Ver- halten mit Hilfe der Psychoanalyse zu erklären, werden vielen unnötig kompliziert vorkommen, und diese vielen werden meinen, unsere Deutungen seien ungerecht gegen den armen verzweifelten Gatten. Aber schon Baudelaire hat gesdirieben: „Die Annahme Hegt übrigens nahe, daß ein so wirklich ein- samer, so zu tiefst unglücklicher Mensch . . ., die Annahme liegt nahe, daß dieser Dichter manchmal im Getränk die Wollust des Vergessens gesucht hat. Vor literarischen Rankünen, vor dem Wahn- witz des Unendlichen, Kummer im Hause, Beleidigungen durch das Elend, floh Poe in das Dunkel des Rausches wie in ein vorläufiges, erstes Grab. Aber so gut mir auch diese Erklärung zu sein scheint, ich finde, daß sie nicht genügend umfassend ist, und ich mißtraue ihr wegen ihrer beklagenswerten Einfachhei t.""* 104) Edgar Poe, sa vie et ses ceuvres, die Einführung zu den Histoires extraordinaires. Die Hervorhebung ist von uns. 1 In Philadelphia T-79 Die Einfalt der Erklärung scheint uns aber noch bedauerns- werter zu sein. Und wir möchten keineswegs zu ihren Gunsten auf unsere Deutung verzichten, die sich übrigens, wie wir glauben, jedem, der ein wenig die Tiefenpsychologie kennt, aufdrängt. "Wenn Poe seine Frau nach jedem Anfall ihrer Krankheit nur umso heißer liebte, so geschah dies nicht deshalb, weil jeder neue Anfall sie ihm zu rauben drohte, sondern weil jede Krise und jede Hämoptoe seiner geliebten Virginia in seinem tiefsten Innern die schreckliche unbewußte Erinnerung aus seiner Kind- heit wieder aufleben ließ, indem sie aus Virginia ein Bild machte, das neben dem seiner niemals vergessenen sterbenden Mutter lag und ihm immer ähnlicher wurde. "Wenn er dann, um seiner unerträglichen Angst zu entgehen, in ein "Wirtshaus floh, geschah dies nicht deshalb, weil diese Angst aus einem Sdhmerz hervorgegangen war, sondern aus der für die Sexualität dieses sadistischen Nekrophilen furchtbaren Versuchung, die von jener Vision immer wieder geweckt wurde. Daß Poe ein großer sadistisdier Nekrophiler war, wird durch sein ganzes "Werk bezeugt. Bloß reine Literaten, die im „Kultus" für Poe untergegangen sind, können dies leugnen. Selbst Lauvriere hat in seiner Studie Poes Verhalten sehr wohl verstanden, obwohl er natürlich die infantile "Wurzel dieses Verhaltens nicht ahnen konnte. Poe sah also in der sterbenden und vom Blut ihrer Hämo- ptoen befleckten Virginia sein Sexualideal verwirklicht: man muß zugeben, daß darin ein Anlaß zur Flucht steckte. Und wir werden sehen, auf welche Weise er geflohen ist. Er hatte in Philadelphia gegen das Ende des Jahres 1841 die Bekanntschaft eines jungen Rechtsstudenten und überaus verführerischen Menschen gemacht, des Schriftstellers Henry Beck Hirst. Sie hatten sich bald sehr angefreundet. Beide interessierten sich für die internationalen Gesetze über das M» i8o Das Leben Edgar Poes literarische Eigentum, die für die amerikanisdien und englisdien Sdiriflsteller damals überhaupt erst gesdiaffen werden sollten. Der Raub an den englisdien Sdiriftstellern, wie er von den amerikanischen Verlegern begangen wurde, verletzte nicht nur die Rechte der englisdien Sdiriflsteller, sondern er über- schwemmte auch den amerikanischen Markt mit Büchern zu billigen Preisen und machte es so den amerikanischen Schrift- stellern, selbst wenn sie auf alle Autorenrechte verzichteten, unmöglich, mit den Engländern zu konkurrieren. Dickens hat sich wohl während seiner Reise in Amerika im Frühjahr 1842 mit Poe über diese beklagenswerte Situation unterhalten; Poe litt geradezu unter diesem Zustand und ließ sich daher auf den Rat seines Freundes Hirst als Jurist inskribieren. Aber noch etwas anderes hatte die beiden einander nahe gebracht: der Alkohol. Zu Beginn 1842 war Hirst sein bester Freund geworden und mit ihm zog er nach den Hämoptoen Virginias umher, mit ihm ging er aus und besuchte er die Wirtshäuser: Hirst, ein Trinker, liebte den Branntwein. Der Dritte im Bunde war häufig ein gewisser George Lippard, ein ausgesprochener Sonderling. Lippard hatte lange Haare, einen blauen, in der Taille geschnürten Rock mit einem Kragen aus Samt; außerdem schlief er in der Nacht in einem großen, verwahrlosten, verlassenen Gebäude, dessen hundert leere Zimmer nur von den Vagabunden der Stadt aufgesucht wurden. Er machte sicäi dort auf der Erde ein Lager, den Kopf legte er auf einen Sack, und dann gab er sich seinen Gespensterträumereien hin. Sein Obdach nannte er Monk's Hall, die „Halle der Mönche"; er schrieb dort einen schaurigen Roman, in dem Skelette Grimassen schnitten und Särge ihren Schatten auf den vom Mond beleuditeten Fußboden warfen. So war der "Wind bescäiaffen, der damals bis nach Amerika blies, in einer Zeit, in der die europäischen Leser sich noch an den Phantasien der Ann Radcliffe ergötzten. In Philadelphia Unter Poes Gefährten war aber noch ein vierter: der Graveur Sartain, ein Absinthtrinker. Zu viert blieben sie bis lange in die Nacht hinein in den Wirtshäusern aus, so daß Poe, zur größten Verzweiflung der armen Muddy, nidit vor dem Morgen heimkam. Der beste Freund Poes unter ihnen war, wie wir schon gesagt haben, Hirst. Mit ihm diskutierte Poe über Diditkunst, ihm trug er die ersten Stanzen des Raben vor. Später be- hauptete Hirst sogar — er war durch das Trinken ganz heruntergekommen, und in seinem Gedächtnis ging alles durch- einander — , er sei es gewesen, der dieses berühmte Gedicht geschrieben habe. Natürlidi wurde diese Plagiatsbeschuldigung, die Poe sehr naheging, erst in der Zeit erhoben, als sich die Liebe jener Tage nach einem allen Psychoanalytikern wohl- bekannten Mechanismus in Verfolgungswahn verwandelt hatte. Damals jedoch, in Philadelphia, hatten die beiden jungen Leute einander noch sehr lieb. Poe war also vor der furchtbaren Versuchung, die für seine sdireckliche Sexualität in dem Anblick seiner armen, geliebten, hustenden und blutspuckenden Virginia bestand, zuerst in die Freundschaft eines Mannes geflüchtet, die er „keusdi" beim Alkohol genießen konnte. Man muß für den, der mit der Psychoanalyse nicht vertraut ist, betonen, daß wir durdi die Behauptung, Poe habe vor seiner schrecklichen Sexualität Zuflucht beim Mann gesucht, keineswegs sagen wollen, er sei je ein manifester Homosexueller gewesen. Wie bei allen Trinkern blieb auch bei ihm die Homo- sexualität, die er mit seinen Trinkkumpanen befriedigte, nur latent. Sie war darum aber nicht weniger tiefgehend und real, und darum konnte Poe bei Hirst, im Wirtshaus, eine Zuflucht finden, wenn er sidi am Lager seiner sterbenden Virginia, mit Recht, vor seinen eigenen Trieben fürchtete. Auch die seltsamen Beziehungen zwiscJien Poe und Griswold i82 Das Leben Edgar Poes können erst heute, bei dieser Beleuchtung, riditig gesehen und gedeutet werden. Der i8ij geborene Reverend Rufus Gris- wold, der zuerst Setzerlehrling und Herausgeber gewesen war, dann sich mit dem Studium der Theologie befaßte, um Pastor bei den Wiedertäufern zu werden, verließ bald dieses wenig einträgliche Gewerbe und kehrte zu den Druckereipressen zurück. Als Poe ihn 1841 bei Graham kennenlernte, war er der Herausgeber der ersten Anthologie in Amerika; er be- reitete damals sein großes "Werk: Poets and Poetry of America vor. Griswold kannte, mindestens oberflächlich, das Leben und die "Werke aller amerikanischen Dichter und Schriftsteller und hatte einen durchdringenden und bösartigen Blick. Poe war mit dem Expastor wegen dieser Anthologie in "Ver- bindung getreten. Er wollte auch in dieses Budi aufgenommen werden, und Griswold nahm sein Geisterschloß an. Die Beziehungen zwischen den beiden jungen Leute schienen damals recht herzliche gewesen zu sein, obwohl Poe schon in jener Zeit Griswold sein zurückhaltendes Urteil ebensowenig ver- zeihen konnte wie dieser Poe die sdilechtverhehlte Verachtung, die Edgar naturgemäß für die armseligen Gedichte des Reverend zeigte. Im Jahr 1842, in der Zeit also, in der Poe mit Hirst umherstrich, arbeitete er bei Graham's Magazine nur sehr „unregelmäßig" mit. Dadurdi entstand an einem schönen Apriltag in Gegenwart Grahams ein Streit mit dem unter- gebenen Hilfsredakteur Peterson, auf dem die ganze Arbeit lastete. „Peterson o'der Poe mußte fort", sagte später Graham zu Sartain, „die beiden Männer konnten nicht beisammenbleiben". So entfesselte der Alkohol wieder einmal die Streitsucht Poes. Als er nun an einem Aprilmorgen, nach einer neuerlichen Abwesenheit von einigen Tagen, in sein Büro kam, fand er dort den Reverend Rufus Griswold vor, der sich auf seinem Platz bereits häuslich niedergelassen hatte. Poe kehrte sofort In Philadelphia 183 um, und niemals mehr setzte er wieder seinen Fuß in das Büro von Graham's Magazine. Er war lange auf seinen Nach- folger böse. Noch ein anderer Streit, der aber intimerer Natur war, sollte später zwischen diesen beiden ausbrechen; trotzdem aber bestimmte Poe Griswold zu seinem Testamentsvollstrecker, leine Verpflichtung, deren sich dieser auf eine niederträchtige Weise entledigte. So verwickelt war das mysteriöse Band, das Poe gerade an seine „Verfolger" knüpfte; wir werden noch davon zu sprechen haben. ^ Poe verlor also noch einmal durdi den Alkohol seine [Stellung und dadurch die Existenzmittel für seine Familie. Denn stärker als die Notwendigkeit, seine bürgerlichen Pflichten zu erfüllen, war jene andere, der grauenhaften Ver- suchung zu entgehen, die am Krankenlager Virginias unbe- wußt aus ihm hervorbrach und für die sein damaliges "Werk zeugen kann. Es ist also kein Zufall, daß er gerade nach den Hämoptoen Virginias den blutigen Glanz schildern mußte, der in der Maske des Roten Todes schillerte. „Lange schon wütete der Rote Tod im Lande; nie war eine Pest verheerender, nie eine Krankheit gräßlicher gewesen. Das Blut war sein Avatar, — das Rot und die Greuel des Blutes.""" Dann malte Poe mit sichtbar sadistisch-ästhetischer Freude diese purpurrote Freske. Es war sdiließlidi auch kein Zufall, daß die einzige Geschichte Poes, in der auf ein im eigentlichen Sinne sexuelles Attentat angespielt wird, Das Geheimnis der Marie Roger, gerade damals geschrieben wurde. Vor allem aber entstand in jenen Tagen Die schwarze Katze am Bett Virginias, die sich durch die Katze Catterina wärmte, wenn ihr kalt wurde. loj) The „Red Death" had long devastated the country. No pestilence had ever been so fatal, or so hideous. Blood was its Avatar and Its seal — the redness and the horror of blood . . . Das Leben Edgar Poes 1 Aus dieser Zeit stammen audi Das schwatzende Herz, Die "Wassergrube und das Pendel und Der Goldkäfer; wir werden später, bei der Analyse dieser Gesdiiditen im zweiten Teil unserer Arbeit, verstehen, wieso die Hämoptoen Virginias die Rückkehr der Erinnerung Poes zu den Gestaden Carolinas begünstigten, wo er schon als ganz kleines Kind mit seiner kranken und geliebten Mutter umhergeirrt war, noch bevor er als Soldat dort gewesen. Das dichterische "Werk war für Poe das edle Mittel, um der Versuchung zu entgehen und ihr doch ohne Gefahr nachgeben zu können, da er sie nun in heftigen, erhebenden, sublimierten Träumen zu realisieren vermochte. Aber das Kunstwerk allein genügte Poe als Refugium nicht, daher floh er in das "Wirtshaus, zum Alkohol und zum Mann. Aber auch das sollte ihm nidit immer genügen. Es gab jedoch mehrere Ausgänge, wenn man fliehen wollte: und einer von ihnen führte sogar zu der lebenden Frau, die das Heil gewesen wäre. "Wir werden daher nicht erstaunt sein, Poe plötzlich während der schönen Jahreszeit 1842 auf dem Ferry-boat zu entdecken, das den Verkehr zwischen New York und Jersey City ver- mittelte, wenn wir erfahren, daß die um diese Zeit bereits ver- heiratete Mary Devereaux in Jersey City wohnte. Poe war be- trunken, ohne Hut, und die Adresse Marys, die er sich in New York verschaffen konnte, hatte er „vergessen". Vergeblich fragte er mit verstörtem und drohendem Blick die Reisenden aus, er fuhr mehrmals die Strecke hin und zurück, ohne die Adresse wieder zu bekommen: die Passagiere hielten ihn für einen "Wahnsinnigen. Endlich konnte ihm jemand Auskunft geben; und Mary beschreibt uns die Ankunft Poes in ihrem Hause: „Als Poe bei uns ankam, war idi mit meiner Sdiwester aus- gegangen, und er öffnete uns die Tür, als wir heimkehrten. "Wir sahen, daß er wieder einen seiner Fluchtversudae (spree) unter- nommen hatte und sdion mehrere Tage nidit zu Hause gewesen In Philadelphia i8j ■war. Er sagte zu mir: ,Sie haben also diesen verfluchten ... ge- heiratet! Lieben Sie ihn wirklich? Haben Sie ihn aus Liebe ge- heiratet?' Ich antwortete: ,Das geht niemanden anderen etwas an als meinen Mann und mich.' Darauf sagte er: ,Sie lieben ihn nicht. Sie lieben midi. Sie wissen das wohl!'" Hierauf trank Poe mit den Damen Tee; er trank nur eine einzige Tasse. Er befand sich in einem Zustand heftigster Er- regung, ergriff ein Messer und einen Teller mit Radieschen, und zerschnitt mit einem wahrhaft sadistischen Vergnügen die Radieschen in tausend Stücke, so daß die Stückchen nach allen Richtungen flogen. Dann verlangte Poe, daß Mary sein Lieblingslied singe: Come, rest in this bosom . . ., und ging fort, man wußte nicht wohin. Einige Tage später erschien die von Unruhe halb wahn- sinnige Frau Clemm bei Mary, um ihren Eddy zurückzuholen, dessen Spur sie bis zu ihr verfolgt hatte. Muddy, Mary und einige Nachbarn suchten miteinander die Umgebung ab. Man fand ihn in einem der Wälder nahe der Stadt, wo er wie ein AJCahnsinniger umherirrte. Er hatte seit der Tasse Tee, die er bei Mary getrunken, nichts mehr zu sich genommen. Frau Clemm brachte ihn nach Philadelphia zurück. Nichts ist charakteristischer als diese Flucht Poes zu Mary, durch die er der Versudiung, die von der sterbenden Virginia ausging, entfliehen wollte. Es war ein wirklicher „Heilungs- versudi", der aber, so wie alle Versuche gleicher Art, die Poe im Laufe seines Lebens mit normalen Frauen unternehmen wollte, zum Mißlingen verdammt war. Denn die Fixierung an die sterbende und tote Mutter war zu stark, als daß sie nicht jeden Versuch Poes, eine andere Liebe zu realisieren, ver- I hindert hätte. Daß er zur verheirateten Mary floh, daß er dabei betrunken und im Zustand der hypomanischen Erregung war, als er sich vor ihr zeigte, beweist deutlich: er wollte mit unnützen oder schädlidien Gesten Mary erobern. Aber Poe war i86 Das Leben Edgar Poes ^ gerade zu solchen sinnlosen Gesten gezwungen. Denn einerseits mußte er vor der großen Versuchung fliehen, die vom ster- benden oder toten Fleisch ausging, anderseits aber hatte er kein Recht auf einen gesunden und lebenden Körper, weil die schauervolle Treue ihn an eine Tote in der Vergangenheit schmiedete. Wenn er der Lebenden folgte, dann stieß er an das Grab der Ulalume; wenn er bei der Sterbenden blieb, dann untersagte ihm seine Moral, Handlungen zu begehen, zu denen ihn seine sadistisdi-nekrophile Sexualität aufstachelte: eine Sackgasse nach beiden Seiten! Aber je nachdem die Gefahr weniger von der einen als von der andern Seite drohte, stürzte er sich eiligst nadi der andern, so lange, bis er an die Mauer stieß, die ihn zur Umkehr zwang. Bloß die Keusdiheit war ihm gestattet; um sie zu erhalten, durfte er allerdings alle Mittel gebrauchen, er durfte außer Haus mit Männern Alkohol trinken, oder zu Hause Opium zu sidi nehmen. Im Sommer 1842 hatte die kleine Familie kein Geld mehr; sie mußte daher aus der Coates Street in ein bescheidenes Ziegelhaus der Spring Garden Street übersiedeln. Die mühevoll erworbenen Einrichtungsgegenstände verschwanden nach- einander, sie wurden verpfändet oder verkauft. Die wenigen Freunde, die ihn dort besuchen kamen, fanden die hustende und blasse Virginia im Garten unter dem großen Birnenbaum; an den Tagen, an denen es ihr schlechter ging, hielt sie sidi in dem kleinen Zimmer im Stodi auf, das neben dem Zimmer der Frau Clemm lag. Das Zimmer Eddys lag im Erdgeschoß und dort war er (nadi Miss Herring)^"" an den Tagen ein- geschlossen, an denen er nadi den Opiumexzessen, die er zweifellos deshalb beging, weil er sonst nach seiner Flucht die Rückkehr ins Haus nicht ertragen hätte, im Rausche lag. In der 106) Siehe S. 146 f. In Philadelphia 187 einen oder andern Form mußten diese Fluditversudie immer wieder unternommen werden. Auch der Aufenthalt Poes im August 1842 bei den Saratoga Springs war nichts anderes als ein derartiger Fluchtversuch. iDer Doktor Mitchell hatte ihm diese Bäder verordnet. Aber Ipoe besaß nicht das Geld, um sich in diesen damals sehr {beliebten Badeort zu begeben. Auf die Vermittlung des iDr. Mitchell hin lud nun eine Dame aus Philadelphia, die ■dort ihre Bäder nahm, Poe ein. Er reiste ohne seine Familie zu den Saratoga Springs. Daraus wurde bald ein richtiger Skandal. Leute aus Phila- delphia erkannten den jungen Schriftsteller, der täglich im I Wagen mit einer verheirateten Dame, welcher er anscheinend große Aufmerksamkeit erwies, spazieren fuhr. Der Tratsch hatte sidi dieser Fahrten bemächtigt, Poe mußte schnell abreisen. Virginia erlitt während der Abwesenheit ihres Gatten einen neuen Anfall von Hämoptoe; Poe bekam nadi seiner Rückkehr einen seiner Herzanfälle. Alles Unglück schien über das Haus hereingebrochen zu sein, und wenn Eddy in jener Zeit das Haus seltener verließ, so geschah dies wohl deshalb, weil außer dem Herzleiden das Opium ihn ans Zimmer fesselte . . . Bald aber sollte sich Poe noch eine andere Flucht leisten. Seit einiger Zeit schon dachte er von neuem an den Plan, den er übrigens nie aufgegeben hatte: er wollte sein eigenes Magazin gründen. Die Zeitschrift sollte nun nicht mehr Penn, sondern Stylus heißen; mit dem neuen Namen wollte er auch den alten Plan verjüngen. Thomas, der damals Beamter in Washington war und auf den sidi Poe am sichersten verlassen konnte, schrieb ihm öfters wegen dieser Sache. Man hoffte nämlich, Robert Tyler, den Sohn des Präsidenten, für den Plan zu interessieren. Robert Tyler konnte außerdem, wie man hoffte, Poe jene Beamten- stellung verschaffen, die dem jungen Schriftsteller endlich zu Das Leben Edgar Poes einer materiellen Sicherheit verhalf. Daher gab Thomas dem Robert Tyler, der in seinen schwadien Stunden dichtete, zu verstehen, Poe, der gefürchtete Kritiker, habe sich über eines seiner Gedichte sehr günstig geäußert. Im März verwendete sich nun Robert Tyler für Poe in Philadelphia, damit er bei den Zollbehörden einen Posten bekomme. Aber man rechnete nicht mit dem Einfluß untergeordneter Organe, der gewöhnlich größer ist, als der der führenden Stellen. Ein gewisser Smith, Zolleinnehmer im Hafen von Philadelphia, ließ sich an die zehnmal bei den Besudien Poes verleugnen, schließlich aber lehnte er ihn brutal hinaus. Der Stylus jedoch erhellte weiter den Horizont. Bevor aber diese Sonne aufging, arbeitete Poe am Pioneer mit, den Lowell eben in Boston gegründet hatte. So endete das Jahr 1842. Der Stylus war am i. Januar des neuen Jahres nicht erschienen, aber es hatte den Ansdiein, als sollte er im gleichen Monat doch noch herauskommen. Poe fand nämlich in T. C. Clarke, einem recht wohlhabenden Herausgeber, den notwendigen stillen Gesellschafter für seine Zeitschrift. Clarke, dem Thomas manchen Dienst in Washington erwiesen hatte, war von diesem bearbeitet worden. Durch seine Stellung als Direktor des Stylus sollte Poe schließlich auch den Beamtenposten erhalten. Kurz, Clarke glaubte an Poe, und am 31. Januar 1843 wurde zwischen Clarke, Poe und dem Graveur Darley, der als Illustrator des Stylus engagiert worden war, der Vertrag unterzeichnet. Hirst, der damals mit Poe sehr intim war, schrieb für das Philadelphia Saturday Museum, ein in weiteren Kreisen unbekanntes Blättdien, an dem auch Poe mitarbeitete, eine Biographie seines Freundes, die natürlich sehr romanhafl: ausgeschmückt war. Das Er- scheinen des Stylus war also angekündigt. Thomas nützte nun den Ruf und Namen, den Poe bereits als Erzähler und EntzifFerer von Geheimschriften besaß, aus, I In Philadelphia 189 um einen Besuch in Washington zu organisieren. Dort sollte Poe einen Vortrag halten, von Tyler im Weißen Haus emp- fangen werden, nach seinem Wunsch die Subskriptionen der berühmtesten Leute aus Washington und der Beamten für den Stylus entgegennehmen und schließlich selbst Beamter werden. Niemals war der Stylus so nahe daran, wirklich zu er- scheinen. Aber Poe hatte nicht einmal das Geld, das zur Reise nötig war; Clarke streckte es ihm nun vor. Am S.März 1843 fuhr Poe nach Washington; sein Herz war von Hoffnungen und Freude geschwellt, d.h. er befand sich in einem seiner hypomanischen Erregungszustände. Thomas, ein Junggeselle, wohnte in Fuller's Hotel, und er hatte dort auch ein Zimmer für Poe gemietet. Zum Unglück für Poe war Thomas am Tag der Ankunft des Diditers er- krankt und konnte sich nicht um ihn kümmern. Er vertraute ihn daher Dow, einem seiner Freunde, an. Nun hieß Dow nicht ohne Grund bei seinen Kameraden Rowdy Dow (der Radaumacher Dow); und Füller, der Be- sitzer des Hotels, besaß einen berühmten Keller. Noch am gleichen Abend, an dem Poe angekommen war, erwies er mit Dow und einem andern Mann dem Porto und den Schnäpsen aus dem Keller Füllers alle Ehre. Die Folge davon war, daß Poe krank wurde und nicht einmal so viel Geld mehr besaß, den Barbier, bei dem er sich wegen seines Besudies im Weißen Haus rasieren lassen wollte, zu bezahlen. Am 11. schrieb er daher an Clarke einen Brief, in dem er ihn neuerlich um etwas Geld bat, da seine Ausgaben, wie er sagte, ein wenig größer gewesen wären, als vorauszusehen war: er fügte hinzu, daß alles nach Wunsch gehe, daß er am 13. seinen Vortrag halten werde, und daß er in Washington „Aufsehen errege". Allerdings, Poe erregte Aufsehen! Aber ein ganz anderes, als sidi für „einen der bedeutendsten, keuschesten und gelehr- testen Sdiriftsteller dieser Zeit" (so nannte ihn das Museum) 190 Das Leben Edgar Poes gehört hätte. Dow hatte Poe Ins "Weiße Haus geführt, um mit ihm Robert Tyler aufzusuchen; dieser sah aber sofort, in welchem Zustand Poe sich befand, und er verhinderte, daß er in solcher Verfassung vom Präsidenten empfangen werde. Außerdem weigerte sidi Poe, der seinen Mantel wie gewöhnlich ä l'espagnole drapiert trug, ihn während seines ganzen Auf- enthaltes in Washington anders als mit dem Futter nach außen zu tragen. Es konnte daher wegen des Zustandes, in dem er sich befand, von der für den 13. angekündigten Veranstaltung nidit mehr die Rede sein. Dow schrieb infolgedessen an Clarke und bat ihn, er möge Poe abholen, da dieser nicht ohne Gefahr allein reisen könne. Da Clarke jedoch nicht erschien, mußten Dow und Thomas Poe Geld vorstrecken. Nadi dem letzten Alkoholgelage, an dem Poe, Dow und einige andere, darunter auch ein Spanier mit großem Schnurrbart, teilnahmen und auf das ein "Wirbel folgte, war der wütende Virginier mit dem „Don" und seinem Schnurrbart in Streit geraten; am Abend des 13. März wurde Poe von Dow auf den "Weg nadi Philadelphia gebracht. Frau Clemm, die man benachrichtigt hatte, holte ihn wieder einmal ab. So endete die „Flucht" nach "Washington. Man kann diesem Sdiwabenstreicii keinen andern Namen geben; Poe war es gelungen, eine Geschäftsreise, die sein Freund Thomas zu seinen Gunsten organisiert hatte, in eine alkoholische „Flucht" zu verwandeln. Ein Zusammenbruch seiner Hoffnungen: welcher Anteil, sagt der Psychoanalytiker, welcher Anteil kommt hier dem Bedürfnis nach Selbstbestrafung zu, das mancäie Menschen ständig dazu treibt, ihre Unternehmungen selbst mißlingen zu machen? Gehorchte er durdi sein Verhalten Allan, der ihm vorausgesagt hatte, er werde in seinem Leben nur Mißerfolg haben? Unterwarf er sich durch sein Benehmen, „noch nadi- träglich gehorsam", dem väterlidien Verdikt? Wir halten fest m In Philadelphia 191 [an der Tatsache, daß Poe niemals „wirklichen" Erfolg haben sollte und daß man für seine Mißerfolge nicht die äußere Welt [allein verantwortlich machen kann. Die Reise nach Washington ist ein vorzügliches Beispiel dafür, wie Poe es verstand, seinen eigenen Erfolg zu zerstören. Mandie werden sagen, er sei ein Dipsomane und daher für sein Benehmen nicht „verantwortlich" gewesen, sein Mißerfolg könne daher gewiß von ihm nicht gewollt sein, dieser Miß- erfolg, der seine teuersten Hoffnungen zugrunde richtete. Bei einer solchen Meinung verwechselt man aber, wie immer, das Bewußte mit dem Unbewußten. Gewiß, Poe war nidit ver- antwortlich, aber wer ist es denn? Poes Verhalten war natür- lich „determiniert", und das Unbewußte, das seine Handlungen determinierte und ihn zum Trinken drängte statt ihn in das Weiße Haus gehen zu lassen, war nicht ohne „unbewußte Ab- siditen"! Die Psychoanalytiker wissen, daß es keinen Zufall gibt, auch nicht in den verborgensten Tiefen der menschlichen Seele. Poe mußte also seinen Erfolg gerade in dem Augenblick ver- nichten, in dem er seiner Realisierung am nächsten war. Der beunruhigte Clarke zog sich von der Angelegenheit des Stylus kurze Zeit nachher zurück. Und das Elend lagerte von neuem auf dem kleinen Haus in der Spring Garden Street. Die Lufl: in Philadelphia war bald derart, daß Poe in ihr nicht mehr atmen konnte. Er war als Trunkenbold verschrien, die Geschichte von Washington war nicht geheim geblieben, skandalöse Gerüchte wegen der Dame in Saratoga, die er vermutlich 1843 wiedergesehen hatte, zirkulierten in der Stadt. Der Verfolgungswahn, der sich auf diese verschiedenen Tat- sadien stützen konnte, wuchs in dem krankhaften Hirn Poes an. Hirst wurde als falscher Freund verworfen; Wilmer, der Freund aus Baltimore, dunkler Machinationen verdächtigt. Griswold, der häufig die kleine Familie sah, hat uns von dem Edgar dieser Zeit eine einigermaßen romantische Be- 192 Das Leben Edgar Poes sdireibung hinterlassen, in der man sieht, „wie er durdi die Straßen in einem Zustand des Wahnsinns oder der Melandiolie umherstridi, unverständliche Verwünsdiungen ausstieß oder die Augen in leidenschaftlichem Gebet zum Himmel richtete . Er trotzte den heftigsten Stürmen und der Nacht, die Kleider waren vom Regen durchtränkt, mit den Armen schlug er wild im Guß und im Wind umher, er schien die Geister anzu- rufen . . ."^"^ In Wirklichkeit genügte Poe bei diesem Umher- irren das Regenwasser allein nicht. Er steckte tief im Elend. Die Möbel waren aus dem Haus verschwunden. Niemand lieh mehr Geld. Die Näharbeiten Muddys und Sissys trugen nur wenig ein. Auch die hundert Dollar des Preises, den er für den Goldkäfer von dem Dollar Newspaper erhalten hatte, waren bald verbraucht. Der Rabe, der damals in der ersten Fassung beendet war, wurde von Peterson und Graham abgelehnt. Vergebens las Poe selbst den auf seinen Ruf versammelten Druckern von Graham' s Magazine das Gedicht vor: sie bestätigten das Urteil ihrer Chefs. Und Poe mußte nun wie ein Bettler die fünfzehn Dollar annehmen, die eine unter den Anwesenden damals ein- geleitete Kollekte für Virginia und Frau Clemm ergab, und sein Manuskript wieder naci Hause tragen. Nachdem Poe so einige Zeit hindurch dieses elende Leben weitergeschleppt und hier und dort das eine oder andere der Manuskripte aus seiner Schreibtischlade veröffentlicht hatte, entschloß er sich im Monat April 1844 plötzlich, Philadelphia zu verlassen. Nadi Richmond konnte er nicht zurück, in Boston hatte er sich durcäi seine Angriffe auf die Schriftsteller des Nordens unmöglich gemacht, Baltimore war eine zu kleine Stadt; so blieb ihm nicht anderes übrig, als von neuem in New York sein Glück zu versuchen. 107) Israfel, S. 573. IN NEW YORK DER RABE UND DER RÜHM Edgar Poe und Virginia, die ihre Muddy und Catterina in Philadelphia zurückgelassen hatten, kamen am 6. April 1844 in New York an. Am nächsten Morgen, nach dem Frühstück in der Pension Greenwidi Street, in der sie abgestiegen waren, sdirieb Poe einen Brief an Frau Clemm."** Er beschrieb ihr die Reise, teilte ihr mit, daß „Sis" während der ganzen Fahrt nidit ein einziges Mal gehustet habe und betonte, aber in dem Ton eines Unglücklichen, der nicht immer genügend zu essen bekommt, um seinen Hunger stillen zu können, wie reichlidi die Nahrung in der Pension sei. Er hoffe, Muddy bald die paar Dollar für die Reise schicken zu können. „Sis" habe gestern abend geweint, weil Muddy und die Katze nidit da- gewesen seien. Edgar, der glaubte, sich noch drei Dollar aus- leihen zu können, hatte jedoch nur vierundeinhalb in der Tasche, so daß Muddy noch nicht kommen konnte. Gleich nach seiner Ankunft versuchte Poe ein Manuskript anzubringen. Samstag, den 13. April, veröffentlichte der New York 5«« den L ü g e n b a 1 1 o n {The Balloon Hoax), der aber von mehr als einem Leser mißverstanden wurde; man glaubte, der Atlantische Ozean sei wirklich auf dem Luflweg überquert worden. Poe freute sich darüber, daß so viele auf seinen Sdiwindel hereingefallen waren. Das erfreulidiste Ergebnis dieser Angelegenheit bestand aus einigen Dollar, die es Frau Clemm möglich machten, ungefähr eine Woche nadi Poes An- kunft den Kindern nachzukommen. 108) Poe an Frau Clemm, 7. April 1844 (V. E., Bd. 17, S. i6j). Bonaparte: Edgar Poe. I. ij 194 Das Leben Edgar Poes "Während der ersten Monate seines Aufenthalts in New York lebte Poe nur von den geringen Einnahmen, die er durdi einige Geschichten und Artikel bezog, die er hier und dort unterbrachte. Gleich nach der Ankunft der Frau Clemm über- ließ er ihr und Virginia die beiden Zimmer, die er sidj durch den Verkauf des Lügenballon in der Greenwidi Street hatte mieten können, und bezog selbst eine andere "Wohnung. In ihrer nächsten Nähe befand sich ein Wirtshaus und dort soll Poe verschiedenen Journalisten und Stammgästen den Raben in seiner damaligen Fassung vorgelesen haben. Man behauptet auch, daß Poe dieses Gedicht nach dem Ein- druck, den es auf seine Zuhörer gemacht hat, immer wieder umformte. Die Erzählungen Poes, nach seiner eigenen Angabe waren es sedisundsechzig Geschiditen, fanden jedoch keinen Ver- leger.^"" Professor Anthon, der 1837 Poe die hebräischen Zitate für den Artikel über das Petreische Arabien geliefert hatte, verwendete sich vergebens bei den Harpers für ihn. Sie lehnten es ab, Poe zu verlegen, weil dieser sie, wie wir wissen, für das berühmte Handbuch der Conchologie zum Vorteil eines anderen Verlegers „ausgeraubt" hatte. So kam der Sommer 1844 heran: Poe hatte keine feste Stellung, für die Erzählungen war kein Herausgeber aufzu- treiben, der Rabe war unvollendet geblieben. Virginia, der es immer schlediter ging, litt an der Hitze, die in New York ganz unerträglich werden kann. Daher über- siedelten Poe, Frau Clemm, Virginia und Catterina zu Beginn der heißen Tage nadi Bloomingdale Road, wo sie einige Zimmer auf dem Gutshof der Familie Brennan gemietet hatten. Der Hof beherrsdite von einer kleinen Anhöhe aus das Tal des Hudson. Vor dem Haus, neben einem Tümpel, stand im 109) Poe an Anthon, Juni 1844 (V. E., Bd. 17, S. 179). In New York — Der Rahe und der Ruhm I9J Schatten eines großen Baumes eine Bank, auf der Poe so lange träumen konnte, bis ihn die Kinder der Brennans zur Mahlzeit riefen. Im Stock des Hauses lagen die Schlafräume, unten war das Zimmer, in dem Poe sdirieb, und in dem sidi eine Büste der Pallas befand. In diesem Haus, das freistand und daher jedem "Wetter ausgesetzt war, beendete Poe beim Heulen der Herbststürme den R a b e n in der Form, in der er dann in die ■Welt hinausfliegen sollte. Von Frau Brennan erfahren wir, daß die Pension immer bezahlt wurde. Aber wir wissen auch, daß Poe nicht immer das Geld besaß, um die Briefe, die an ihn gerichtet waren, auslösen zu können.^i" So elend ging es ihm damals. Poe scheint in dieser Zeit keine schweren dipsomanischen Anfälle erlitten zu haben, trotzdem die Stryker's Bay Tavern in der Nähe lag. Er traf dort den einen oder andern seiner Kollegen, Thomas Dünn English oder Wallace und las ihnen den Raben vor. Aber auch zu Hause fehlte es ihm nicht an Zuhörern: Frau Brennan und Frau Clemm. Die Muddy hörte aufmerksam zu, sie bewunderte ihren Eddy, und während er arbeitete, schenkte sie ihm Kaffee ein. Virginia klebte das Papier zu langen Rollen zusammen, auf die Poe schrieb. Aber es ging ihr immer schleciiter, manchmal war sie so schwach, daß ihr Mann sie in den Armen aus seinem Zimmer in das Speisezimmer tragen mußte. Martha Brennan, die Tochter des Hauses, der wir diesen Blick ins Heim des Dichters verdanken, beschreibt uns den Poe dieser Zeit als den zärtlichsten, aufmerksamsten aller Gatten. Sie hat auch nie die heftige und wilde Natur beob- achten können, die man ihm zuschreibt. Während der zwei Jahreszeiten, die sie neben ihm verlebte, soll er auch nicht einen Schluck eines geistigen Getränkes zu sich genommen haben . . . iio) In jenen Tagen mußte der Empfänger das Porto bezahlen. 13* 196 Das Lehen Edgar Poes 1 Oft aber irrte er in den Wäldern der Umgebung umher, und wenn er dann nachmittags nach Hause kam, ging er in das große Zimmer im Erdgeschoß hinunter und arbeitete neben dem Fenster so lange, bis die Dämmerung einbrach. Ein idyllisches Gemälde, das uns Martha Brennan von dem Leben in Bloomingdale Road zeichnet! Es hängt eben von den Augenblicken ab, in denen Poe beobachtet wurde, und von den Augen der Zeugen, die ihn beobachteten, ob wir dieses oder jenes der einander widersprechenden Bilder des Dichters erhalten. Für die einen war er ein Dämon, ein Wahn- sinniger; für die andern ein Engel der Sanftmut. Und beide Bilder sind in ihrer Art wahr, denn der Zyklothymiker Poe wurde von Anfällen hypomanischer Erregung oder melan- cholischer Depression heimgesucht, die von Perioden relativer Ruhe (weldie allerdings mit zunehmendem Alter immer kürzer wurden) unterbrochen waren. Der Aufenthalt bei den Brennans in dem kleinen Gutshof, der den Hudson beherrsdite, scheint die längste Rast gewesen zu sein, die ihm noch gegönnt war. Dieses idyllische Zwischenspiel konnte nidit lange dauern; Poe mußte Geld verdienen. Daher bemühte sich im September Frau Clemm, für ihn Arbeit zu finden. Anfangs Oktober trat Poe eine Stelle bei dem Evening Mirror, einer Tages- zeitung, an, aber nicht als Chefredakteur, sondern als ein gewöhnlicher mechanical paragraphist, welcher der Zeitung außer seiner Arbeit auch noch Entrefilets und kleine Artikel zu liefern hatte. N. P. Willis, der Besitzer des Mirror, war ein liebens- würdiger Mann, sehr beliebt in den Salons der „Literati" in New York und bei den Damen sehr geschätzt. Er war 1806 geboren, hatte früh Gediciite gesciirieben und sich beim 1 In New York — Der Rabe und der Ruhm ^97 Magazine bald den Ruf eines geschickten Journalisten und Kritikers erworben. Zweimal war er in England gewesen und mit den bekanntesten Schriftstellern der damaligen Zeit zusammengekommen; nach seiner Rückkehr hatte er sich ganz dem Journalismus gewidmet. Poe litt unter der untergeordneten Stellung, die er bei Willis einnahm, kam aber trotzdem regelmäßig zur Arbeit ins Büro, in dem er um neun Uhr sein mußte und das er erst am Abend verließ. Willis hat seinen Angestellten sehr gelobt, er nannte ihn einen „ruhigen, geduldigen und arbeitsamen Menschen, einen wirklichen Gentleman, der durch seine vorbildliche Haltung und seine Fähigkeiten jedem, der sich ihm näherte, größte Achtung und Wertschätzung einflößte". Da Bloomingdale Road von den Büros des Mirror zu weit entfernt war, kam die kleine Familie im November wieder in die Stadt zurück."^ Dort ging es aber mit Virginia immer stärker bergab, und da Willis nur schlecht zahlte, war audi das Elend nicht zu verscheuchen. Wie groß es war, soll uns eine kleine Episode verraten. Gabriel Harrison, der am Broadway einen Laden hatte, erzählt uns, daß an einem kalten Abend ein Herr von ärm- lichem Aussehen in sein Geschäft eingetreten war, um nach dem Preis des Tabaks zu fragen; nachdem er Auskunft bekommen hatte, wendete er sich mit trauriger Miene zum Gehen. Er besaß nicht einmal das Geld, um sich Tabak kaufen zu können. Da wurde Harrison von Mitleid erfaßt und er schenkte ihm ein Päckchen. Glücklicherweise kam am Ende dieses Jahres Lowell nach New York, um seinen Freund Briggs, der eine neue Wochen- sdirift, das Broadway Journal vorbereitete, aufzusuchen. Lowell riet Briggs, Poe aufzunehmen; und Briggs engagierte ihn. iii) In New York (1845) wohnte er: 195 Broadway, dann 85 Amity Street. 15 Amity Street, dann Das Leben Edgar Poes 1 Poe rechnete auf seinen Raben; er hatte so lange an ihm gearbeitet, bis er hoffen konnte, er werde durdi ihn endlidi berühmt werden. Daher bemühte er sich sehr um die Ver- öffentlichung seiner Dichtung. Zu Beginn des neuen Jahres (1845) erschien nun der Rabe (dem panegyrische Notizen vorausgingen) fast gleichzeitig im Evening Minor, in der American Whig Review, im Broadway Journal, im Southern Literary Messenger; in der Review wurde das Gedicht unter dem Namen „Quarles" eingereicht, um sdhließlidi an anderer Stelle die Neugierde des Publikums durdi den Namen Poes zu reizen. Und der Ruhm war da. Von einem Tag zum nächsten war Poe berühmt geworden und für alle ein Gegenstand der Neu- gierde. Bald flog der Rabe sogar über den Atlantisdhen Ozean und trug die Klagen des Liebhabers, der um Lenore weinte, in die Alte "Welt hinüber. Und in dieser Zeit setzte sidi in den Köpfen des Publikums auch das Bild von dem romanti- schen und satanischen Antlitz fest, unter dem Poe in der Phan- tasie der Leser weiterleben sollte. Als er am 28. Februar vor den „Literati" von New York einen mit großem Beifall aufgenommenen Vortrag hielt, stand er bereits im Glanz dieses neuen Ruhms, man riß sich um seine Unterschrifl. Wichtiger aber war, daß Briggs Poe ein Drittel des Besitzes seiner Zeitschrift überließ, da er von ihm leicht überzeugt werden konnte, ein berühmter Name, den man zwei unbekannten Namen hinzufügt (Briggs, Poe, Bisco), vergrößere den Erfolg und die Auflagenhöhe des Broadway Journal. Als Poe in die Redaktion dieser Zeitschrift eingetreten war, befand er sich gerade in jener Periode relativer Ruhe und Nüchternheit, die uns durch mehrere Zeugnisse belegt wird. Zwei davon haben wir schon zitiert; auch Briggs äußerte sidi ebenso wie die andern: „Poe gefällt mir überaus. Herr Gris- wold hat mir über ihn ganz scheußliche Geschichten erzählt, die In New York — Der Rabe und der Ruhm 199 mit seinem Betragen in "Widersprudi stehen." Das sdirieb er im Januar 1845 an Lowell; durch seine "Worte erfahren wir wieder einmal, was für eine böse Zunge der Reverend war, den Poe in New York in den Büros der Tribüne wieder- getroffen hatte. Griswold bereitete damals seine Antho- logie amerikanischer Erzähler {Prose Writers of America) vor. Poe versöhnte sidi nun mit ihm, keinesfalls aber, wie wir meinen, bloß aus Interesse und um günstig in der Anthologie aufgenommen zu werden, sondern unter dem Druck jenes seltsamen ambivalenten Gefühls, das ihn von jeher an diesen Feind band. Der Reverend replizierte, indem er ihm üble Nachrede hielt. Aber adi! Der Dichter benahm sidi bald so, daß die üble Nachrede recht hatte. Der Erfolg des Raben, die gesell- schaftlichen Beziehungen, die er ihm verdankte, besonders aber die Berührung mit faszinierenden Frauen, denen er in den Salons der „Literati" oder in den Theatern — Poe war aucJi Theaterkritiker beim Broadway Journal — begegnete, sdiienen sehr ungünstig auf das seelische Gleichgewicht des Dichters ein- gewirkt zu haben. Er war neuerdings in einen seiner Erregungszustände ge- raten. Im März hatte er wieder zu trinken begonnen, er trank mehr als je vorher. Seine Überreiztheit fiel jedem auf, der ihn sah. Und trotz einer zügellosen Tätigkeit, die er gerade unter dem Druck jener hypomanischen Krise entfaltete (Poe arbeitete bis zu fünfzehn Stunden"^ täglich und lieferte Artikel über Artikel), wurde Briggs unzufrieden. Der Krieg mit Longfellow (The Longfellow War) und die Polemik gegen Outis, hinter denen die Leiden- sdiafl; eines Manisdien stand, ferner die Scharmützel mit den Transzendentalisten, die Attacken gegen die „Plagiatoren", die 112) Poe an Thomas, 4. Mai 184J (V. E., Bd. 17, S. 203). Das Leben Edgar Poes von Poe überall mit der Empfindlichkeit eines Paranoikers ent- deckt wurden, alle diese Kämpfe schafften dem Broadway Journal mehr als einen Feind. Briggs fand daher, daß Poe lästig werde und er wäre ihn gerne los geworden; aber auch Poe wollte sich von Briggs freimachen. Da man ihn jedoch nicht ersetzen konnte, Bisco, der dritte Partner, zu ihm hielt, und Briggs in finanzielle Verlegenheit geraten war, wurde — vor- erst einmal — Briggs besiegt. Der Ruhm hatte jedoch weder Poe reicher gemadit, nodi seine Frau geheilt. Virginia hustete in der armseligen Wohnung (Amity Street) weiter, sie spuckte Blut und wurde tagtäglidi schwächer. Fern von seinem Hause gab es nun für Poe zwar nicht den Reichtum, aber den Ruhm, das "Wirtshaus und andere Frauen als diese geliebte und grauenhaft verführerisdie Tod- kranke. Daher verfiel Poe im Frühjahr 1845 der ersten jener wilden und platonischen Leidenschaften, deren Beute er bis zu seinem Tode werden sollte. In einem Vortrag, den er im Februar hielt, lobte er die schwulstigen, sentimentalen, manchmal allerdings audi ganz hübschen Gedichte einer unbedeutenden Dichterin, der Frau Frances Osgood. Er hatte ihr außerdem den Raben zu- geschickt, und sie um ihr „Urteil" und um eine Begegnung gebeten. Willis stellte ihn vor. Von Frau Osgood besitzen wir eine Schilderung dieser ersten Begegnung: „Ich werde den Morgen niemals vergessen, an dem idi von Herrn Willis in den Salon gebeten wurde, um endlidi mit i h m zusammen- zukommen. Er trug den Kopf stolz erhoben, seine düsteren Augen funkelten durdi das magnetische Feuer seines Gefühls und seiner Gedanken, was mit einer ganz besonderen und unnachahmlichen Mischung von Sanftmut und Hoheit im Ausdrude und in seinem Benehmen gepaart war; er grüßte midi ruhig, fast kühl, aber mit einem so nadidrüddidien Ernst, daß idi mich eines tiefen Eindrudts I RUFUS W. GRISWOLD (Nach einem Stich) :i '■ In New York — Der Rabe und der Ruhm 201 nicht erwehren konnte. Wir waren von diesem Augenblick an bis zu seinem Tode Freunde, obwohl wir uns nur in dem ersten Jahr nadi dieser Begegnung häufiger trafen."^" Sie schrieben einander Verse; Poe schickte seiner neuen Flamme Gedichte, die schon einmal an Eliza White und an andere gerichtet worden waren. "Was lag daran? Erst jetzt liebte er wirklich! Frau Osgood jedoch war eingeklemmt zwischen einem Flirt, der zu Ende ging (Griswold) und einem anderen, der begann (Poe); daher schickte sie beiden Gedichte. Griswold hat seinem Rivalen diesen Erfolg niemals mehr ver- ziehen, selbst dann nicht, als Edgar schon gestorben war. Edgar und Frances sahen einander sehr häufig, bald bei Frau Osgood, bald bei Poe. Virginia war nidit eifersüchtig, im Gegenteil, sie und Frau Clemm machten ihm Mut zu dieser Freundschaft; es war ihnen wahrscheinlich lieber, er hielt sich bei Frau Osgood auf als im "Wirtshaus. Auch Osgood, der Gatte, ein Maler, scheint nicht eifersüchtig gewesen zu sein: er malte sogar das Bild Edgar Poes. "Wir besitzen ein Porträt, das Poe selbst von seiner Geliebten entworfen hat: „Sie ist ein glühender Mensch, überaus empfindsam, impulsiv — das "Wesen der "Wahrheit und Ehre; sie verehrt die Schönheit und ihrem Herzen ist alles Künstliche so fremd, daß es reich an Kunst zu sein scheint; man bewundert sie, man achtet sie, man liebt sie, wie kaum eine andere Frau. Sie ist von mittlerer Größe, so schlank, daß sie fast gebrechlich ist, und voll Anmut, ob sie nun ruht oder sich bewegt; ihr Teint ist ungewöhnlich bleich, die Haare sind sdawarz und glänzend, die Augen hellgrau, leuchtend und groß und von einer außerordentlichen Eindringlichkeit des Ausdrucks.""' Dieses Porträt erinnert durch mehr als einen Zug an das Elizabeth Arnolds: die gleichen großen, ausdrucksvollen Augen, 113) Israfel, S. 643. 114) Israfel, S. 644. Das Leben Edgar Poes die sdiwarzen Haare, der blasse Teint, die ganze gebrecäilidie Schlankheit. Diese Ähnlidikeit wird noch eindringlicher sichtbar, wenn wir erfahren, daß Frau Osgood vier Jahre später an Tuberkulose sterben sollte und sicherlich damals sdion an- gesteckt war. Sie war ein wenig älter als Poe und hieß — das ist ein Zug, der zu einem andern Mutterbild gehört — Frances. Die näheren Umstände, unter denen sich die Liebe Poes für Frau Osgood abspielt, sind mit einem Schleier bededst; Dokumente fehlen uns und auch der eifrige Briefwechsel, der zwischen den beiden hin und her ging, ist uns nicht erhalten geblieben. Wir wissen jedodi, daß die erste jener Leidenschaften, denen Poe bis zum Sdiluß seines Lebens verfallen sein sollte, ebenso intensiv war wie ätherisch und platonisch. Der Skandal, der aus dieser Gesciiichte entstand, die maßlosen Lobeshymnen, die der „große Kritiker" der unbedeutenden Dichterin sang, die umfangreiche (später als zu „kompromittierend" zerstörte) Korrespondenz, die Art und Weise, wie Frau Osgood auf die Beharrlichkeit Poes reagierte, sind lauter Beweise für den Grad von Tollheit, den diese Liebe erreichen konnte. Aber Poe mußte nun allzu vielen sexuellen Versuchungen zugleich entfliehen: auf der einen Seite war die sterbende Vir- ginia, auf der andern die lebende Frances Osgood. Daher war er in diesem Frühling ebensooft im Wirtshaus wie bei Frau Osgood zu finden. Es fehlt uns zwar an genauen Daten, die unsere Annahme bestätigen: ich wäre aber nicht erstaunt über die Entdeckung, daß das neuerliche Anwachsen der Dipsomanie mit dem Beginn der Leidenschaft zu Frau Osgood zusammen- falle. Ein Sturzbach von „Fluchten" ging los: er floh zu Frau Osgood, um der Versuchung zu entgehen, die von Virginia aus- ging, dann wieder zu den Saufkumpanen, um der Versuchung zu entgehen, die Frau Osgood für ihn bedeutete. Als daher Lowell, der so lange Jahre in freundschaftlicher Korrespondenz mit ihm gestanden war, von seiner Hochzeits- In New York — Der Rabe und der Ruhm 203 reise zurückkam und sich in New York aufhielt, um endlich Poe, den Freund, den er niemals gesehen hatte, aufzusuchen, war er von ihm heftig enttäuscht: er fand einen Menschen, der dem Trunk verfallen war, zwar „nidit betrunken, aber doch in einem Zustand, als ob er eben den Kopf unter die Pumpe gehalten hätte, um wieder zu sich zu kommen". Poe war übel- gelaunt und sarkastisch und noch Jahre nachher mußte Frau Clemm ihren Eddy bei Lowell entschuldigen: „An dem Tag, an dem Sie ihn in New York gesehen haben, war er nidit er selbst." Wir haben auch noch andere Zeugnisse, aus denen wir er- fahren können, in welchem Zustand sich Poe damals befand: Saunders, der Bibliothekar der Aster Library, erzählt uns, wie er eines Tages Poe auf dem Broadway traf. Poe floß über von Herzensüberschwang und Sentimentalität, d. h. er war be- trunken, und teilte ihm mit, daß er vor der Königin Viktoria und vor der königlichen Familie den Raben vortragen werde. Ein anderes Mal erzählte er Saunders von einer Verschwörung, die von den amerikanischen Schriftstellern gegen ihn angezettelt worden sei, um sein Genie herabzusetzen und sein Werk tot- zuschweigen. Saunders sagt uns noch, daß Poe, wenn er be- trunken war, was häufig vorkam, nur von sich selbst, von seinen Werken und der Eifersucht der anderen Schriftsteller sprach. So wuchs in Poe, in dem Maße, in dem sich sein Verstand verwirrte, der Verfolgungs- und Größenwahn an. Doktor Chivers, ein Freund, mit dem Poe im Briefwechsel stand, war anfangs Juli nach New York gekommen und fand Poe eines Tages betrunken auf der Straße. Während er ihn nach Hause begleitete, trafen sie den Direktor des Knkkerhocker, Lewis Gaylord Clark; Poe wurde sofort gegen ihn ausfällig und warf ihm Dinge vor, die aber nur in seiner Einbildung zu Redit bestanden. Clark erfaßte die Ursache dieser Attacke und machte sich davon. Wenn wir diese Episode 204 Das Leben Edgar Poes ganz verstehen wollen, müssen wir uns daran erinnern, daß ein anderer Clarke im Jahre 1843 der stille Gesellschafter beim Stylus hätte werden sollen, und daß sich dieser andere Clarke nach dem sinnlosen Streich von Washington, und mit Recht, zurückgezogen hatte. Nun war Poe gerade dabei, mit Chivers von neuem die ewigdauernde Angelegenheit des Stylus zu be- handeln und ihn um eine Geldhilfe anzugehen. Daher war der Anblick eines Clark, der noch dazu Direktor einer gutgehenden und rivalisierenden Revue war, genügend Anlaß, ihn in seinem Zustande zu reizen und diesen Mann mit den Vorwürfen zu belasten, die auf einen ehemaligen Clarke zielten, der ihn im Stich gelassen hatte; und gleichzeitig ging er indirekt dadurch den jetzigen Chivers an, der seine Hoffnungen natürlich eben- falls nicht erfüllen konnte. So versteht es das Unbewußte, sich einfacher Wortanklänge zu bedienen, um tiefere Zusammen- hänge herzustellen. Der Stylus kam also wieder nicht zustande; dafür aber fiel das Broadway Journal Poe in die Hände. Briggs hatte gehofft, sidi seiner Kompagnons im Juli nach dem ersten Semesterband des Broadway Journals entledigen zu können. Bisco, der dritte Gesellschafter, der mit Poe im Einverständnis war, leistete aber Widerstand und forderte eine zu hohe Summe, als Briggs ihm seinen Anteil abkaufen wollte; Briggs, der nicht viel Geld hatte, mußte nun Poe und Bisco das Broadway Journal über- lassen. Und da jetzt Poe durch eine Anleihe von fünfzig Dollar, die er bei Horace Greeley gemacht hatte, in der Lage war, Bisco seinen Anteil abkaufen zu können, wurde er nidit nur der einzige Chefredakteur, sondern auch der einzige Besitzer des Broadway Journal. Der Traum seines Lebens schien der Verwirklichung nahe zu sein; er hatte ein eigenes Magazin, wenn es audi nicht in allen Teilen aus seinem Gehirn hervorgegangen war, wie das beim Stylus der Fall hätte sein können, aber es war endlich In New York — D er Rabe und der Ruhm 205 ein Organ da, das er nadi seinem Wunsch umformen konnte, wenn es ihm nur gelingen würde, aus der mit Schulden be- lasteten finanziellen Lage seiner Zeitschrift mit Erfolg heraus- zusteuern. In dem Zustand aber, in dem er sich befand, konnte er unmöglich einen Kredit erhalten; daher mußte er es erleben, wie im letzten Semester 1845 mit Blitzesschnelle sein Broadway Journal und auch seine Hoffnungen wieder ein- gingen. Einige Zeugnisse, die uns aus jener Zeit erhalten geblieben sind, zeigen uns Poe in seiner ganzen Unbeständigkeit. Eines davon stammt von R. H. Stoddard, einem ganz jungen Autor, der unter dem Einfluß Keats ein Gedicht über eine Griechi- sche Flöte geschrieben hatte. Er sudite Poe auf, der mit ihm sehr höflich war und ihm versprach, seine Arbeit zu ver- öffentlichen. Aber in der nächsten Nummer der Zeitschrift er- schien folgende Notiz: „An den Autor der Griechischen Flöte! "Wir fürchten, sein Gedicht verlegt zu haben." Und einen Monat später: „Wir bezweifeln die Echtheit der G r i e- chischen Flöte, weil dieses Gedicht an manchen Stellen zu gut ist, um an anderen so schlecht sein zu dürfen. Wenn es dem Autor nicht gelingen sollte, uns in dieser Hinsicht zu be- ruhigen, weigern wir uns, sein Gedicht abzudrucken . . ." Stod- dard ging an einem heißen Sommernacimittag in Poes Büro und traf ihn beim Nachmittagsschlaf. Der „große Kritiker" empfing den jungen Dichter, der gekommen war, um sich zu rechtfertigen, sehr unhöflich, und warf ihn bei der Türe hinaus, nicht ohne ihn vorher auf das gröblichste zu beleidigen und mit Sdhlägen zu bedrohen. Ein anderes Mal hingegen war er ein überaus besorgter Mensch: wie eine aufmerksame Mutter wischte er die Stirne und die Hände des kleinen Laufburschen ab, der durch die furchtbare Hitze dieses Sommers in Ohnmacht gefallen ; war . . . Dieser Junge — er hieß Alec Grane — hat uns 2o6 Das Leben Edgar Poes selbst von dem rührenden Benehmen seines geliebten Chefs berichtet. Inzwischen hatte die Liebe zu Frau Osgood ihren Gipfel erreicht. Eines Morgens suchte sie Poe in seinem Hause auf und fand ihn damit beschäftigt, an einer Reihe kritischer Studien über die „Literati" von New York zu arbeiten. „Schauen Sie", sagte er zu ihr, indem er mit triumphierendem Lachen auf einige kleine Rollen aus sclimalem Papier zeigte (so schrieb er für die Druckerei), „aus der Länge der Rolle können Sie erraten, wie hodi idi Sie und wie icli irgendein anderes Mitglied der literarischen Gesellschafl: einschätze. In jeder dieser Rollen ist einer von Euch eingerollt und in Grund und Boden diskutiert. Komm, Virginia, hilf mir!" Un^ sie rollen einen Streifen nach dem andern auf. Sie kommen zu einem, der kein Ende zu nehmen scheint. Virginia läufl: lachend in eine Ecke des Zimmers und hält das eine Ende, ihr Gatte läuft mit dem andern Ende in die andere Ecke. „Und wem gilt diese Freundlichkeit, die kein Ende nimmt?", fragte Frau Osgood. „Hört sie an!", rief er, „als ob ihr kleines eitles Herz nicht wüßte, daß dies ihre Rolle ist!"^*^ So groß war der Platz, welcher, an einer Elle Papier gemessen, der Frau Osgood damals im Herzen Poes eingeräumt wurde! "Wie jedesmal, wenn er mit Leidenschaft liebte, sollte Poe auch diesmal ein Mittel finden, um den Gegenstand seiner Liebe bald wieder zu verlieren. Der „Skandal" wurde immer größer, die Familie der Frau Osgood war beunruhigt. Im Laufe des Sommers verschwand Frau Osgood aus New York und zog sich nadi Albany zurück. Man hat diese Abreise andern Umständen zugeschrieben. Frau Osgood selbst aber sagte: „Ich fuhr nach Albany, dann nadi Boston und nach Providence, um ihm aus- zuweichen." 115) Israfel, S. 657. In New York — Der Rahe und der Ruhm 207 Poe folgte ihr nach Albany. Sie floh nadi Boston, aber er fand ein Mittel, sie auch hier wiederzusehen. Und er traf sie audi in Providence, wo sie mindestens einen Abend miteinander verbrachten. In Providence wohnte eine andere Dichterin, eine Poetin aus Ider „transzendentalistischen Sdiule", in der Poe von ferne eine „geistige Schwester" wiederzufinden geglaubt hatte. Helen Whitman war eine "Witwe, ziemlich wohlhabend, und galt für schön. Frau Osgood wollte die Bekanntsdiafl: vermitteln; vermutlidi war sie durch das wahnsinnige Benehmen Poes abgesdireckt und hoffte, die sinnlose I.eidenschafl: des Dichters auf ein anderes Objekt ablenken zu können. Poe aber weigerte sich, Frau Osgood zu Frau Whitman zu begleiten. Spät in der Nacht jedoch, nadidem er allein durch die kleine Stadt spazieren gegangen war, kam er bei dem Hause der Frau Whitman vorüber und sah, wie sie auf der [Sdiwelle ihrer Tür im Mondlicht stand und frisdie Luft sciiöpfte. Sie machte auf ihn einen tiefen Eindrudc und wir werden bald sehen, welchen "Widerhall dieser Eindruck in ihm finden sollte. In dem berühmten Gedidit, in dem er später schilderte, wie Frau "Whitman in dieser Nacht an der Sdbwelle der Tür stand, wurde dieser Platz in einen „Rosengarten" ver- wandelt. Inzwischen aber beherrsdite Frau Osgood noch für einige Jahreszeiten das Herz Edgar Poes. Auf diese Periode intensivster Erregung folgte eine neuer- : liehe Depressionskrise: „Zum erstenmal seit zwei Monaten", .schreibt er am 13. November aus New York an Duyckinck, '„bin ich wieder ganz icJi selbst, ganz fürchterlich krank und Ijdeprimiert, aber scliließlicii doch ich selbst. Es scheint mir, daß , ich aus einem grauenhaften Traum erwacht bin, in dem alles "Verwirrung und Schmerz war ... Ich glaube wirklich, daß ich 2o8 Das Leben Edgar Poes wahnsinnig gewesen bin — aber ich hatte wahrhaftig genügend Grund, es zu sein."^^° Dann verlangt Poe von Duyckinds, er möge seinem Broadway Journal zu Hilfe kommen, das sonst aus Mangel an Geld eingehen müsse. Poe war nun nicht mehr imstande, ernsthaft in einer Angelegenheit zu unterhandeln. Im Oktober war er vom Lyceum in Boston eingeladen worden, ein unveröffentlichtes Gedidit vorzulesen; er konnte aber in dieser Zeit kein neues Gedicht schreiben und begnügte sich daher damit, den Ein- wohnern von Boston den AI Aaraaf und den Raben vorzutragen. Als er angegriffen wurde, er habe sich über die Bostoner lustig gemadit, verteidigte er sich nicht weniger heftig: ein Gedicht, das gedichtet, gedruckt und veröffentlicht wurde, noch bevor er sein zehntes Lebensjahr erreicht hatte, sei gut genug für die Einwohner von Boston. Und am 3. Januar 1846 erschien die letzte Nummer des Broadway Journal mit folgender Bemerkung zum Abschied: „Unerwartete Verpfliditungen verlangen meine ganze Aufmerk- samkeit, und da die Ziele, um derentwillen das Broadway Journal gegründet worden war, erreidit wurden (wenigstens was midi per- sönlidi betrifft), so sage idi als Chefredakteur meinen Feinden und auch meinen Freunden ein herzlidies Lebewohl !" ^•'■' n6) Poe an Duyckinck, 13. November 1845 (V. E., Bd. 17, S. 221). For the first time during two months I find myself entirely myself — dreadfully sids and depressed, but still myself. I seem to have just awakened from some horrible dream, in which all was confusion and suffering ... I really believe that I have been mad — but indeed I have had abundant reason to be so . . . 117) V. E., Bd. I, S. 240: Valedictory Unexpected engagements demanding my whole attention, and the objects being füIfiUed so far as regards myself personally, for whidi „The Broadway Journal" was established, I now, as its editor, bid farewell — as cordially to foes as to friends. In New York — Der Rahe und der Ruhm 209 In Wirklichkeit mußte Poe seine Zeitschrift fallenlassen, weil er sich hundertvierzig Dollar nicht versdiaffen konnte. Hartnäckig stand die seiner eigenen Natur entspringende Erfolglosigkeit wieder einmal neben ihm. Das Jahr 1846 begann daher im Zeichen der höchsten Not, trotzdem das Broadway Journal vor seinem Eingehen alte Geschichten und Essays veröffentlicht hatte, die sich vom Autor des R a b e n den Glanz des neuen Ruhms ausborgten, trotzdem zwölf Geschichten,"^ die von Duyckind: ausgesucht worden, erschienen waren, und ihrem Autor zum ersten Male Geld ein- gebracht hatten (acht Cents für den verkauften Band!), trotz den Gedichten, die am Silvestertag 1845 auf den Flügeln des Raben von neuem in die Welt hinausflogen."" Während Virginia in der armseligen, schlecht geheizten Wohnung hustete und blutete, war ihr Mann in den Salons der Stadt zu finden. Er ging aber nicht nur deshalb dorthin, weil er einer Sterbenden entgehen wollte oder weil die nach New York zurückgekehrte Frau Osgood ihn lockte, sondern auch, um sich an den „vornehmen Leuten", die ihn so lange nicht beachtet hatten, zu rächen. Die oberen Vierhundert, die damals die „Aristokratie" von New York bedeuteten, ließen den Autor des R a b e n allerdings nicht ein; aber dafür ging es um so lebhafter in den Salons der „Literati" zu, die Poe trotz ihrer Pose und Affektiertheit besuchte. Und ein Schwärm von Frauen, dichtendenFrauen — die „Schwestern der Sternen- gemeinschaft"^^» — hörte ihm begeistert zu, wenn er jene „beredten Monologe, die halb Traum, halb Dichtung 118) Tales, by Edgar A. Poe. New York, Wiley & Putnam, 184J. 119) The Raven and Other Poems, by Edgar A. Poe. New York, Wiley & Putnam, 1845 (3 1. Dezember). 120) The starry sisterhood. Bonaparte: Edgar Poe. I. Das Lehen Edgar Poes waren", hielt, welche die Männer zur Verzweiflung braditen. Mandimal auch trug er bei herabgeschraubten Lampen mit seiner romantisdien Stimme die Stanzen des Raben vor. Die großen geistigen Bewegungen, die damals Amerika in Aufruhr brachten — die Feldzüge zugunsten der Absdiaffung der Sklaverei oder für das Stimmrecht der Frauen — , ließen Poe gleichgültig. Der amerikanische Hodimut, der Glaube an den „Fortschritt", welcher das Land und die Zeit in dem Augenblick beseelte, in dem sich die "Welt unter dem Einfluß der Dampfmaschine zu verwandeln begann, brachten Poe sogar in Wut. Nur gegen eine einzige der damaligen Ideen, gegen den Glauben, man könne eine „andere Welt" erobern, war er nadislchtig. Der Mesmerismus inspirierte ihn zum Fall des Herrn V a 1 d e m a r, zu der Geschichte, in der er seine Lust an makabren Schrecken befriedigen konnte. Das wahre Königreich Poes war eben das Reich des Traumes, in dem man vom Tod heimgesucht wurde. Er sprach daher mit den „SchwesternderSternen- gemeinschaft" weder von der Abschaffung der Sklaverei, noch von den politischen Streitigkeiten. Durch eine dieser Frauen ist nun eines seiner Gespräche zu uns gekommen :^''^ „Ich sah Herrn Poe zum erstenmal bei dem Besudi, den er mir mit seiner hübschen, kindlichen Frau machte, die für ihn zweifellos — soweit das bei einem Erdengesdiöpf möglich ist — die Lenore mit ihren großen leuchtenden Augen, mit ihrem ernsten und entzüchenden Gesicht war. Ich hatte ein gewisses Vorurteil gegen ihn, das durdi die Gerüchte verursacht war, die auch mir zu Ohren gekommen waren^'^^'; aber sein Anblidi entwaffnete mich. Es fiel mir seine schmächtige Gestalt auf, die weiße und zarte Haut eines Gesichtes, das so fragend wie das eines Kindes dreinschaute, und auf dem Schatten von Angst, eine Spur von Furcht und Traurig- i2i) Journal Diary der Elizabeth Oakes Smith. Lewiston Journal Co., Lewiston, Maine, S. ii6 (nach Israfel, S. 656). 121 a) Diese Gerüchte bezogen sich natürlich auf Frau Osgood. In New York — Der Rabe und der Ruhm keit lagen; die großen und hellen Augen spiegelten eine tiefe Ein- samkeit wieder. Idi empfand für ihn eine Sympathie, die mit Besorgnis gemischt war, eine Sympathie, wie man sie etwa für ein Kind empfindet, das zu intelligent ist und zu viel denkt. Darum sagte idi sofort: ,Adi, Herr Poe, in diesem Land ist für Menschen, die leben, um zu träumen, kein Platz!' Er fragte lebhaft: ,Träumen Sie? Ich wollte sagen, träumen Sie beim Schlafen?' — ,Adi ja, was mein Träumen anbetrifft, da bin idi ein wahrer Josef, wenn meine Träume nur dem Unbekannten, dem Geistigen angehören.' ,Idi wußte es', sagte er freundlich, ,ich sah es ihren Augen an. Mir öffnet sich das große dunkle Königreich der Träume; eine Musik, die von sterblichen Ohren nicht gehört wird, ergießt sich in den Raum und Lichter von überirdischer Schönheit entzüdien das Auge. So muß man träumen!' Und seine Augen nahmen einen verschleierten Ausdruci an, als ob er in sein Traumreich blicke. Plötzlich sagte er: ,Haben auch bei Ihnen diese sanften, schatten- haften Gestalten einen schmerzlichen Ausdruck an sich?' — ,Sie sind für mich viel weniger Schmerz als ernstes Nachdenken und zartes Mitgefühl.' — ,Ja, so ist I h r e Seele — mich sehen sie mit einem sdimerzverzerrten Antlitz an — geduldig leidend — , fast so, als ob sie midi anrufen wollten — und ich strecke meine Hände ans, um sie zu erreidien. Ich rufe sie im Traum an. Sie sind mehr für midi, als ich für sie bin. Icii bitte sie, mit mir zu sprechen, aber sie bleiben stumm und fliegen fort, und ziehen mich immer mit sidi.'" So sah also das Königreich aus, in dem die Seele Edgar Poes wohnte, in dem sich sein Herz versteckte; kein Klang aus der äußeren Welt konnte ihn ablenken. So sah das Reich aus, in dem — im Innern der Seele des Sohnes — ein schmerz- erfülltes, geduldig wartendes, für ewige Zeiten höchste Not erleidendes, aber auch „im Tode immer lebendiges Phantom" herrschte: die arme seil windsüchtige Elizabeth Arnold. Frau Smith hatte recht: Virginia war für Poe, soweit das bei einem Erdengeschöpf möglich war, die Lenore, d. h. in ihr war die geliebte Sterbende aus seiner ersten Kindheit wieder- erwacht. Um ihm zu gefallen, brauciite die etwas einfältige 14- ■ Das Leben Edgar Poes Virginia weder zu denken nodi zu sprechen. Sie mußte nur allmählich sterben. Frau Smith empfing alle vierzehn Tage am Sonntagabend, und bei einer dieser Gesellsdiaften erschien die arme Kranke, die selten ausging, zum letzten Male in der öfFentlidikeit. Sie trug ein rotes Kleid, das sie gemeinsam mit ihrer Mutter genäht hatte und das mit einer gelben Spitze geschmückt war, die ebenfalls zu Haus gehäkelt worden. Sie saß beim Feuer, war blaß wie immer, schwieg und lächelte sanft, als ihr Gatte wieder einmal den Raben vortrug. Frau Clemm ging niemals in Gesellschaft. Ob Poe zu dieser oder einer andern der „Sternschwestern" ging, Muddy blieb immer zu Hause, besdbäftigte sich in der Küche, nähte oder war sonstwie im Haushalt tätig. Die „Stern- schwestem" waren für sie nichts als nützliche Freundinnen, von denen man sich etwas Geld ausleihen konnte, wenn es in dem armen Haushalt gar zu knapp herging. Zur großen Verlegenheit Poes bekam sie das Geld immer wieder, und da er es nicht zurückgeben konnte, mußten die Rechnungen durch Loblieder aus seiner „unbestechlichen" Feder beglichen werden. Die „SternscJiwestern" kamen nach seiner Meinung viel zu häufig in sein Haus; sie wurden eben von der Neugierde hergetrieben, die sich um den Autor des Raben breitmachte, in seinen häuslichen Angelegenheiten herumschnüffelte, und von dem Skandal, der durch seine Neigung zu einer dieser Schwestern hervorgerufen wurde. Die Atmosphäre der Stadt war aber aucii für die Kranke wenig günstig. Daher übersiedelte Poe zu Beginn des Frühlings mit seiner Familie wieder, zu den Brennans in Bloomingdale Road, ein wenig später nach Turtle Bay, gegen Ende Mai schließlich nach Fordham in das Landhäuschen, das im Schatten eines großen Kirschbaums stand, in dem es von Geißblatt und Rosen duftete, und wo die arme Virginia sterben sollte. IN FORDHAM VOR DEM TOD DER VIRGINIA ANNABEL LEE Da Poe in diesem Frühjahr am Abend nicht immer nach Hause kommen konnte, verbrachte er häufig die Nadit in der Stadt. Das wird uns durch den einzigen Brief an seine Frau bewiesen, der uns erhalten geblieben ist: 12. Juni 1846. „Mein teures Herz, meine geliebte Virginia! Unsere Mutter wird Dir erklären, warum idi diese Nacht fern von Dir verbringe. Idi hoffe — aus Liebe zu Dir und zu ihr — , daß aus der Unterredung, die mir zugesagt worden ist, sida ein wesentlicher Vorteil für mich ergeben wird. Dein Herz sei noch ein wenig voll Hoffnung und Vertrauen. "Wegen meiner letzten Enttäusdiung hätte idi allen Mut verloren, wenn es nicht für Dich wäre, meine geliebte, angebetete kleine Frau. Du bist jetzt der e i n z i g e Mensdi, der midi aufmuntert, mit diesem sinnlosen, unbefriedigenden, undankbaren Leben zu kämpfen. Ich werde morgen . . . nachmittag bei Dir sein und sei versichert, daß Deine letzten Worte und Dein inniges Gebet meiner liebenden Erinnerung gegenwärtig sind, bis ich Didi wiedersehe! Sdilafe gut und Gott sdienke Dir einen friedlidien Sommer mit Deinem ergebenen Edgar."^22 122) Poe an Frau Poe, V. E., Bd. 17, S. 232. June 12, 1846. My dear heart — my dear Virginia _ Our mother will explain to you why I stay away from you this night. I trust the interview I am promised will result in some substantid good for me — for your dear sake and hers — keep up your heart in all hopefulness, and trust yet a little longer. On my last great disappointment I should have lost my courage 214 ■^"^ Leben Edgar Poes Man hat behauptet, Poe habe diesen Brief knapp vor einem Besudi bei Frau Osgood geschrieben. Hervey Allen glaubt das nicht.^^^ Der wesentliche Vorteil, der sich aus der Unterredung ergeben soll, deutet seiner Meinung nadi auf eine gesdiäflliche Aussprache hin. Das ist wohl möglidi. Aber wir erfahren durch Rosalie Poe, die damals in Fordham zu Besuch war, daß Frau Clemm Poe am nächsten Tage Geld sdiicken mußte, damit er nach Hause kommen könne, und daß er in einem fürchterlichen Zustand heimkehrte. Er hatte ge- trunken, man schimpfte mit ihm und brachte ihn zu Bett. Er delirierte die ganze Nacht hindurch, sdirie und verlangte dann Morphium. In jenen Tagen, in denen der Anblidk der sterbenden Vir- ginia das Herz des liebend an sie gefesselten Gatten in Trauer versetzte und zugleich die tiefen Versucäiungen seiner ver- drängten sadistisch-nekrophilen Sexualität weckte, muß er mehr als je der Versuchung zu einer „Flucht" ausgesetzt gewesen sein. Er floh zu Frau Osgood, und er floh in das Wirtshaus. Vielleicht hatte er am Abend vor jener tristen Heimkehr zu beiden seine Zuflucht genommen. Das Wirtshaus mit seinen Saufbriidem war jedoch das wirksamere Refugium; es bot Schutz gegen die Sterbende und gegen die Lebende, Schutz gegen die Frau im allgemeinen. So gab sidi Poe außer Haus wieder dem Trunk hin. Zu Hause aber, neben der sterbenden Virginia, verlangte er but for you — my litde darling -wife. You are my greatest and only Stimulus now, to battle with this uncongenial, unsatisfactory, and ungrateful life. I shall be with you to-morrow . . . P. M., and be assured until I See you I will keep in loving remembrance your last words, and your fervent prayer! Sleep well, and may God grant you a peaceful summer with your devoted Edgar. 123) Israfel, S. 700. -ra3 /« Fordham — Vor dem T od der Virginia 215 j Morphium, um die schrecklidie Nadibarsdiaft ertragen zu ' können. Rosalie, der wir den Bericht über diese traurige Episode ' verdanken, teilt uns jedoch mit, daß ihr Bruder in der Ver- zweiflung glücklicherweise auch zu der dritten der „Drogen" griff, an die er sich gewöhnt hatte: zur Tinte. Sie erinnert sich daran, daß er ihr in diesem Frühjahr in Fordham ein Gedicht vorgelesen habe, die spätere Annabel Lee. ANNABEL LEE. Ist ein Königreidi an des Meeres Strand, Da war es, da lebte sie — Lang, lang ist es her — und sie sei eudi genannt Mit dem Namen ANNABEL LEE. Und ihr Leben und Denken war ganz gebannt In Liebe — und mich liebte sie. In dem Königreidi an des Meeres Strand Ein Kind noch war idi und war sie, Doda wir liebten mit Liebe, die mehr war denn dies — Idi und meine ANNABEL LEE Mit Liebe, daß strahlende Seraphim Begehrten midi und sie. Und das war der Grund, daß vor Jahren und Jahr Eine Wolke Winde spie. Die frostig durchfuhren am Meeresstrand Meine sdiöne ANNABEL LEE; Und ihre hochedle Sippe kam. Und ach! man entführte mir sie. Um sie einzuschließen in Gruft und Grab, Meine sdiöne ANNABEL LEE. Die Engel, nidit halb so glücklidi wie wir, Waren neidisch auf mich und auf sie — Ja! das war der Grund (und alle im Land Sie wissen, vergessen es nie) Daß der Nachtwind so rauh aus der Wolke fuhr Und mordete ANNABEL LEE. / Ili 2i6 Das Leben Edgar Poes llü Weit stärker dodi war unsre Liebe als die All derer, die älter als wir — Und mancher, die weiser als wir — Und die Engel in Höhen vermögen es nie Und die Teufel in Tiefen nie, Nie können sie trennen die Seelen von mir Und der schönen ANNABEL LEE. Kein Mondenlicht blinkt, das nicht Träume mir bringt Von der sdiönen ANNABEL LEE, Jedes Sternlein, das steigt, hell die Augen mir zeigt Meiner sdiönen ANNABEL LEE; Und so jede Nacht lieg zur Seite ich sacht Meinem Lieb, meinem Leben in bräutlicher Pradit: Im Grabe, da küsse idi sie Im Grabe, da küsse ich sie."* 124) Annabel Lee, New York Tribüne, 9. Oktober 1849; Southern Liter ary Messenger, November 1849; Sartain's Union Magazine, Januar 1850: (Siehe V. E., Bd. 7, S. 218.) Der zitierte Text (aus dem Jahre 1849, New York Tribüne, V. E., Bd. 7, S. 117 ff.): ANNABEL LEE. It was many and many a year ago, In a kingdom by the sea That a maiden there lived whom you may know By the name of ANNABEL LEE; And this maiden she lived with no other thought Than to love and be loved by me. I was a diild and she was a diild. In this kingdom by the sea, But we loved with a love that was more than love — I and my ANNABEL LEE — With a love that the winged seraphs of heaven Coveted her and me. And this was the reason that, long ago. In this kingdom by the sea, A wind blew out of a cloud, chilling My beautiful ANNABEL LEE; So that her highborn kinsmen came And bore her away from me. ^ ■5 ^ 1 n ^ m < Z z < D < P-1 w C/5 < U-i -O O O Z In Fordham — Vor dem Tod der Virginia iiy Wir wissen nidit, worin sidi das Gedidit, das 1846 Rosalie vorgelesen wurde, von der Fassung unterschied, die wir zitieren und die erst 1849 nadi dem Tode des Diditers ersdiien, obwohl Poe, weldier der Frau S. A. Weiß die Annabel Lee im Jahre 1849 zeigte, ihr erklärt hatte, es sei lange vor dem Tode seiner Frau geschrieben worden.^^° Poe wollte in dem Gespräch mit Frau Weiß durch dieses Datum beweisen, daß sich das Gedicht nicht auf Virginia beziehe. Wir sind aber einer Meinung mit der Mehrzahl seiner Biographen, wenn wir ihm in diesem Punkt widersprechen. Schon das Faktum, daß etwas so Evidentes energisch ab- geleugnet wird, müßte unser analytisches Mißtrauen wecken To shut her up in a sepuldire In this kingdom by the sea. The angels, not half so happy in heaven, Went envying her and me — Yes! — that was the reason (as all men know. In this kingdom by the sea) That the wind came out of the cloud by night, Chilling and killing my ANNABEL LEE. But cur love it was strenger by far than the love Of those who were older than we — Of many far wiser than we — And neither the angels in heaven above, Nor the demons down under the sea, Can ever dissever my soul from the soul Of the beautiful ANNABEL LEE: Per the moon never beams, without bringing me dreams Of the beautiful ANNABEL LEE; And the stars never rise, but I feel the bright eyes Of the beautiful ANNABEL LEE: And so, sll the night-tide, I lie down by the side Of my darling — my darling — my life and my bride. In the sepuldire there by the sea — In her tomb by the sounding sea. 125) V.E., Bd. 7, S.219. i 2i8 Das Leben Edgar Poes und uns vermuten lassen, die Tatsache, er sei von der ster- benden Virginia zu seinem Gedicht inspiriert worden, verdecke bei Poe etwas anderes, etwas besonders Verdrängtes und Wichtiges. Annabel Lee wurde von Virginia direkt inspiriert, ob er es nun leugnet oder nicht, ob er es gewußt hat oder nidit. Sie mußte zu soldiem Zweck nicht tot gewesen sein, es genügte, daß sie im Sterben lag. Alle anderen Frauen, die später behauptet haben, Poe sei durch sie zur Annabel Lee angeregt worden, täuschen sich. Aber der unmittelbar bevorstehende Tod seiner Frau war auch nur die gelegentliche Ursache für dieses Gedidit. Die tiefere Ursadie, die causa prima, die durch den Tod der Virginia nur wieder aktiviert wurde, lag viel weiter zurück in der Vergangenheit Edgars. Im übrigen findet man beide Ursachen, die vergangene und die gegenwärtige, in Annabel Lee wieder: „Ein Kind noch warich und war si e." Virginia blieb ihr ganzes kurzes Leben hindurdi neben dem großen Gatten ein Kind. Aber auch er war ein ganz kleines Kind, als er, „1 a n g, 1 a n g ist es her" — und damit wird auf seine Kindheit an- gespielt — in einem „Königreich an des Meeres Strand" seine zarte und hübsdie Mutter innigst geliebt hatte. Die Stadt New York, in die er als sechs Monate altes Kind gekommen und aus der er im Alter von eineinhalb Jahren wieder fortgereist war, die Stadt Norfolk, in der seine von David Poe verlassene Mutter Rösalie zur Welt gebracht, als er nodi nicht das Alter von zwei Jahren erreicht hatte, und die Stadt Charleston schließlich, in der die kranke Schauspielerin mit ihren beiden jüngsten Kindern^^" im Frühling 1811 einige Monate verbracäite und in der Edgar zweieinhalb Jahre alt wurde: das waren lauter Städte jenes großen „König- 126) Erinnern wir uns daran, daß William Henry bei den Groß- eltern, die ihn erzogen haben, in Baltimore geblieben war. In Fordham — Vor dem Tod der Virginia, 219 reichs an des Meeres Stran d", in dem der kleine Junge beim Rausdien der Wogen des Atlantisdien Ozeans seine erste und endgültige Liebe geliebt hatte, und in dem er von ihr geliebt worden war. Denn dort war Edgar zu seiner angebeteten Mutter mit jener ursprünglichen Leidensdiaft entbrannt, die der Er- wachsene, da er die Erinnerung an sie verdrängt hat, nicht wahr haben will und die trotzdem Tatsache gewesen ist: „Dodi wir liebten mit Liebe, die mehr war denn dies — Ich und meine ANNABEL LEE." Sdhon der Name Annabel Lee verdient eine Untersudiung. Die verschiedenen seltsamen Namen, die im "Werk Poes zu finden sind, werden uns jedoch ihr Geheimnis nidit herausgeben können, und zwar deshalb, weil ihr Autor nicht mehr da ist, um die ihm eigenen Ideenassoziationen zu liefern, die allein ihren Sinn aufschließen. Bei dem Namen Annabel Lee wagen wir trotzdem eine hypothetische Deutung. Er erinnert durch die Zahl seiner Silben und von ungefähr auch durch die Konsonanz an Elizabeth. Das Lee (im Englischen L i aus- gesprochen) ist dabei an das Ende des "Wortes gerückt worden, wie in jenen Akrostichen, an denen sich Poe gern versuchte. Man könnte sich allerdings auch auf den Eindruck berufen, den ein Gedicht des Philip Pendieton Cooke, die Rosalie Lee, das Poe in seinem Briefwechsel erwähnt,^^^ auf ihn gemacht zu haben scheint. Aber wenn Poe diesem Einfluß unterlegen ist, so hat auch dies seinen Grund nur darin, daß er auf ihn vor- bereitet, für ihn empfänglich war: die Silben „Rosalie Lee" weckten in seinem Unbewußten zugleich eine verschwommene Erinnerung an seine Schwester, an seine Mutter und an Vir- ginia, die eine Verdichtung jener beiden war. 127) Poe an Cooke, 9. August 1846 (V. E., Bd. 17, S. 268). Siehe auch Cooke an Poe, 4. August 1 846 (V. E., Bd. 17, S. 264). Das Leben Edgar Poes Annie belle engl, a sa (für£) beth Anna bei (Das n aus Annie + a aus Elizabeth) Vielleidit entschied nodi ein dritter, aktueller Umstand, daß dieser seltsame und harmonische Name gewählt wurde: der Dichter traf eine Annie,^^" Frau Richmond, von der später die Rede sein wird. Man könnte nun die Verdichtung der drei Namen in einen einzigen folgendermaßen graphisch deutlidi machen: belle Li (Elizabeth als Akrostichon) lie (zwei Silben von Rosalie) Lee (das im Englischen Li ausge- sprochen wird). (Das i gleitet an das Ende durch den Druds, den das a von Anna ausübt und der es aus der zweiten Silbe ver- jagt, während das / von belle es, in einer Analogiebildung zu Rosalie, an das Ende zieht.) Die Leser, die den Mechanismus der "Wortassoziationen, wie er im Unbewußten wirkt, nicht kennen, werden wohl finden, daß diese Deduktionen bei den Haaren herbeigezogen sind. Wer aber den Wert der rein verbalen Assoziationen im Traum, im Delirium oder im Denken des Kindes erfaßt hat, wird uns leicht verstehen. Durch das ganze Gedicht von derAnnabelLee rauschen übrigens die Stürme, die aus der fernen Kindheit des Dichters kommen. Die geflügelten Himmelsgestalten sind auf die Liebe des Kindes eifersüchtig. Dies ist der Grund dafür, „. . . daß vor Jahren und Jahr Eine Wolke Winde spie, Die frostig durchfuhren am Meeres Strand Meine sdiöne ANNABEL LEE; 128) Auch die Erinnerung an die „Tante Nancy", die ebenfalls Anne hieß, darf hier nicht übersehen werden; sie konnte es Poe möglich gemadit haben, den Namen Annabel Lee zu finden, nodi bevor er Frau Richmond kennenlernte. In Fordham — Vor dem Tod der Virginia Und ihre hodiedle Sippe kam, Und adi! man entführte mir sie, Um sie einzuschließen in Gruft und Grab, Meine schöne ANNABEL LEE!" Hat sich nun nidit das gleiche in Poes Kindheit ereignet? Selbst die volkstümliche Auffassung jener Zeit, daß die Tuberkulose durch die Kälte hervorgerufen werde, finden wir hier wiedergegeben, man hört auch den Schritt der Männer, die den Sarg der Elizabeth Arnold aus dem armseligen Zimmer bei Frau Phillips abholen kamen. Allerdings sind sie in eine hochedle Sippe verwandelt. Und bei diesen highborn kinsmen wollen wir einen Augenblidc verweilen. Auch die Schlafende in einem älteren Gedichte stammte aus einem erhabenen Hause, und über der Gruft triumphierte ein Wappenflor. Wir sahen in dieser Schilderung die natürliche Reaktion des Sohnes umher- ziehender Schauspieler auf seinen gedemütigten Stolz; er war aus Mitleid aufgezogen worden, man warf ihm das vor, obwohl er sich schließlich auf seinen Großvater, einen Helden der amerikanischen Unabhängigkeit, etwas einbilden konnte. Diese highborn kinsmen aber, diese hochedle Sipp e"" der A n n a b e 1 Lee, verraten uns mehr über ihren Ursprung. Sie scheinen der „Plural der Majestät" emer einzigen Gestalt zu sein: der imponierenden Gestalt des Vaters, d. h. des 129) „Highborn kinsmen" steht im Plural in der Fassung der New York Tribüne vom 9. Oktober 1849, im Southern Literary Messenger vom November 1849 und in dem Manuskript Griswolds, das von der Hand Poes stammt. Die Fassung in Sartain's Union Magazine vom Januar i8jo bringt „highborn kinsman", den Sin- gular, und Sartain begleitet die Veröffentlichung des Gedichtes mit einer Notiz, in der er erklärt, das Manuskript, das er publiziere, sei ihm von Poe selbst übergeben worden und enthalte verschiedene Varianten gegenüber dem Text, der in der New York Tribüne erschienen war. Die Variante „kinsman" (wenn sie, was man annehmen darf, authentisch ist) könnte unsere Behauptung nur stützen. Das Leben Edgar Poes Mensdien, der im Ödipuskomplex des kleinen Jungen dem Kind die Mutter streitig macht und wegnimmt. Aber der „Vater", dessen imposante Figur sidi im Un- bewußten vervielfältigt, um außer dem Pluralis majestatis einer hochedlen Sippe auch noch die Engel in Höhen und die Teufel in Tiefen zu werden, dieser Vater ist trotz seiner Majestät, die sich in die Unendlichkeit aller Räume ergießt, außerstande, die Seele des Kindes, „die Seelen von mir und der schönen Ahnabel L e e", zu trennen. Denn „Weit stärker dodi war unsere Liebe als die All derer, die älter als wir — Und mancher, die weiser als wir — "; so triumphiert das Kind, stolz auf eine unendliche Liebe zur geliebten Mutter, über den Vater, der im Fall Edgar tatsächlich weggeräumt wurde, als das Kind einundeinhalbes Jahr alt war. In solch frühem Alter eroberte Poe für sich allein seine Mutter (auch der ältere Bruder war versdieucht worden, indem man ihn den Großeltern in Baltimore anvertraute), und bis zur Geburt der Schwester Rosalie, die ungefähr sechs Monate später zur "Welt kam, besaß er seine Mutter allein. Dieser Triumph des Kindes sollte wie ein Zeichen über seinem ganzen Leben herrschen. War nun ein anderer Mann als David Poe der Vater Rosaliens? Allan bejahte diese Frage, auch andere waren seiner Meinung, aber nur das mysteriöse Päckchen von Briefen, das Elizabeth Arnold ihren Kindern hinterlassen hatte, das Allan in den Händen gehabt, und das bald nach dem Tode Edgars auf seinen Wunsch hin von Frau Clemm verbrannt wurde, hätte uns die Lösung dieses Problems möglich gemacht. Hervey Allen tritt für die Tugend der Elizabeth Arnold ein — aller- dings ohne seine Meinung zu begründen.^^" Ich bin weniger 130) Israfel, S. 14/15. In Fordham — Vor dem Tod der Virginia 223 überzeugt als er, und meine, die Hypothese, daß noch ein zweiter Mann in der Kindheit Poes eine Vaterrolle spielte, sei nicht ohneweiters abzuweisen. Dieser zweite Mann, wenn er existierte, muß dabei keines- wegs mit Elizabeth Poe im gleichen Haushalt gelebt haben, selbst nach dem „Verschwinden" ihres Gatten (18 10) nidit; das Leben einer Schauspielerin spielt sidi so sehr in der öffentlidi- keit ab, daß uns irgend jemand gewiß von dem Aufenthalt eines Mannes bei ihr berichtet hätte. Der Platz des Vaters war daher nach dem Juli 18 10 wahrscheinlidi leer geblieben, und der kleine Edgar konnte wenigstens einige Monate hin- durch — bis zur Geburt Rosaliens — den Triumph erleben, allein neben seiner geliebten Mutter zu leben und zu schlafen. „Und so jede Nadit lieg' zur Seite idi sacht Meinem Lieb . . ." Aber ein vollkommenes Liebesglück ist ein Unglüds für das Kind, da seine schmiegsame Natur für immer den Eindruck der ersten Impressionen aufbewahrt. So entstehen im Unbewußten die „Fixierungen". Und so empfing und behielt das Liebesglück des Dichters die Poeschen Züge, und das waren die gleichen, die er an seiner geliebten Mutter entdecken konnte, an einer Frau, die zart, hübsch, krank, schwindsüchtig, mager, abgezehrt und bleicii war, Blut spudkte, und bald kalt, bleich und tot daliegen sollte. Die in der Kunst sublimierte Nekrophilie Edgar Poes ist vielleicht — wie das zweifellos bei andern Nekrophilen, deren Analyse zu versuchen wäre, der Fall ist — der stärkste Ausdruck seiner treuen Anhängliclikeit an eine Kindheitsliebe. Darum blinkt kein Mondlicht (Mond = Muttersymbol), , das nidit Träume mir bringt Von der sdiönen ANNABEL LEE, Jedes Sternlein, das steigt, hell die Augen mir zeigt Meiner sdiönen ANNABEL LEE." 224 Das Leben Edgar Poes Diese Augen — es sind gewiß die gleichen, die Poe im Traum erschienen sind und ihn zur L i g e i a begeistert haben^^^ — blicken uns auch seltsam und lange aus der Miniatur der Elizabeth Arnold an und machten Edgar, ihren Anbeter, beinahe zu einem Augenfetischisten. Das Gedicht schließt mit einer wahrhaft nekrophilen Liebesphantasie: „Und so jede Nacht lieg' zur Seite ich sadit Meinem Lieb, meinem Leben in bräutlicher Pracht: Im Grabe, da küsse ich sie — Im Grabe, da küsse ich sie." So muß der dreijährige Junge leidenschaftlich gewünscht haben, seiner toten Mutter zu folgen, die für ihn nur auf seltsame Weise eingeschlafen war, als man sie forttrug, und so mußte er wünschen, weiter neben ihr schlafen zu dürfen. Der Gatte der Virginia erlebte daher am Lager der kleinen, armen Sterbenden jene verschwundenen Zeiten wieder und fühlte, wie er von den gleichen Todesphantasien von neuem mitgerissen wurde. "Wir haben somit den Wiederholungszwang vor uns, der unser Leben beherrscht. Und Annabel Lee war eine Jungfrau wie Virginia — im Unbewußten hat das Kind dies sehr oft von seiner Mutter verlangt, damit sie ihm allein gehöre — eine Jungfrau, die im Sterben lag. Dabei hörte man das Rauschen des Meeres, des Meers, das für Edgar eine reale Kindheitserinnerung war, des Meers, das für alle Menschen 131) Lauvri^re {Edgar Poe, sa vie et son ceuvre, 1904, S. 527, Fußnote 3) zitiert Ingram: „Poe gesteht übrigens in einer handsdiriftlidien Bemerkung, die sich auf dem Exemplar befindet, das Ingram besitzt, ein, die Ligeia sei ihm in einem Traum ein- gegeben worden, in dem die Augen der Heldin auf ihn den im vierten Teil des Werkes beschriebenen intensiven Eindruck machten."' Die Stelle, auf die Lauvri^re anspielt, befindet sich bei John H. Ingram, Edgar Allan Poe, His Life, Letters and Opinions, London 1886, W.H.Alien and Co., Neue Aasgabe, S. 126. FRANCES SARGENT OSGOOD (Nach einem Stich) In Fordham — Vor dem Tod der Virginia 225 aller Zeiten ein allgemein gültiges und phylogenetisches Symbol für die „Mutter" ist. Ich neige zur Annahme, daß Poe in Fordham neben der sterbenden Virginia häufig zum Opium seine Zuflucht nahm, um die Gegenwart ertragen und zu gleicher Zeit in das ver- gangene Paradies fliehen zu können, in das Paradies, das von j der Gegenwart nur allzu vollkommen reproduziert wurde, wenn wir die Tatsachen betrachten, höchst unvollkommen aber, I sofern es sich um das Glück handelte. Das Opium erzwingt eine wollustvolle Unbeweglichkeit und fördert die nekrophilen Phantasien, denen der Dichter sich gerne hingab: so lag er ausgestreckt neben den geliebten [Leidinamen seiner vielen Annabel Lees. Es ist überaus interessant, die Annabel Lee mit dem R a b e n zu vergleidien. Auch der Held des R a b e n ist ein Liebhaber in Trauer. Aber dieser Held kann nicht, wie der Liebhaber der Annabel Lee, triumphieren, ihm hat das Sdiicksal seine Lenore genommen, und unaufhörlich wiederholt der Rabe, daß er sie „nimmermehr" wiederfinden werde. Der Rabe ist das „trostloseste" Gedidit Poes. Aber wer ist dieser Rabe? Idi konnte das Rätsel lange nicht lösen. Erst durch die Analyse der Annabel Lee bin ich daraufgekommen: er ist mit der hochedlen Sippe identisch, die den Dichter von Annabel Lee trennt. Er ist wie sie ein Bild für den Vater aus der ödipuseinstellung, ein Symbol für den Vater, der sich zwischen die Mutter und das Kind drängt. Und er ist alt wie die Inkarnation Allans in dem Gedicht Die Wissenschaft, die alte Zeit, Vater der Wissenschaft; er hockt sogar auf einer Büste der vernünftigen Pallas, der „Weisheit". Von hier wirft er den Schatten auf die Erde, aus dem sich die Seele des Dichters „nimmermehr" er- heben wird. Bonaparte: Edgar Poe. I. ^5 xx6 Das Leben Edgar Poes Mit der Niederlage des Dichters schließt das Gedicht. Der Sohn ist für immer besiegt. Und diese Niederlage ist eine reale gewesen; von dem Schatten des Raben, von diesem Schatten, in dem die Erinnerung an Lenore haust, sollte er sich tatsächlidi nie mehr losmachen können. Annabel Lee sagt das gleiche auf eine andere, diesmal auf eine triumphierende 'Weise: während nämlidi Lenorens Liebhaber nur die ewige Trauer besingt, die ihn an eine für ihn ewigverlorene Tote bindet, ist er hier mit der gleichen Toten vereinigt: weder die hohe Sippschaft nodi die Engel oder die Teufel können die Seele des Dichters und der Annabel Lee entzweien, sie können ihn nidit von ihrem Körper wegreißen, neben dem er im Grabe beim Meere ruht. Annabel Lee ist gleidisam die Reaktion auf die Ver- zweiflung, die aus dem Raben spricht: Poe besiegt hier das Schicksal. Er leugnet hier in der Phantasie die Realität des "Verlustes: das „Lustprinzip", wie wir sagen würden, triumphiert. Annabel Lee ist eben ein Gedicht, das unmittelbar aus dem Unbewußten Poes hervorbridit — und im Unbe- wußten herrsdit das Lustprinzip. "Wenn wir audi den Behaup- tungen Poes in seiner Philosophie der Komposi- tion nicht folgen wollen, in der er verkündet, er habe jeden seiner Rhythmen, Gedanken, Effekte, jedes seiner "Worte im Raben gewollt — auch das Thema der beweinten Ge- liebten, das er doch gewiß nicht „frei" hat „wählen" können, eine Tatsache, die durch sein ganzes "Werk bewiesen wird — , so ist doch sicher, daß der Rabe unter allen Gedichten Poes das am stärksten konstruierte ist. Er ist gewollter, theatralischer als beispielsweise dieAnnabelLee, Ulalume oder Für A n n i e, die drei großen Gedichte, die er am Ende seines Lebens schrieb, es fehlt ihm daher ihre "Wärme; idh würde den Raben, der wegen seines packenden Rhythmus berühmt ist, trotzdem für eines dieser drei Gedichte hergeben. In Fordham — Vo r dem Tod der Virginia 227 Poe arbeitete in Fordham wenig. Am 15. Dezember 1846 ^schrieb er an Chivers: „Seit mehr als sechs Monaten bin ich krank, die längste Zeit hin- F durch sogar gefährlich krank, und ganz unfähig, auch nur einen gewöhnlichen Brief zu schreiben. Die Artikel, die um diese Zeit von mir in den Magazinen erschienen sind, waren bei den Herausgebern nodi bevor ich krank wurde. Seit es mir besser geht, bin ich — selbst- verständlich — von der Arbeit erdrückt, die sich während meiner I Krankheit angehäuft hat."^'' Die Artikel, auf die Poe hier anspielt, waren die Literati, [jene Reihe kritischer Studien über die Schriftsteller von New [York, die im Juni 1846 in Godey's Lady's Book zu er- sdieinen begonnen hatten. Ein Teil dieser Studien sollte zu einem Band zusammengeschlossen werden, den Poe seit Monaten vorbereitete, ohne ihn abschließen zu können, und den er bald The American Parnassus, bald Literary America nennen wollte. Die Literati Poes aus dem Jahr 1846 waren viel oberflädilicher und eiliger niedergeschrieben als die früheren kritischen Arbeiten des Diciiters, die Frauen wurden hier noch viel nach- sichtiger als bisher behandelt, es wurde ihnen noch mehr Weih- raucäi als früher gestreut, gegen manche Männer hingegen war er schärfer und beleidigender als je. Und diese Aufsätze ver- raten, obwohl sich auch in ihnen sein großes Talent und die Leichtigkeit, eine Gestalt zu umreißen, zeigt, in welch wirrem Geisteszustand sidi ihr Autor befand. Neben richtigen Ein- schätzungen, die von dem unbeirrbaren, ästhetischen Feingefühl Poes diktiert wurden (darunter vernichtende, von der Nach- 132) Poe an — , V. E., Bd. 17, S. 269. Hervey Allen behauptet, dieser Brief sei an Chivers geriditet (Israfel, S.721). „For more than six months I have been ill — for the greater part of that time, dangerously so, and quite unable to write even an ordinary letter. My magazine papers appearing in this interval were all in the publisher's hands before I was taken sick. Since getting better, I have been, as a matter of course, overwhelmed with the business accumulating during my illness." Das Leben Edgar Poes weit bestätigte Urteile über angemaßte Größen), finden wir eine Flut beleidigender Äußerungen und Meinungen, die nur aus einem persönlidien Ärger des Kritikers und aus dem wachsenden Verfolgungswahn stammen konnten. Briggs zum Beispiel, der Gründer des eingegangenen Broadway Journal, hieß The brandy nosed Mr. Briggs, der Briggs mit der Schnaps- nase; Clark, der Direktor des sehr lebendig geleiteten Knicker- bocker, der gleiche Clark, den Poe einmal im Rausdi in den Straßen New Yorks angepöbelt und bedroht hatte, wird ver- höhnt und „Riesenkürbis" genannt; Thomas Dünn English schließlidi, ein alter Intimus Poes, den er in Philadelphia kennengelernt und in dessen Büro (English teilte es mit Lane) das Broadway Journal ein letztes Asyl gefunden hatte, dieser Thomas Dünn English also wurde durch den Spitznamen „Thomas Done Brown" der Lädherlichkeit preisgegeben.^^" Poe madite sich auf eine redit lahme Weise — er hatte eben keinen Witz — über den Schnurrbart seines Opfers lustig und beschimpfte English als einen ungebildeten Menschen, einen Esel und Windbeutel. Auf einen soldien Ton war Poe unter dem Einfluß der wachsenden paranoiden Ideen herunter- gekommen. Allerdings erzählt uns Lane, der in den letzten Tagen des Broadway Journal mit English wohnte, daß English einen besonderen Spaß daran fand, den betrunkenen Poe in Wut zu bringen, indem er sidi über ihn lustig madite. Nun hatte Poe kein Verständnis für Ironie und sdion gewiß keines, wenn er unter dem Einfluß des Alkohols stand. Einmal, als er wieder betrunken war, hieben die beiden sogar aufeinander los. Und außerdem verfügte English über mehr als eine verwundbare Stelle: er wurde einmal sogar, wie es scheint, von Hirst „ver- 133) Thomas Done Brown =; Thomas madit braun, d.h. Thomas ist betrogen, überlistet worden. /» Fordham — Vor dem T od der Virginia 229 hauen" und steckte die Sache ruhig ein. English war eben kein Gentleman. Poe hingegen durfte sich also nicht wundern, daß jer Antworten von solcher Qualität bekam, wenn er sich zu feiner derartigen Polemik herbeiließ. In diese Zeit, zu Beginn des Aufenthalts in Fordham, fällt laudi das Ende seiner Liebe zu Frances Osgood. Zwischen diesen beiden „Dichtern" war eine Menge herz- licher Briefe gewechselt worden. Poe hatte jedoch die üble Gewohnheit, seine Briefe herumliegen zu lassen, er versteckte sie auch nicht vor den Nachforschungen seiner Schwiegermutter. Und Muddy las sie, was schließlich noch anging. Nun hörten aber die Besuche der „Sternschwestern" trotz der Entfernung nicht einmal in Fordham auf, es kamen Frau Lewis, die sich mit dem Namen Estelle schmückte, Frau Oakes Smith, Frau Gove Nichols und andere. Und an einem Junitag erschien auch Frau Eilet, die prüdeste und tratschsüchtigste Person des Bundes. Frau Clemm war über diese Besuche sehr glücklich, da sie in die Einförmigkeit ihrer traurigen und einsamen Existenz Leben brachten. Es war daher für Frau Eilet ein leichtes, sie zum Sprechen zu bringen. Und Muddy, die trotz all ihrer Güte borniert und manchmal sogar taktlos war, beging den Fehler, Frau Eilet einige Briefe der Frau Osgood vorzulesen. Ein Sturm des Unwillens brach im Bund der „Stern- sdiwestern", die sofort Bericht erhielten, los. Was? Die Ehre einer der Schwestern war so gefährdet?! Frau Osgood bekam es mit der Angst zu tun, man sagt, sie sei durch den Skandal eingeschüchtert worden und habe schon damals den Verkehr mit Poe eingestellt. Jedenfalls hörte er damals auf. Und eine von Frau Eilet geführte Abordnung der „Sternschwestern" wurde von Frau Osgood zu dem Zweck nach Fordham geschickt, ihre Briefe zurückzufordern. Poe empfing die Abordnung. Er war — wie man verstehen 23° Das Lehen Edgar Poes wird — sehr übler Laune, übergab den „Sternsdiwestern" sofort die verlangten Briefe und machte Frau Eilet gegenüber die Bemerkung, sie hätte sich ebensogut auch um die Briefe kümmern können, die er noch von i h r besitze. Kaum war die Abordnung fort, als Poe seine so wenig ritterliche Andeutung bedauerte, die Briefe der Frau Eilet zusammenband und selbst bei ihr abgab. Aber die verärgerte Frau Eilet leugnete, sie zurückbekommen zu haben, und Lummis, ein Bruder der Frau Eilet, erschien wütend auf der Szene, beschuldigte Poe, die Sdiwester verleumdet zu haben und verlangte die Briefe zurück. Man glaubte Edgar nicht, als er behauptete, er habe die Briefe bereits abgegeben, und Lummis rannte von einem Ende der Stadt zum andern und erklärte, er werde Poe töten oder zum Duell herausfordern. Da machte Poe einen unerwarteten Schritt: er ging zu Thomas Dünn English und bat ihn, sein Zeuge zu sein. Er wendete sich, wie man sieht, in einer Ehrensacäie an den gleichen English, den er in den „Literati" durch den Namen „Thomas Done Brown" besdiimpft und lächerlich gemacht, an den English, dem er Geld schuldig war und mit dem er sich im vergangenen Januar im Rausch herumgeschlagen hatte! Ganz ebenso sollte Poe später seinen allerschlimmsten Feind, Griswold, zum Testamentsvollstrecker ernennen. English erzählt uns nun, daß Edgar bei ihm erscliienen sei, ihn um Verzeihung gebeten und sidi entschuldigt habe, und daß er ihm dann mitteilte, er müsse ihn um einen Dienst bitten. English nahm die Entschuldigung an, aber nicht die Hand, die Edgar ihm hinstreckte. Er weigerte sidi, sein Zeuge zu sein und ihm eine Pistole zu leihen. Poe soll nun wütend geworden und auf ihn losgegangen sein; da habe er ihn hinausgeworfen. Tatsache ist, daß auf alle diese Ereignisse nur ein „Krieg der Literati" folgte. Vielleidit waren die Briefe aufgefunden worden; jedenfalls aber hatte Poe, der neuerdings erkrankt In Fordham — Vor dem Tod der Virginia 231 war, vom Bett aus an Lummis ein Entsdiuldigungssdireiben geschickt, das Dr. Francis, der beste Zeuge für seinen Zu- stand, überbradite. Lummis erklärte sich mit dieser Erledi- gung der Angelegenheit einverstanden. Aber Herr English war es nicht, und am 23. Juni ersdiien im New York Mirror die Replik des Herrn English an Herrn Poe, eine wutspeiende Schmähsdirift. In ihr wird der letzte „Besudi" Poes bei English in allen seinen Einzelheiten vorgeführt und die Behandlung geschildert, die English dem „gemeinen Feigling" Poe hatte angedeihen lassen. Damit war die Trunksucht Poes vor aller Öffentlichkeit festgestellt. Außerdem beschuldigte English Poe der Urkundenfälsdiung; davon wisse er von einem Kaufmann aus der Stadt. Poe antwortete am 10. Juli im Spirit of the Times von Philadelphia. Der ganze Artikel sdieint von einem Tobsüch- tigen gesdirieben zu sein. Poe gestand darin seine Schwäche für den Alkohol ein und betonte, daß er sie bedauere. Aber er lehnte sich auf das heftigste und mit Redit gegen den Vor- wurf auf, er sei ein Fälscher. Ein Jahr vorher hatte er von dem Kaufmann, von dem die Verleumdung ausgegangen war, einen Brief erhalten, in dem dieser alle Beschuldigungen wider- rief; den veröffentlichte er nun. Es scheint aber, daß auch English schon damals von dem Brief Kenntnis gehabt hatte; und da er seine Beschuldigungen nicht zurückzog, drohte Poe mit dem Gericht. English „erwiderte" noch einmal am 13. Juli im Mirror. Die Folge davon war der Verleumdungsprozeß, den Poe am 22. Februar des folgenden Jahres gewann; English wurde zu zweihundertfünfundzwanzig Dollar Schadenersatz und zum Tragen der Prozeßkosten verurteilt. Im Sommer 1846 jedoch waren die Dollar des English nodi nicht in Poes Händen, und seine Artikel über die „Literati" hatten ihm nur wenig eingetragen; darum spricht er am 2 32 Dai Leben Edgar Poes 22. Juli in einem Brief an Chivers von seiner furchtbaren Armut {dreadful poverty). Und nun sdirieb er fast gar nidits mehr; in der Philo- sophie der Komposition, die im vergangenen April erschienen war, behauptete er zwar, daß er seine sdiöpferisdie Fähigkeit vollständig beherrsche. Das war aber viel eher ein verzweifeltes Leugnen des „Wahnsinns", dessen unmittelbaren Ausbruch er fürchtete, als der Ausdruck der Wahrheit. Auch Poe schrieb nur das, was sein Unbewußtes ihm diktierte und er gleicht darin allen Schriftstellern. Die „sekun- däre Bearbeitung" durch das Bewußte und Vorbewußte mochte bei ihm noch so stark tätig sein (ihr verdankt er zum Beispiel die immer vollkommenere Form seiner Gedichte), nie konnte die Vernunft eine etwa ausbleibende Inspiration ersetzen. Über sein Leben in Fordham erfahren wir durch Frau Gove Nichols, die ihn vermutlich im Sommer 1846 besuchte: „Bei dieser Gelegenheit wurde ich der jungen Frau des Dichters und ihrer Mutter vorgestellt . . . Diese war eine große, würdevolle, alte Dame mit sehr vornehmen Manieren, und ihr schwarzes Kleid machte, obgleich es abgetragen war, einen eleganten Eindruck. Sie trug ein Witwenhäubdien von klassisch gewordenem Modell, das entzückend zu den schneeweißen Haaren paßte. Ihre Züge waren groß und harmonierten mit ihrer Gestalt; es war überaus seltsam, daß eine so starke und königliche Frau die Mutter eines so kleinen Mädchens sein sollte. Frau Poe sah sehr jung aus; sie hatte große schwarze Augen, einen perlweißen Teint, der ganz außergewöhnlich bleich war. Das blasse Gesicht, die leuchtenden Augen, die raben- schwarzen Haare verliehen ihr ein überirdisches Aussehen. Man fühlte, daß sie ein beinahe körperloser Geist war, und wenn man sie husten hörte, war man sicher, sie müsse bald sterben. Die Mutter sah kräftig und gesund aus und schien eine Art Schutzengel ihrer seltsamen Kinder zu sein. Das Landhaus hatte etwas Vornehmes an sich, was wahrschein- lich von den Bewohnern herkam. Ich habe nirgends eine sauberere, armseligere, leerere und doch so reizende Wohnung gesehen als hier. Der Fußboden der Küche war blitzblank, ein Tisch, ein Stuhl 2 0) < 1-J X C/^ Q O p-i W g m öß < 3 C d: :6 Q OJ ;z; N < 1) fJ _c "S CO < -s Q cd In Fordham — Vor dem Tod der Virginia 233 und der kleine Ofen waren alles, was darin stand. Im Salon lagen geflochtene Matten, vier Stühle standen um den Tisch, den ' man herumschieben konnte, dann gab es eine Etagere mit Büchern . . . Poe war damals sehr deprimiert, und das hatte seine Ursache in der f ürditerlidien Armut, in der er lebte, in der Krankheit seiner Frau und in seiner Unfähigkeit, genügend schreiben zu können, ijf'ir blieben eine halbe Stunde im Haus, dann kamen einige Leute, unter ihnen einige Damen, und nun brachen wir gemeinsam zu einem Spaziergang auf. Wir flanierten durch den Wald, waren sehr fröhlich, als irgend jemand ein Wettspringen vorschlug. Ich glaube, Poe selber war es, 1 der diesen Vorschlag machte, denn er war bei dieser Übung über- aus geschickt. Zwei oder drei Herren unter uns wollten ebenfalls [springen, aber obwohl einer von ihnen sehr groß und früher Jäger Igewesen, sprang Poe weiter als sie alle. Aber ach! die alten Igditew,"' die nur deshalb noch existierten, weil man sehr vor- sichtig mit ihnen umging, rissen bei einem der Sprünge, bei denen er siegte ... Ich war dessen sicher, daß er keine anderen Schuhe hatte, auch keine andern Stiefel oder gaiters, aber Wer von uns hätte es in diesem Augenblick wagen dürfen, ihm Geld anzu- bieten, damit . er sich neue kaufe? . . . Als wir bei seinem Haus ankamen, da fühlten wir, glaube ich, alle, die wir anwesend waren, daß wir nun nicht eintreten sollten: der Unglückliche hätte nämlich ohne Schuhe unter uns sitzen oder bei uns stehen müssen. Ich mußte aber trotzdem ins Haus hinein, weil ich etwas holen wollte, und trat ein! Die alte Mutter sah die Füße Poes mit einem Ausdruck von Bestürzung an, den ich nie vergessen werde. ,Aber Eddy', sagte sie, ,was hast Du denn gemacht, daß Deine gaiters so zer- rissen sind?' Bei ihrem Anblick schien Poe beinahe in einen Zustand von Betäubung zu geraten. ,Antworten Sie Muddyl' sagte sie dann schmeichelnd. Ich berichtete ihr, was geschehen war, und sie nahm mich in der Küche beiseite. ,Könnten Sie nicht mit Herrn X. über das letzte Gedicht Eddys sprechen?' sagte sie zu mir. Herr X. war der Redakteur einer Revue. ,Wenn er das Gedicht annimmt, dann kann sich Eddy ein Paar Schuhe kaufen. Er hat das Gedicht — ich 134) Diese „gaiters" waren gewiß eine Art Schuhe, wie man sie damals trug, mit einem Schaft aus Stoff. (Siehe Wehster's New International Dictionary, 1915, Artikel „Gaiter".) 2 34 ößj Leben Edgar Poes habe es ihm letzte 'Wodae hingetragen und Eddy sagt, es sei sein bestes. Sie werden mit ihm spredaen, nidit wahr?' Wir hatten das Gedicht schon im Konklave gelesen und der Himmel verzeih' uns, wir konnten es nicht verstehen. Er hätte es ebensogut in irgendeiner unbekannten Sprache nieder- schreiben können, so wenig Sinn konnte man aus den melodiösen Kadenzen herausholen. Ich erinnere mich daran, daß ich gesagt hatte, das Gedicht sei eine gewöhnliche Ente, die Poe nur deshalb als Gedicht gelten lassen wollte, um zu sehen, bis zu welchem Grad er durch seinen Namen den Leuten etwas weismachen könne. Die Situation war aber die: der Redakteur der Revue war an den zerrissenen gaiters mitschuldig. ,Einverstanden', sagte ich, ,das Gedicht wird verö£Fentlicht werden, und ich werde es Herrn X. sagen, daß er es bald heraus- bringen soll.' Das Gedicht wurde sofort bezahlt und kurze 2eit nachher ver- öffentlicht. Ich vermute, daß man es in den gesammelten diditeri- schen "Werken Poes wirklich für ein Gedicht halten wird, jedenfalls hat es damals Poe ein Paar gaiters und außerdem zwölf Schilling eingebracht.""^ Von welchem Gedicht ist hier die Rede? Hervey Allen"^ meint, es handle sidi um ein Gedicht, das kurz vorher an einem Abend bei Miss Lynch vorgelesen wurde und daß es U 1 a- 1 u m e sein könne. "Wir sind jedoch keineswegs so sicher wie er, denn U 1 a 1 u m e ist nicht kurze Zeit nachher, sondern erst im Dezember 1847 erschienen. Das ist gewiß kein entscheidendes Argument; der Herausgeber hätte es nämlicäi trotz der Be- hauptung der Frau Gove Nichols liegen lassen können. Aber obwohl wir nicht wissen, auf welches andere Gedicht sidi die Anspielung bezieht, und dieses astrale Grabgedicht daher sehr wohl damals am Sterbelager der Virginia hätte empfangen und sogar niedergesciirieben werden können, verschieben wir seine Analyse auf später. 13 j) Israfel, S. 712 — 714. 136) Israfel, S. 721. In Fordham — Vor dem Tod der Virginia 235 ^^^H Audi Miss Susan Cromwell, eine Nachbarin Poes, hat uns ^^^H einen Bericht über den Aufenthalt in Fordham hinterlassen: ^ „Eines Tages, es war zur Zeit der Kirsdiernte, ging sie am Land- I haus vorbei und sah, wie Poe, der auf den Baum geklettert war, I seiner Frau, die ein weißes Kleid trug und auf einer Bank mitten in fder Wiese saß, Kirsdien zuwarf. Virginia fing sie lachend auf und hatte schon eine Menge Kirschen in ihrer Schürze. Poe wollte ihr eben wieder eine Handvoll Kirschen zuwerfen, da floß ein Blutstrom Iüber die Lippen seiner Frau. Poe sprang vom Baum herab, nahm Virginia in die Arme und verschwand mit ihr im Haus. Sie waren", fügt Miss Cromwell hinzu, „fürchterlich arm {awful poor)."^^'' Aber erst in der kalten Jahreszeit, die diesem besonders heißen Sommer folgte, sollte das Elend den Gipfel erreichen. Im Sommer hatte Frau Clemm immer noch irgendein Mittel gefunden, ihre Kinder zu ernähren: so war sie beispielsweise beim Einbruch der Dämmerung nach Turtle Bay mit einem Spaten gegangen, um für den größten Dichter Amerikas Rüben auszugraben, die von den Bauern für ihre Tiere angepflanzt worden waren; in Fordham selbst sammelte sie Löwenzahn auf den Wiesen. Manchmal auch ging sie zu den Nachbarn, um sich das Geldstück „auszuborgen", das man für die Post auslegen mußte. Aber im Winter — in diesem "Winter, der ebenso kalt war wie der vergangene Sommer warm gewesen — stand das Haus mitten in tiefster Einsamkeit. Die Besuche aus der Stadt hatten aufgehört. Poe war ohne Arbeit und mußte wegen der Kälte im Landhaus bleiben; der Speiseschrank war manchmal fast gänzlich leer, und im Küchenofen oder im Kamin im Salon war ofl: gar nichts Brennbares mehr vor- ' banden. Bei dieser Kälte, inmitten dieses Elends lag Virginia in den letzten Zügen. Sie wohnte nicht mehr in dem allzu großen Zimmer im Stock oben, da es nicht geheizt werden konnte; 137) Israfel, S. 716. 236 Das Leben Edgar Poes man hatte sie in der kleinen Kammer neben dem Salon unter- gebracht. Sie konnte sidi kaum mehr erheben und wurde un- aufhörlidi von Fieber und Husten geschüttelt; eiskalt waren die Tage in dem Bett ohne wollene Decken und die Nächte waren noch kälter als der Tag. Mitleidige Nachbarn, die Bathhursts, brachten ein wenig Essen und Kohle herbei. Frau Clemm machte sich nichts aus der Kälte; sie lief aus dem Haus, um einige Eier und Kartoffel „auszuborgen". Aber die spärliche Nahrung genügte nicht, die Kälte beherrschte alles. Das sagt auch der Bericht, den wir von Frau Gove Nichols haben, die als einzige unter allen ehemaligen Freunden im Dezember 1846 wieder die Reise nadi Fordham zu den Poes unternahm: „Ich sah sie (Virginia) in dem Sdilafzimmer. Alles war dort so rein, so funkelnd von Sauberkeit, aber audi so besdieiden und von Armut gezeidinet, daß ich die Kranke nur mit jener Herzbeklemmung ansehen konnte, die der Arme für den Armen empfindet. In dem Bett gab es bloß Strohmatratzen und eine Steppdecke, aber die Tüdier waren weiß wie Sdinee. Es war kalt, und die junge kranke Frau wurde vom Frösteln geschüttelt, weldies das Fieber der Sdiwindsüchtigen begleitet. Sie lag auf ihrer Stroh- matratze, war in den großen Mantel des Gatten eingehüllt, und eine Tigerkatze lag auf ihrem Busen. Das wunderbare Tier sdiien zu wissen, wie nützlidi es war. Der Mantel und die Katze waren nämlich die einzigen Mittel, die der armen Kranken wieder Wärme zutrugen; manchmal hielt ihr ihr Mann die Hände und die Mutter die Füße. Frau Clemm liebte die Tochter sehr, und es war furditbar, die Verzweiflung mitanzusehen, in die sie durch das Elend und die Krankheit ihres Kindes geraten war. Sobald ich mich von diesen schrecklichen Tatsachen überzeugt hatte, fuhr ich nach New York zurück und sicherte mir die Sympathie einer Dame, deren Herz und Hand Armen und Unglücklichen gegen- über immer offen waren . . .""^ 138) Israfel, S. 712/723. In Fordham — Vor dem Tod der Virginia i-^y Diese Dame hieß Marie-Louise Shew. Sie war sicher schon ' vorher einmal mit Poe zusammengekommen. Wir lernen sie als eine kluge, entschlossene Frau kennen, als die Toditer eines Arztes, Freundin von Ärzten, die sidi als Pflegerin hatte aus- I bilden lassen und in Spitälern Dienst gemacht hatte. Sie war „wissenschaftlicher" als alle Frauen, denen Poe bisher begegnet war, und besaß ein edles, mitleidiges Herz. Sie sdiickte für Virginia „ein Federnbett, eine Menge Decken und andere Bequemlichkeiten" nach Fordham. Sie leitete für Poe eine Sammlung ein und übergab in der folgenden "Woche Frau Clemm die sedizig Dollar, die sie zusammengebracht hatte. Sie kam von nun an häufig nach Fordham hinaus und half unermüdlidi, wie und wo sie konnte. Aber auch die „Literati" hatten nun erfahren, in welchem Elend sich die Poes befanden; dieses Elend war sozusagen ihr Tagesgesprädi geworden. Frau Hewitt und Frau Osgood ver- suchten zu -helfen. Und da Frau Hewitt bei den Chefredak- teuren der Magazine zugunsten Poes zu sammeln versudite, erfuhr audi die Öffentlichkeit von dem Elend, in dem der Dichter steckte. Im New York Express konnte man daher lesen: „Mit Bedauern erfahren wir, daß Edgar A. Poe und seine Frau ernstlidi an Sdiwindsudit erkrankt sind und daß die Hand des Unglücks sdiwer auf ihnen lastet. Wir müssen sogar sagen, es gehe ihnen derart sdiledit, daß sie sidi kaum versdiafFen können, was sie notwendigst zum Leben braudien. So hart ist ihr Los, und wir hoffen, daß die Freunde und Bewunderer Poes nidit zögern werden, ihm in diesen sdilimmsten Stunden, wo er von der Not bedrängt wird, zu Hilfe zu kommen." Der Stolz Poes war zwar auf das tiefste verletzt durch diesen Versuch, für ihn die offen tlidie Mildtätigkeit anzurufen; selbst der zurückhaltendere Aufruf, den Willis im Home Journal einrückte, verstimmte ihn. Aber diese Hilferufe hatten wenigstens zur Folge, daß Virginia, besonders durch die Güte 23^ Das Leben Edgar Poes der Marie-Louise Shew, nicht inmitten des Elends sterben mußte, in dem sie damals lebte. Obwohl der Tod Virginias unmittelbar bevorstand, obwohl sie von Fieber und Hustenanfällen gesdiüttelt wurde, fand sie sofort ihre kindliche Fröhlichkeit in dem Augenblick wieder, in dem man ihr eine kleine Freude machte, ein kleines Geschenk bradite. Poe saß, am Ende dieses Jahres, neben ihrem Bett, er hatte wieder an seiner Anthologie zu arbeiten begonnen und Frau Clemm blätterte die Zeitungen durch, um dann alles, was über Eddy geschrieben wurde, heraus- zuschneiden. Man hatte sich daran gewöhnt, daß Virginia krank war! Zwischen Poe und seinen Freunden ging ein leb- hafter Briefwechsel hin und her; es kamen aber auch immer wieder, an die Adresse Virginias, anonyme Briefe gegen Edgar, die nach seiner Meinung nur aus der Feder der Frau Eilet stammen konnten, und welche die letzten Tage der armen Kleinen trübten. Und außerdem erfährt Poe — ein Licht- blick! — , daß seine "Werke in England, in Schottland und in Frankreich die Aufmerksamkeit der Leser auf sidi zu ziehen begannen. Die so lange dahinsiechende Virginia lag schließlidi im Sterben. Und am 29. Januar 1847 kamen die Freunde und Verwandten, die man von dem bevorstehenden Ende be- nadiricäitigt hatte, in Fordham zusammen. Audi Mary Devereaux, die alte geliebte Freundin Poes aus Baltimore, die gleidie, der Virginia die Liebesbriefe zugetragen hatte, war erschienen. Zu ihrer Überrasdiung saß Virginia in einem Fauteuil. Mary Devereaux schreibt über diesen Besuch: „Am Tag vor ihrem Tode traf ich Virginia im Salon. Ich sagte zu ihr: ,Geht es Ihnen heute besser?', und setzte mich neben den großen Fauteuil, in dem sie saß. Poe hatte auf der andern Seite Platz genommen. Idi legte meine Hand in die ihrige, sie nahm sie und In Fordham — Vor dem Tod der Virginia 239 legte sie in die Poes und sagte: ,Mary, seien Sie für Eddy eine Freundin und verlassen Sie ihn nidit; er hat Sie immer geliebt, nidit wahr, Eddy?' Nur wir drei waren im Zimmer, Frau Clemm war in der Küche.""» Mary kehrte noch am selben Nachmittag nadi New York zurück, wogegen Frau Smith (Miss Herring), Poes Cousine, ankam. Am Abend schrieb Poe an Frau Shew: „Beste, teuerste Freundin, meine arme Virginia lebt noch, ob- wohl es schnell mit ihr bergab geht und sie jetzt sehr viel leidet. Gott schenke ihr noch so lange das Leben, bis sie Sie wiedergesehen hat und Ihnen nodi einmal hat danken können. Ihr Herz strömt wie das meinige von einer unendlichen, unausspredilichen Dank- barkeit für Sie über. Für den Fall aber, daß sie Sie nidit mehr wiedersehen sollte, hat sie mir aufgetragen, sie schicke Ihnen ihren zartesten Liebeskuß und sterbend noch werde sie Sie segnen. Aber kommen Sie — adi, kommen Sie morgen! Ja, idi w i 1 1 ruhig sein, ich will so sein, wie Sie mich zu sehen wünschen. Auch von meiner Mutter ,innigste Liebe und Dank'. Sie bittet mich, ich solle Sie ersuchen, Sie mögen, wenn das nur irgendwie möglich ist, morgen Abend bei uns bleiben. Hier der Auftrag für den Postmeister. Der Himmel segne Sie. Auf Wiedersehen. Fordham, 29. Januar 1847. Edgar A. Poe.""" 139) hrajel, S. 726. 140) Fordham, Jan. 29, '47. Kindes t, dearest fri.end. My poor Virginia yet lives, although falling fast and now suffering much pain. May God grant her life until she sees you and thanks you once again! Her bosom is füll to overflowing — like my own — with a boundless — inexpressible gratitude to you. Lest she may never see you more — she bids me say that she sends you her sweetest kiss of love and will die blessing you. But come — oh come to-morrow! Yes, I will be calm — everything you so nobly wish to see me. My mother sends you, also, her „wärmest love and thanks". She begs me to ask you, if possible, to make arrangements at home so that you may stay with US to-morrow night. I enclose the order to the Postmaster. Heaven bless you and farewell, P , 4 p (V. E., Bd. I, S. 26J.) 24° Das Leben Edgar Poes Am nächsten Morgen, es war der 30. Januar, kam Frau Shew zu gleicher Zeit wie Mary bei einer fürditerlidien Kälte in Fordham an. Virginia lag wieder in ihrer kleinen Kammer. Nachmittags war sie noch bei klarem Verstand. Sie nahm unter ihrem Kopfpolster ein Bild Poes und das Schmudc- kästchen, das Elizabeth Arnold gehört hatte und von Rosalie geerbt worden war, hervor, um sie Frau Shew zu über- geben. Dieses Kästchen war möglicherweise von Rosalie nadi Fordham gebracht und dort zurückgelassen worden. Virginia verlangte auch nodi zwei Briefe, die sie schon einmal der Frau Shew vorgelesen hatte, Briefe, die von Frau Allan geschrieben worden waren, nachdem Edgar aus dem Hause geflohen war.^*i Dann brach die Nacht herein. Und während Edgar nun, aber dieses Mal in der Wirklichkeit, alle Schrecken der Agonie der Rowena, welche von Ligeia in den Tod hineingezogen wird, wieder erleben sollte, hörte das schwere Atmen der Virginia plötzlich auf und der zarte kleine Körper lag ganz unbeweg- lich da — wie sdion früher einmal ein anderer zarter Frauen- körper — beim Lidit der Kerzen, vor den Augen ihres Gatten. Nach dem Tod Virginias bemerkte man, daß man kein Bild von ihr hatte. Eine der anwesenden Damen machte schnell ein Aquarell, das einzige, das uns die Züge der Kind-Frau Edgar Poes übermittelt hat und das unendlich ofl; reproduziert worden ist. Obwohl Virginia an Schwindsucht gestorben war, scieint das Gesicht eher angeschwollen als eingesunken ge- wesen zu sein. Nachträglidi wurden die geschlossenen Augen des Bildes durch geöffnete ersetzt. Frau Shew lieferte das Leichentucii. Sie und eine gewisse 141) Diese Briefe, die später in die Hände der Frau Smith, einer Cousine Poes, fielen, und audi von Eliza White gesehen wurden, sind heute leider verschwunden. Sie sollen in überaus zärt- lidiem Ton gehalten sein, und Poe wurde in ihnen beschworen, heimzukehren. VIRGINIA ELIZA POE, geb. CLEMM 1822 — ^1847 (Nach einem Aquarell, das 1 847 in Fordham nach ihrem Tod gemalt wurde) Uli Ini i In Fordham — Vor dem Tod der Virginia 241 Uistty, die Adoptivtoditer des Besitzers des Landhauses, halfen Frau Clemm, den armen kleinen Körper zum letztenmal zu bekleiden. Am Tag des Leichenbegängnisses wurde der kleine Sarg [der Virginia im Salon auf dem Sdireibtisdi ihres Gatten aufgebahrt. Kein Platz war ihm gemäßer: lag er nidit schon lange im Geist auf dieser Stelle? Einige Freunde kamen herbei, lunter ihnen Valentine, der Besitzer des Landhauses, N. P. Willis und sein Gesellschafter, Mary Devereaux, Frau Shew. Dann wurde der Sarg in der eisigen Kälte durch eine mehr oder weniger „titanisdie Zypressenallee" zum Friedhof der holländi- sdien Reformistenkirche von Fordham hinausgetragen. Poe ging hinterdrein, er war in seinen alten Kadettenmantel eingehüllt, in den gleichen, der mit der Katze Catterina seine Frau erwärmt hatte. Als er nach Hause kam, bradi er zusammen. Frau Clemm — so groß war ihr Elend — wollte Mary Devereaux, noch bevor sie das Haus verließ, den Fingerhut Virginias ver- kaufen. Aber auch Mary war zu arm, als daß sie ihn hätte kaufen können. Bonaparte: Edgar Poe. I. 16 IN FORDHAM NACH DEM TOD DER VIRGINIA ULALUME UND HEUREKA Nadi dem Tod Virginias verfiel Poe in einen Zustand tiefster Ersdiöpfung. Er hatte allerdings einen furditbaren "Winter verlebt. Kälte und Hunger gelitten, und sidi gar nidits gegönnt, damit Virginia wenigstens etwas habe. Die tieferen Ursachen aber, warum Poe in diesen Zustand der Verzweif- lung fiel, waren psychischer Natur. Konnte es denn anders sein? Man bedenke, was Virginia alles für ihn darstellte, und daß sich bei diesem Tod die Tragödie, die am Beginn seines Lebens gestanden war, wiederholte! Der dironisdie Zustand von Trauer, in dem er seit seinem dritten Lebensjahr gelebt hatte, versdiärfte sidi in dem Augenblick, in dem er wieder aktiv wurde, zu einer heftigen Krise. Poe konnte in der Nacht nicht mehr schlafen; die Dunkelheit und die Einsamkeit brachten ihn dem Wahnsinn nahe, und Frau Clemm mußte stundenlang bei seinem Bett bleiben und die Hand auf seine ll'j Stirne legen. Manchmal glaubte sie, er sei eingeschlafen, und sie wollte aufstehen; da murmelte er: „Nodi nicht, Muddy, noch niciit."^*^ Er war ein kleines Kind geworden, das sich vor Gespenstern fürchtete, ganz so wie an dem Abend, an dem er mit dem Onkel Valentine ausgeritten war. Und es gab Gespenster in dem Haus, weil der Geist Ligeias, der von nun an herrschen sollte, in dem Augenblick wiedergekommen war, in dem es von Rowena verlassen worden. Wir erfahren, daß man Poe „oft nach dem Tode seiner 143) hrafel, S. 732. In Fordham — Nach dem Tod der Virginia 243 ! geliebten Frau beinahe erfroren in der tiefsten "Winternacht bei ihrem Grab hat sitzen sehen: er war aus dem Bett aufgestanden und weinend und jammernd herbeigekommen".^** So drückt ■ sidi in der Legende in konkreter Form die ewige Trauer des miditers aus, die gleiche Trauer, die früher einmal den Jüngling ' vermutlich gezwungen hatte, das Grab seiner „Helen" auf- zusuchen. Trotzdem aber sdieint es unwahrscheinlich zu sein, 1 daß Poe in diesem fürchterlichen Winter und in dem Zustand, [in dem er sich befand, das Grab der Virginia bei Nacht auf- gesudit habe. Und außerdem hätte er die Wachsamkeit der Frau Clemm gar sehr täuschen müssen. Muddy übertrug nun auf ihren Adoptivsohn allein die ganze Zärtlichkeit, deren ihr Mutterherz fähig war, und sie schenkte I Eddy außer dem Teil der Liebe, den er sdion je besessen, auch ' den, der nach Virginias Tod freigeworden war. Es scheint also, daß sie Eddy von dem Augenblick an, wo er allein bei ihr war, doppelt geliebt habe. Bei ihrer Aufgabe als Trösterin wurde sie von der klugen und guten Frau unterstützt, die schon dazu beigetragen hatte, daß Virginia das Sterben leichter falle. Frau Shew sammelte nämlich hundert Dollar für den unglücklichen Dichter, und an dieser Subskription nahm auch der General Scott teil, der sich dadurch wieder an seinen früheren Kadetten erinnern konnte. Sie brachte ihre Freunde, die Ärzte Dr. Mott und Dr. Francis, an das Krankenlager Poes und reiste selbst mehrere Male in der Woche von New York nach Fordham, um den Unglücklichen, und das war höchste Barmherzigkeit, durch ihre Gegenwart zu trösten. Ein Brief der Frau Clemm an Frau Shew, der zwar nur „Freitag abend" datiert ist, aber sicher aus jener Zeit stammt, zeigt uns, wie sehr sich die beiden mütterlichen Frauen gemeinsam um den Unglücklichen bemüht haben. 144) Ebenda. i6» Jj 244 ö*^ Leben Edgar Poes „Meine liebe, gute Freundin! Idi schreibe Ihnen, um Ihnen mit- zuteilen, daß die Medikamente mit dem ersten Zug nadi Ihrer Abreise heute angekommen sind; ein gefälliger Freund hat sie uns sofort hergebracht. Die kalten Umsdiläge haben dem ICopf meines armen Eddy sehr wohl getan, und die Blumen waren herrlich — nicht ,erfroren', wie Sie gefürchtet haben. Idi habe aber Angst, daß Eddy ernstlidi krank sei. Das Fieber ist, ganz wie Sie vorausgesagt haben, heute zur gleichen Stunde wiedergekommen und idi gebe ihm die beruhigende Arznei. Er ist aus seinem Halbschlaf nicht erwacht, sonst hätte er natürlich mit Herrn C, der ein so lieber Freund ist, gesprochen . . . Eddy hat mir das Versprechen ab- genommen, ich müsse Ihnen wegen des Weines schreiben; idi habe nämlidi vergessen, mit Ihnen heute vormittag davon zu sprechen. Er wünscht, daß idi Ihnen die letzte Kiste Wein zurückschicke, die Sie meiner guten Virginia geschickt haben (es bleibt nodi etwas von der ersten Sendung übrig, ich habe sie beiseitegeschafft, für den Fall, daß wir sie brauchen). Dieser Wein war für uns ein großer Segen, solange mein liebes Kind ihn gebraucht hat, er stärkte sie so, daß sie einige Tage länger bei uns bleiben durfte. Das geliebte Kind war immer fröhlich, wenn sie von ihm trank, selbst dann, als sie ihn nur mehr mit Mühe hinunterbringen konnte. Hätten Sie uns nicht geholfen, liebe Frau Shew, dann wären ihre letzten Worte, ihre Liebesworte, ihre süßen Abschiedsworte verlorengegangen, denn sie konnte in ihrer Schwäche nur mehr mit den schönen Augen sprechen! . . . Eddy liegt es besonders am Herzen, daß der Wein Ihnen zurückgeschickt werde, er meint und hofft, er könne jenem kranken Künstler helfen, von dem Sie uns erzählt haben, daß er ,auf dem Weg zur Genesung sei und auch einmal etwas Gutes brauche'. Gott segne Sie, mein liebes, süßes Kind, und suchen Sie bald Ihre verzweifelte Freundin auf. , , . _, Maria Clemm. P. S. Wir erwarten Sie morgen mit einem der ersten Züge und hoffen, Sie werden so lang wie möglich hierbleiben. Es ist nicht aus- zudenken, was aus uns ohne Sie werden soll. Eddy sagt, Sie hätten Virginia versprochen, noch lange jeden zweiten Tag herauszukommen, so lange wenigstens, bis er wieder zu einer Arbeit fähig ist. Idi hoffe und glaube, daß Sie Ihr Wort halten werden, und flehe allen Segen auf Sie und Ihr ganzes Leben herab. Sie verdienen ihn für Ihre engelhafte Güte und für das Mitleid, das Sie mit uns haben. In Fordham — Nach dem Tod der Virginia 245 Herr C. wird Ihnen mitteilen, wie es bei uns aussieht, er holt diesen Brief in einer Stunde ab; und Adieu, bis wir uns wieder- ( sehen. So verschenkte Frau Shew Medikamente, Blumen und auch [ihre Zeit. Wenn sie kam, brachte sie immer etwas mit, vor I allem andern aber ihr herzliches Mitfühlen. Wenn wir nun an jdie unverbrauchte Glut denken, die im kranken Herzen des »verzweifelten Dichters brannte, und an seinen Komplex als „ewiger Sohn", kann es uns in Erstaunen versetzen, daß die Dankbarkeit bald eine 'exaltierte Färbung bekam? In einem Gedicht, das an H e r r n L. S. gerichtet war und im März im Home Journal erschien, fühlt man bereits diese "Wandlung heraus. In ihm ist die Rede von einer „Anwesenheit, die dem Morgen gleicht", von seraphischen Augen und einem Beben, das den Dichter durchschauert, wenn er denkt, „daß sein Geist mit dem eines Engels verbunden ist". Selbst wenn wir von diesen Äußerungen abrechnen, was der poetischen Übertreibung zuzu- schreiben ist, ahnt man, daß von neuem in Poe die Morgenröte einer „Leidenschaft" aufging. Zwei Werke entstanden aus der Trauer um Virginia: Ulalume und Heureka, ein Gedicht und der Versuch einer Kosmogonie. Wir sprechen zuerst von Ulalume, in dem das Grab, dem er nun entfliehen mußte, deutlich zu sehen ist. Wann wurde Ulalume geschrieben? Vor oder während der Zeit, in der H e u r e k a abgefaßt wurde? Frau Whitman"" behauptet, das Gedicht sei ein Jahr nach dem Tode der Virginia entstanden. Es ist jedoch möglich, daß die nicht sehr 145) V.E., Bd. 17, S. 390/391. 146) Poe and His Critics, Providence 1885, S.^6■, ferner Frau Whitman an Frau Clemm, New York, 5. April i8j9, V. E., Bd. 17, S. 426. 246 Das Leben Edgar Poes verläßliche Frau Whitman diese Angabe, obwohl sie sidh auf eine Auskunft Poes beruft, bloß aus der Dichtung selbst heraus- geholt hat, die symbolisch vom „Jahrestag" des Leichen- begängnisses der Geliebten spricht. „Vielleicht fand diese An- gleichung der Zeiten nur in der Idee statt", schreibt sie an anderer Stelle;^*' sie war wahrscheinlich dadurch unsicher ge- macht worden, da der wirkliche Jahrestag (Januar) im Gedicht in den Oktober verlegt wird. U 1 a 1 u m e"8 „Asdifahl war der Himmel und matt; Gekräuselt die Blätter und dürr — Die Blätter welk und dürr; Es war Nadit im einsamen Oktober Des Jahres, das längst meinem Gedäditnis entschwand." So versetzt sidi der Diditer — ohne es zu wissen — jenseits der Zeit, in der er, und des Ortes, an dem er Virginia beweinte, 147) Frau Whitman an Frau Clemm, ebenda, S. 427. 148) Ulalume. American Whig Review (mit Untertitel: To — ), Dezember 1847; Home Journal, i. Januar 1848; Griswold, 1850. Der zitierte Text (1850): V. E., Bd. 7, S. 102— 105. Ulalume. The skies they were ashen and sober; The leaves they were crisped and sere — The leaves they were withering and sere; It was night in the lonesome October Of my most immemorial year; It was hard by the dim lake of Auber, In the misty mid region of Weir — It was down by the dank tarn of Auber, In the ghoul-haunted woodland of Weir. Here once, through an alley Titanic, Of cypress, I roamed with my Soul — Of cypress, with Psyche, my Soul. These were days when my heart was volcanic As the scoriac rivers that roll — As the lavas that restlessly roll In Fordham — Nach dem Tod der Virginia 247 in jene urvordenkliche Zeit und in jenes vergessene Land zurüdi, in denen er auch eine andere teure Tote beweint hat. Their sulphurous currents down Yaanek In the ultimate climes of the pole — That groan as they roll down Mount Yaanek In the realms of the boreal pole. Our talk had been serious and sober, But our thoughts they were palsied and sere - Our memories were treadierous and sere — For we knew not the month was October, And we marked not the night of the year — (Ah, night of all nights in the year!) We noted not the dim lake of Auber — (Though once we had journeyed down here) - Remembered not the dank tarn of Auber, Nor the ghoul-haunted woodland of Weir. And now, as the night was senescent And star-dials pointed to morn — As the star-dials hinted of morn — At the end of our path a liquescent And nebulous lustre was born, Out of whidi a miraculous crescent Arose with a duplicate hörn — Astarte's bediampnded crescent Distinct with its duplicate hörn. And I Said — „She is warmer than Dian: She rolls through an ether of sighs — She revels in a region of sighs: She has seen that the tears are not dry on These dieeks, where the worm never dies And has come past the stars of the Lion To point US the path to the skies — To the Lethean peace of the skies — Come up, in despite of the Lion, To shine on us with her bright eyes — Come up through the lair of the Lion, With love in her luminous eyes." But Psyche, uplifting her finger, Said — „Sadly this star I mistrust — Her pallor I strangely mistrust: — 248 Das Lehen Edgar Poes „Hart am dunklen See von Auber war es . . ." Hier erscheint der See mit den düsteren Wassern wieder, der finster im ganzen "Werk Poes schillert, dieses Symbol der toten Mutter. Oh, hasten! — oh, let us not lingerl Oh, fly! — let us fly! — for we must." In terror she spoke, letting sink her Wings until they trailed in the dust — In agony sobbed, letting sink her Plumes tili they trailed in the dust — Till they sorrowfully trailed in the dust. I replied — „This is nothing but dreaming: Let US on by this tremulous light! Let US bathe in this crystalline light! Its Sibyllic splendor is beaming With Hope and in Beauty to-night: — See! — it flidcers up the sky through the night! Ah, we safely may trust to its gleaming. And be sure it will lead us aright — We safely may trust to a gleaming That cannot but guide us aright, Since it flidiers up to Heaven through the night." Thus I pacified Psydie and kissed her, And tempted her out of her gloom — And conquered her scruples and gloom; And we passed to the end of the vista, But were stopped by the door of a tomb — By the door of a legended tomb; And I said — „What is written, sweet sister, On the door of this legended tomb?" She replied — „Ulalume — Ulalume — 'T is the vault of thy lost Ulalume!" Then my heart it grew ashen and sober As the leaves that were crisped and sere — As the leaves that were withering and sere. And I cried — „It was surely October On this very night of last year That I journeyed — I journeyed down here — That I brought a dread bürden down here — ^^^^B „Unten am nassen Sumpf von Auber, ^^^H Im Waldland von Weir, wo die Weibgespenster umgehen . . ." ^^^P'^ir kennen sie, diese Frauengespenster! Das Muttergespenst, ^ ein Königingespenst, das die Schar der Ligeias, der Berenicen ^m anführte, denen sidi seit wenigen Monaten die Realität der ^H Virginia zugesellte. I^B „Einst wanderte idi durdi eine titanisdie Allee von Zypressen mit meiner Seele . . ." Durdi eine Zypressenallee war auch Poe dem Sarg der Virginia gefolgt. „Dies waren Tage, da mein Herz vulkanisch war Wie die Sdilackenströme, . . . ." Wenige Monate vor dem Tode der Virginia flammte das „vulkanische Herz" des Dichters für Frances Osgood auf, einige Monate nach ihrem Tode begann das gleiche „vulkanische Herz" für Marie-Louise Shew zu lodern — und später wieder für andere. „Wie die Lavaströme, die rastlos wälzen Ihre stidcigen Fluten den Yaanek hinunter In die fernsten Zonen des Pols," so war Poe wirklidi Flamme und Eis zugleich, Flamme durch die Intensität seiner Leidenschaft, Eis durch das Urobjekt aller dieser Leidenschaften: durch seine sterbende, tote Mutter, die für ihn so off im Eismeer, in den „fernsten Zonen des Pols" symbolisiert wurde. Und die Amnesie, welche die für das ganze Leben ent- scheidend gewordenen Tatsachen und Leidenschaften aus der On this night of all nights in the year, Ah, what demon has tempted me here? Well I know, now, this dim lake of Auber — This misty mid region of Weir — Well I know, now, this dank tarn of Auber, This ghoul-haunted woodland of Weir." 2J0 Das Leben Edgar Poes Kindheit verdeckt, Ereignisse und Leidenschaften, die eben wegen ihrer ungeheuren Widitigkeit und wegen ihres ver- botenen „Sexual"-Charakters regelmäßig vergessen werden, diese Amnesie kann nicht besser dargestellt werden, als durdi die folgende Strophe: „Unser Wort war ernst und besonnen gewesen, Doda unsere Gedanken waren gelähmt und dürr — Unsere Erinnerung war trügerisdi und dürr — Denn wir wußten nicht, daß es Oktober war, Und wir achteten nicht der Nacht des Jahrs, (Adi, der Nacht aller Nächte im Jahr!) Wir achteten nicht des dunklen Sees von Auber — (Obwohl wir einmal sdion hier entlang gewandert waren) — Erinnerten uns nicht des nassen Sumpfes von Auber, Und nicht des Waldlands von Weir, wo die Weibgespenster umgehen." Poe hatte recht: als er Virginia zum Friedhof geleitete, er- innerte er sich wirklich nidit daran, daß er schon einmal „hier gewandert" sei. Trotzdem aber war der Tag zu Beginn Februar, an dem man Virginia beerdigte, der Tag, der in dem astralen Gedidit in eine Oktobernadit transponiert wurde, nichts anderes als der Jahrestag des Tags aller Tage des Jahrs, des Dezembertags, an dem man ihm früher einmal seine Mutter entführt hatte. Der ■Wiederholungszwang, der gegen unseren Willen unser Leben lenkt, und das dunkle Gefühl, das wir manchmal haben, es werde etwas zurückkehren, was wir einmal kannten, sind hier auf das eigenartigste wiedergegeben. So stand der schlafende oder geweckte Träumer des Gedidites U 1 a 1 u m e, wie das bei jedem Traum und in jeder Phantasie der Fall ist, mit einem Fuß in der Gegenwart, mit dem andern in der Ver- gangenheit: „Und nun, da die Nadit vorrüdite. Und Sternbilder auf den Morgen wiesen — In Fordham — Nach dem Tod der Virginia 2ji Da die Sternbilder den Morgen kündeten — , Kam am Ende unseres Pfades ein flackerndes, Nebeltrübes Leuchten auf, Aus dem eine wundersame Mondessidiel Sich erhob mit doppeltem Hörn — Astartes diamantbesetzte Mondessidiel, Mit doppeltem Hern gesdimüdct." Der trauernde Dichter, der an eine Tote gebunden war, sucht jetzt einen Ausweg, er hofft, dem Ruf des Lebenstriebes, der Venus Astarte folgen zu können. Wir haben bereits weiter oben gesagt,^*^ und dabei waren wir einer Meinung mit anderen, wie wir über die Symbolik dieses Gedichtes denken, das zugleich Impotenz und Leidenschaft spiegelt, und in dem sich das intime zentrale Drama der Psychosexualität Poes abspielt. „Und ich spradi: Sie ist wärmer als Diana; Sie wandelt durch ein Ätherreich von Seufzern, Sie schwelgt in einem Land von Seufzern; Sie hat gesehen, daß die Tränen auf diesen Wangen, In denen der Wurm nie stirbt, nicht getrocknet sind, Und ist an den Sternen des Löwen vorübergegangen. Um uns den Weg zum Himmel zu zeigen. Zum Lethefrieden des Himmels ..." Nein, auf diesen sterblichen "Wangen „in denen der Wurm nie stirbt", und die auch die "Wangen Edgars, des Liebhabers des Todes waren, sollten die Tränen der Trauer nie mehr trocknen können. Trotzdem aber ist die erhabene "Venus Astarte selbst gekommen, sie leuchtet am Horizont auf und ruft durch ihre Helle den in Tränen ge- badeten Dichter aus der Nacht seiner Trauer. Und er will ihrem Ruf gehorchen. Das hat er auch in seinem Leben dann immer wieder getan, wenn er sich in eine Frau verliebte und der Mutter seiner Kindheit und auch der 149) Siehe S. 141. 1 2J2 Das Leben Edgar Poes in ihr wiedergekehrten Virginia untreu werden wollte. Neben der sterbenden Virginia hatte er sich in Frances Osgood ver- liebt. Als Virginia nun tot war, verliebte er sidi in Marie- Louise Shew. Aber wir werden bald sehen, wie audi die tote Virginia ihre Macht anzuwenden verstand, ganz so wie Eliza- beth Arnold, die von jeher ihre Macht behalten hatte. Daher nahm auch diese Wanderung des Dichters zu Astarte, diese Wanderung zu dem Stern, zu dem er seine Seele, seine Psyciie in der Zypressennacht hinschleifen will, keinen andern "Weg als alle anderen Versuche Poes, untreu zu werden, kein anderes Ende, als alle diese Versuche, sich von seiner nekro- philen Fixierung freizumachen. Der Weg zu Astarte wird später auf der einen Seite durch ein Grab versperrt sein; auf der andern aber gleicht die Venus Astarte seltsam der Toten, die er verlassen sollte. Auch das hat keinen andern Zweck, als ihm den Weg zu versperren. Sie zeigt dem bloßen Auge das Doppelhorn des Mondes, der keuschen, kalten, toten Diana; ihre Mondsichel hebt sich so deutlich ab, daß die meisten Leser von Ulalume sie mit dem Mond verwechseln, ohne zu erfassen, daß sie sein gerades Gegenteil ist. Und außerdem, wohin führt sie ihn? Soll man die Seufzer in dem Ätherreich von Seufzern, in welchem sie frohlockt, für Liebesseufzer halten? Sie führt nicht zur lebendigen Wollust, sondern zum Lethefrieden des Himmels hin, zu einem Frieden, der das Glück der Toten ist. Als Poe seiner Frau Virginia, diesem Bild der schwind- süchtigen und sterbenden Mutter, zum erstenmal untreu wurde, verliebte er sich wieder nur in eine kranke Frau, in Frances Osgood, welche die gleichen Züge wie das Mutterbild aufwies: den gebrechlichen Körper, die großen fiebernden Augen, die blasse Fiautfarbe, das Antlitz einer Tuberkulosen. Während er zu fliehen glaubte, kehrte er, von einem unbesiegbaren Ruf gelockt, gerade zu der Mutter, der Toten, zurück. r - .,..-^.... die ihre Beute nidit ausließ. So war die Astarte Poes, die mütterlidie Gottheit, der antiken Astarte der Babylonier ähn- lidi: sie stellte den Ruf der Sinne und die Kraft des Lebens dar, zugleich aber audi den Tod, die zerstörende Kraft. Nicht ohne Grund sagt dann einige Zeilen später Psyche, die den Dichter zurüdshalten will, daß sie der Blässe, dem bleichen Glanz der Astarte mißtraue. Nun ist Astarte trotz aller Hindernisse zu dem Dichter gekommen, um ihn ins Land der Vergangenheit zu locken: „Sie ist heraufgekommen, dem Löwen zum Trotz, Um uns mit ihren leuditenden Augen zu scheinen — Heraufgekommen durdi das Lager des Löwen Mit Liebe in ihren strahlenden Augen." Astarte hat jene leuditenden Augen, durdi weldic die Frauen Poes Widerstand brechen, durdi die sie ihn verführen konnten, die Augen (die er in der A n n a b e 1 Lee, in der L i g e i a besungen), von denen er in der Nadit träumte,"" die Fieber- augen, welche der Virginia und der Frau Osgood gehörten und die audi jenen glichen, mit denen Elizabeth Arnold vor ihrem Tod den geliebten Jungen Edgar angesehen hatte. Diese Göttin mit den Liebesaugen ist nun am Löwenbild vorbeigestridien, durch das Lager des Löwen hindurch- gegangen, dem Löwen zum Trotz, um zum Diditer zu gelangen, so stark und mutig ist ihre Liebe. "Weder die Engel in Höhen..., nodi die Teufel in Tiefen konnten den Diditer von seiner Annabel Lee trennen. Und die Engel, die Teufel, aber auch der Löwe in seiner Höhle, sie alle sind Verhüllungen des „Vaters", David Poes oder Allans, weldie die Mutter, Elizabeth oder Frances, ihrem kleinen Sohn streitig machten, ohne daß es ihm sein Unbewußtes gestattet hätte, sidi von diesen Frauen zu trennen. 150) Siehe S. 224, FuiSnote 131. 2 54 -Da^ Leben Edgar Poes Man darf aber dabei nicht vergessen, daß die Venus Astarte der U 1 a 1 u m e trotz all ihrer Attribute für Poe in erster Linie den Ruf der Untreue darstellt. Er war treu selbst in der Untreue; wenn er aber im Objekt seiner Unbeständigkeit jedesmal audi mütterliche Züge vorfand, so war diese Untreue doch stets ein Fluchtversudi und der Versuch, „Heilung" von seiner erdrückenden Fixierung zu finden. Schlug nun jeder dieser Heilungsversuche fehl, so hat dies seinen Grund darin, daß die Fixierung einerseits zu stark war und den Weg wie durdi ein Grab versperrte; anderseits aber ließ sie aus dem Objekt der Untreue, aus Astarte, weldie über der Tür des Grabgewölbes der Ulalume stand, selbst das unvermeidliche Bild der Toten hervorgehen, das gleichsam über die im Sarg schlummernde Tote projiziert war. Daher ergreift Psyche das "Wort und sagt: „Sdimerzvoll mißtraue idi diesem Stern — Seltsam mißtraue idi seinem bleidien Glanz; Oh, eile! oh, laß uns nicht verweilen! Oh, fliehe . . ., denn adi! es muß sein!" Sie sprach's entsetzt, und es sanken gebannt Ihre Sdiwingen in sdiludizender Pein — Ihre Sdiwingen schleiften gebannt Die Federn im Staub — Voll Kummer im Staub. Sie sagt dies voll Entsetzen, und läßt die Flügel so lang sinken, bis sie traurig im Staub dahingeschleifl: werden. Ich glaube, diese Strophe ist von kapitalster Bedeutung für den, der die eigenartige Psychosexualität Poes verstehen will. Sie hat den Wert eines Geständnisses. Psyche ist über den bleichen Glanz der Astarte entsetzt; sie befiehlt ihrem Gefährten, er solle fliehen. Das hat nun Poe jedesmal in seinem Leben, wenn er in den Bannkreis sexueller Versuchung geriet, getan, und dabei immer einem aus seinem Innern kommenden unabweisbaren Befehl gehorcht. Psyche entspricht nun einer 1 In Fordham — Nach dem T od der Virginia zjj dichterisdien Personifizierung dieser inneren psychischen Kraft. Sie befiehlt, was er machen muß: er muß fliehen, und ihr Befehl enthält gleicäizeitig, wohin er nicht gehen darf: zu Astarte. Sie spricht im kategorischen Imperativ, und der Diditer gehorcht. Obwohl er in der nächsten Strophe erwidert, obwohl er ein paar Schritte in der Allee macJit, er wird am Ende doci von der Tür eines Grabes aufgehalten. "Wer ist nun Psyche? Sie spielt die gleiche Rolle wie der Doppelgänger des W i 1 1 i a m Wilson, nur noch viel nachdrücklicher als dieser. In dieser Geschichte wird der Held, der immer geneigt ist, sich vom Bösen mitschleppen zu lassen, in jeder der Situationen, in denen er bereit ist, der Sünde zu verfallen, oder in der er ihr verfällt, mit seinem ihn tadelnden Doppelgänger konfrontiert. Schließ- lidi erschlägt 'William Wilson seinen Doppelgänger, und be- merkt, daß er mit diesem Schlag sich selbst tötet. Der Doppel- gänger Wilsons ist demnach ein integrierender Teil seines Selbst; er deckt sich zum größten Teil mit seinem Gewissen oder, wie die Analytiker sagen, mit seinem Ü b e r - I c h. Psyche ist zwar weniger deutlich als jener Doppelgänger das „Gewissen" des Dichters, dafür aber ist sie um so energischer, und sie findet auch leichter Gehorsam als jener. Auch sie ist ein Ü b e r - I c h, ein integrierender Teil der psychisdien Struktur Edgars. Sie ist jedoch ein Über-Idi, das vom Weibe herkommt. Und da uns die Analyse gelehrt hat, im Über- I c h, das in jedem von uns haust, das Produkt der Introjektion der Erzieher — der Personen, die wir in unserer Kindheit liebten — zu entdecken, in ihm die Instanz zu erkennen, die unser ganzes Leben hindurdi die Verbote, die moralischen Richtlinien, welche von Personen ausgingen, die uns in unserer frühesten Kindheit umgaben, wirksam sein läßt, wagen wir es, der Psyche des Gedichtes einen andern Ursprung als dem Doppelgänger der Erzählung zuzuschreiben. Während im W i 1 1 i a m W i 1 s o n der Held sich offen gegen das männliche 2J6 Das Leben Edgar Poes Über-Ich auflehnt, das von der ihn verfolgenden väter- lidien Autorität herkommt, unterwirft sidi der Held des Gedichtes den Befehlen des weiblichen Ü b e r - I c h s, das von der Liebe der Mutter abstammt und ihm befiehlt. Astarte zu fliehen. Das ist der Fall Edgar Poes: daß seine Sexualität weniger durch die Autorität des Vaters in der ödipussituation als durdi die Fixierung an die Mutter seiner frühesten Kindheit sein ganzes Leben hindurch gehemmt worden war. Psydie war uns übrigens schon einmal in den Gedichten Edgar Poes als die Verkörperung der schützenden und über- irdischen Mutter-Imago entgegengetreten. Wir finden sie bereits in den Stanzen an Helen, die der erst Vierzehnjährige entworfen hatte. Dort wird Helen plötzlich als „Psyche" ange- sprochen: „Ach! Psyche, aus Zonen, die heiliges Land!" Die Psyche, die an die Stelle der Frances Allan, der Frau Stanard, an die Stelle aller Frauen, die ihn in seiner Jugend erzogen haben, trat, ist nun auch die gleiche, die in U 1 a 1 u m e den erwachsenen Dichter von seinem "Weg zu Astarte abhält. So ist Psyche einerseits die Mutter selbst, welcher der Dichter sein ganzes Leben hindurch im Unbewußten treu blieb, und anderseits ist sie die Mutter-Erzieherin, die durch Moral- verbote das heranwachsende Kind vom Inzest und zugleich von jeder Sexualität wegdrängt. Denn wovor fürchtet sich Psyche? Vor dem bleichen Glanz der Astarte, vor dieser Totenblässe, die das Liebes- objekt Poes seit jener Zeit zeigte, als die geliebte Mutter des Dreijährigen im Tod bleich dalag. "Warum aber hat Psyche vor diesem bleichen Glanz Angst? Der kleine Edgar liebte doch diese Gebrechlichkeit, diese Blässe, alle diese Attribute des Sterbens durch Schwindsucht, an der seine Mutter zugrunde gegangen war; er liebte neben diesen Attributen der Krankheit auch die des Todes, ganz einfach deshalb, weil sie die Attribute der Frau geworden waren, die In Fordham — Nach dem Tod der Virginia z^j ihm in der Welt am nächsten stand (Berührungsassoziation). ■Erst später (wahrscheinlich in der Zeit, da er bei den Allans I lebte), damals, als der erste Schub der frühreifen infantilen ■ Sexualität des kleinen Edgar verdrängt wurde, verdammte das Bewußtsein diese Lockung, die von der Toten ausging zu gleicher Zeit wie die Sexualität selbst, und über ihm schwebte das Verbot einer realen Vereinigung mit der Toten. Die Lockung wechselt dann im Bewußtsein sozusagen das algebrai- sdie Vorzeichen, im Unbewußten aber (aus dem L i g e i a, die AnnabelLee, Ulalume hervorkamen) blieb der Zauber erhalten, und darum gab es für diesen Konflikt zwischen be- wußtem Schrecken und der aus dem Unbewußten hervor- züngelnden Verlockung keine andere Lösung als das Kom- promiß: ein Leben von abnormaler Keuschheit. Daher reagiert Psyche auf die betörenden Rufe der Astarte, sowohl auf die "Weise, daß sie dem Dichter zu fliehen befiehlt, als auch durch ein Entsetzen, welches zur Folge hat, daß ihre Schwingen sinken, bis „die Federn... voll Kummer im Staub sie schleifte n". Die Leser, die mit der Eigenart und Derbheit nicht vertraut sind, in der sich die Symbolik des Unbewußten ausspridit, werden mir wohl nicht mehr weiter folgen, wenn sie mir überhaupt bis hierher gefolgt sind. Ich muß nämlich behaupten, daß das Sinken der Flügel Psyches, daß die geschleiften Federn ein konkretes Symbol für die Impotenz Edgar Poes sind. Tat- sächlidi ist der Flug im Unbewußten aller Völker ein Symbol für den Sexualakt: die Flügel passen in den antiken Dar- stellungen zu dem erigierten Phallus. Und die herabhängenden Flügel der Psyche symbolisieren die Tatsache, daß Edgar Poe trotz aller Glut seiner ätherischen Leidenschaft vor der Frau ohnmächtig blieb. Darum nützte es ihm nichts, wenn er zu Psydie sagt: Bonaparte: Edgar Poe. I. 17 258 Das Leben Edgar Poes „ . . . : Dies ist nur Träumen: Laß uns weitergehen in diesem flackernden Lidit! Laß uns baden in diesem kristallenen Licht! Sein prophetisch Leuchten strahlt Voll Hoffnung und Schönheit in dieser Nacht; Sieh', es flackert auf zum Himmel durch die Nacht! Oh, sicher dürfen seinem Leuchten wir vertrauen Und sicher sein, daß es uns ricJitig leiten wird. — Wir dürfen siciier einem Glanz vertrauen. Der richtig uns geleiten muß, Da es auf zum Himmel flammt durdi Nacht!" Er beruhigt Psycäie nicht. Und er mag sie nodi so sehr küssen, er mag nodi so sehr versuchen, sie ihrer Verdüsterung zu ent- reißen, ihre Zweifel und ihr düstres Sinnen zu besiegen und sie bis zum Ende der Zypressenallee mit sidi fort- zuziehen: am Ende werden sie dodi von einem Tor aufgehalten, vom Tor einer Gruft mit einer Insciirifl. Nun fragt der Diciter: „.Schwester', sprach ich, ,was steht geschrieben — Auf dem Tor dieser Grufl: mit der Inschrift?'" Und Psyciie erwidert: „jUlalume!', sprach sie, ,Es ist die Gruft Deiner Ulalume, die du verlorst!'" So taucht der Name mit dem seltsamen und düstern Klang in der Nacht des Gedicäites auf. Wo hat Poe diesen Namen hergenommen? Das weiß niemand. Es fällt einem nur die Analogie von Ulalume mit E u 1 a 1 i a, dem Titel eines älteren Gedicites (1845), auf, in dem Virginia besungen wird. Auch Eulalia steht im Zeichen der Astarte, aber einer Astarte, die am Tag aufscheint, und den ganzen Tag hindurch hell und stark leuditet; und die junge Eulalia — eine Seltenheit bei Poe — wird nicht bis ins Grab geführt. Ihre Schwester Ulalume hingegen versteht es, an ihrer Stelle tot zu sein und die Schritte des Diciiters durch die Tür ihres Grabes aufzuhalten. In Fordham — Nach dem Tod der Virginia 259 Durdi die Erscheinung eines Grabes, das den Weg zu Astarte versperrt, wird die Symbolik des Gedichtes wieder so deutlich, daß sie auch von nichtanalytischen Beobachtern ver- standen worden ist. Die Tote ist jetzt in persona vorhanden, nidit bloß durch ihre auf Astarte projizierte Blässe oder durch die in Psydie personifizierten Verbote. Ihr eigenes Grab, ihr eigener Leichnam hindert den Diditer, dem Weg zu folgen, der zu einer normalen Sexualität führen würde. Daher wird vor dieser düstern Mauer das Herz des Dichters „. . . wie Asdie und ernst Wie die Blätter, die gekräuselt und dürr waren — ", und plötzlich erinnert er sich an ein vergessenes Ereignis und rufi: aus: „ . . . Gewiß war es in dieser selben Oktobernadit, Daß idi wanderte, hierher wanderte — Daß idi eine fürditerlidie Last hierher bradite In dieser Nadit aller Nächte im Jahr. Ach, welcher Dämon hat mich hierher gelod«? Nun erkenne ich wohl diesen dunklen See von Auber, Dieses Nebelreich von Weir, Nun erkenne idi wohl diesen feuditen Sumpf von Auber, Dieses Waldland von Weir, wo die Weibgespenster umgehen." So findet der Dichter plötzlich sein Gedächtnis wieder: er erinnert sitäi, daß er im vergangenen Jahre tatsächlich durch eine mehr oder weniger titanische Zypressenallee eine fürchterlicheLasthieher getragen: den kleinen Sarg seiner Virginia. Wenn jedoch dieses erst vor kurzem statt- gehabte, und in seiner Wirklichkeit Poe so gegenwärtige Er- eignis im Gedicht zuerst verschleiert war, und so lange brauchen sollte, bis es wiedergefunden wurde, so hat dies seinen Grund darin, daß es ein anderes maskiert: ein Ereignis, das zu einer andern Zeit und an einem andern Ort stattgefunden hat, damals nämlidi, als das kleine Kind Edgar Poe eine andere zarte Tote, seine geliebte Mutter, hatte verlassen müssen, die man in einem 17* i6o Das Leben Edgar Poes •\ andern Sarg hinaustrug. Damit aber Poe sich dieser Erinnerung bewußt werde, hätte die Amnesie seiner Kindheit aufgehoben werden müssen; daher wird die reale Erinnerung in der Weise anerkannt, daß man sie auf eine andere überträgt, die zu anderer Zeit und an einem andern Ort stattgefunden hat, eine Übertragung, die übrigens sehr häufig in den Fällen des „de']ä i;«"^" vorkommt. Was sich ihm aufdrängte, war nichts anderes als die Analogie zwischen zwei gleidien Ereignissen und zwei gleichen Trauerzuständen. "Was er aber sieht, ist die „Nacht aller Nächte im Jah r", der „S e e" und „dieses Waldland von Weir, wo die Weib- gespenster umgehe n."^'^ Das astrale Grabgedicht kam aus den tiefsten Schichten der in Trauer versetzten Seele Poes. Und wenn der Kunstfreund es für eine der schönsten und ursprünglichsten Dichtungen Edgar Poes hält, so findet der Psychoanalytiker, es sei unter den Dokumenten, die das Leben des Dichters illustrieren, eines der wichtigsten. iji) Freud: Über Fausse reconnaissance. Ges. Sehr., Bd. VI, S. 76. 152) Poe hat unter dem Einfluß der Frau Whitman die letzte Strophe des Gedidites, allerdings ganz folgerichtig im Interesse des dramatisdien Fortschritts, unterdrückt; nach der Rückkehr der Er- innerung sinkt das Interesse des Diditers an seinem Thema. Diese letzte Strophe hatte übrigens keine andere Aufgabe, als die Straf- fälligkeit der von Astarte inspirierten Wünsche zu unterstreidien, ebenso wie den furchtbaren und düsteren Charakter des „Geheim- nisses", das in „diesen Wäldern" verborgen ist (V. E., Bd. 7, S. 213). Said we, then — the two, then — „Ah, can it Have been that the woodlandish ghouls, The pitiful, the merciless ghouls — ^ To bar up our way and to ban it From the secret that lies in these wolds — From the thing that lies hidden in these wolds — Had drawn up the spectre of a planet From the limbo of lunary souls, This sinfully scintillant planet From the Hell of the planetary souls?" In Fordham — Nach dem Tod der Virginia 261 Annabel Lee sagt aus, wie Poe im Unbewußten der Mutter seiner Kindheit, die in Virginia wiedererstanden war, treugeblieben war. U 1 a I u m e erklärt uns, warum es ihm in seinem Leben nie gelingen sollte, ihr untreu zu werden, und dies obwohl er immer wieder versuchte, der Mutter zu ent- kommen. Das eine dieser beiden Gedichte ist daher sozusagen das Positiv, das andere das Negativ des gleichen Themas. Aber es wurde wärmer, und der Frühling kam auch zu dem kleinen Haus, aus dem Virginia fortgegangen war. „Der Frühling kam, er (Poe) und Frau Clemm bauten einige Beete im Garten vor dem Hause an, sie pflanzten Blumen und Wein- stödce, die sie von den Nadibarn erhalten hatten, und als im Mai der Kirschbaum — (der gleidie, zu dessen Füi5en Virginia ihren Blutsturz bekommen hatte) — von neuem blühte, sah das Häuschen geradezu verführerisdi aus. Da gab es eine alte Gartenbank, die von einem früheren Mieter zurückgelassen worden war, und die Frau Clemm, nachdem sie sie repariert, gereinigt und wieder gestridien, unter den Kirsdibaum gestellt hatte. Auf dieser Bank stredite sich Poe oft aus, er blickte durch die Zweige hindurdi, in denen die Vögel und Bienen umherflogen, oder er plauderte mit seinen Lieblingstieren: mit einem Papagei und einer Amsel, deren Käfige in den Zweigen hingen... Dort lag der Dichter, wenn er von seinen langen Spaziergängen in der aufgehenden Sonne heimgekehrt war, bis ihn die Mutter zu dem einfachen Frühstüdc rief, zu dem Bretzel und den zwei Tassen starken Kaffees, oder, wenn es kein Bretzel gab, zu der Schnitte Brot mit einem gesalzenen Hering als Lederbissen ... Er liebte das Obst, und, wie uns seine Sdiwester sagt, Buttermilch und saure Milch, die man bei den Nachbarn bekommen konnte . . . ,Den größten Teil seiner Zeit', sagte Frau Clemm, ,verbrachte er im Freien. Er fürditete sidi vor der Einsamkeit im Haus und wollte in dem Zimmer, in dem Virginia gestorben war, nidit allein bleiben.'"^^^ 153) Susan Archer Weiss, The Home Life of Poe, New York, Broadway Publishing Company, 1907, S. 150/iji. Zitiert von H. Allen, Israfel, S. 738. 202 Das Leben Edgar Poes Dieses zweite Bild, das uns vom Witwer aus Fordham ge- zeichnet wurde, kontrastiert erheblich mit dem ersten, in dem uns ein in der Winterkälte durch die Trauer niedergedrüdster Mensch gesdiildert wird. Man würde sich aber täuschen, wollte man annehmen, daß dieses Frühlings- und Schäferbild die Rückkehr zur Gesundheit darstelle. Im Gegenteil: wenn Poe nicht mehr im Haus bleiben wollte und jetzt auf unendlidi langen Spaziergängen über die Felder lief, so geschah dies nur deshalb, weil seine Depressionskrise im Begriff war, in einen Zustand gesteigerter Erregung überzugehen. Er konnte sich nämlich jetzt ofl nicht einmal in der Nacht dazu entschließen, nadi Hause zu gehen, um sidi schlafen zu legen. Er zog es dann vor, unendlich lange in der Landschaft umherzuirren, besonders aber auf einem "Wiesenweg, der einen Aquädukt {High Bridge) entlang führte und plötzlich die Erde zu verlassen schien, um den Granitbögen zu folgen, die, soweit das Auge reichte, zwischen den Feldern und den Sternen aufgehängt waren. Dort ist, nach den Angaben der Frau Whitman, die U 1 a 1 u m e empfangen und gedichtet worden, und später auch Heureka. Stundenlang ging er so allein, kreuz und quer, nur die Sterne begleiteten ihn, die gleichen Sterne, zu denen er sich bereits in seiner Kindheit hingezogen gefühlt, damals, als er auf dem Balkon des Hauses, das dem John Allan gehörte, sein Observatorium errichtet hatte. Oder aber er blieb bei dem felsigen Absturz des Hügels, der nicht weit von seinem Haus entfernt war und den zum Teil Pinien und Zedern beschatteten, bis lange in die Nacht hinein liegen. Oder schließlich, wenn er nicht fortgehen wollte, mußte ihm Muddy in der gefürchteten Einsamkeit des Hauses oder des Gartens Gesellschaft leisten: nur Schlafengehen konnte er nicht. Muddy erzählt uns: „Er war ungern allein, und idi blieb gewöhnlich bei ihm. Manchmal bis vier Uhr morgens; er saß bei seinem Schreibtisch und schrieb und ich schlief beinahe auf meinem Stuhl ein. Als er Heureka schrieb, i ^^H In Fordham — Nach dem Tod der Virginia 263 ^^F spazierten wir miteinander im Garten auf und ab, er hatte seinen ^^B Arm um midi geschlungen, idi den meinen um ihn, bis idi so müde ^^^K war, daß ich nicht mehr gehen konnte. Jeden Augenblick blieb er ^^^0 stehen, um mir seine Ideen zu erklären, und er fragte mich, ob ich ^^m ihn verstehe. Ich saß immer neben ihm, wenn er schrieb, und alle ein ^H oder zwei Stunden bekam er eine Tasse mit warmem Kaffee."'^^' ■■ Tatsächlich schrieb jetzt Poe in dem Erregungszustand, dem er verfallen war und der an Stärke dem vorangegangenen Depressionszustand glich, sein Heureka. f I Über den tief ern analytisdien Sinn von Heureka werden wir im Zusammenhang mit den Geschichten Poes sprechen. Was aber dieses Buch dem Psychiater bedeutet, kann und muß schon jetzt angedeutet werden. Heureka, dieser Versuch einer Kosmogonie, der von einigen Kritikern als das genialste "Werk Poes angesprochen wird, ist trotz der Qualitäten, die im Stil und in der Dialektik liegen, das "Werk eines überreizten Menschen, der dem Größenwahn verfallen war. Nie, in seinem ganzen "Werk nidit, ist Poe in dieser Richtung so weit wie hier gegangen. Der Autor, der gewiß kein wissenschafllicher Geist war, sich aber zum mindesten für einen Logiker von über- menschlichen Fähigkeiten hielt, setzt sich hier mit dem "Weltall auseinander. Er entdeckt das Geheimnis des Universums und offenbart es den Menschen: er ist größer als Newton, als Leibniz, als Laplace, denen die Phantasie fehlt, wie er sagt, um hinter dem Gesetz das Prinzip zu erfassen. Daher verhält sich der Raum, den der große französische Astronom erfassen konnte, zu dem Raum seiner Theorie „wie eine Seifenblase zum Ozean, auf dem sie schwimmt".'^^ IJ4) hrafel, S.73J. 155) Poe an Charles Fenno Hoflfman, Fordham, 20. September 1848 (V.E., Bd. 17, S.302). 204 Das Leben Edgar Poes Er verachtet die aristotelisdie „Deduktion" ebenso wie die „Induktion" Bacons; nur die „Intuition" zählt und die „Kohärenz" dessen, was die Intuition bloßlegt. In weniger als hundertfünfzig kleinen Seiten stellt uns Poe das System des Weltalls dar, das ihm durch seine einzigartige und die gewöhn- liche menschliche Fähigkeit übersteigende „Intuition" offenbart wurde. Im Anfang war Gott. Und Gott sandte eines Tages das Atom an sich aus, aus dem durch sukzessive „Ausstrahlungen" wie in einer Kugel die Vielheit hervorging, das ganze Weltall der Atome und Sterne — das rund und endlich ist — , während dem räumlichen "Weltall die Unendlichkeit gehört. Nachdem das Wollen Gottes beendet war, begannen zwei einander ent- gegengesetzte Prinzipien die Welt zu beherrsdien: die Repul- sionskraff — äquivalent mit der Elektrizität — , weldie die Atome hindert, sich zu schnell wieder miteinander zu vereinigen und der Anziehung nachzugeben, und als Gegensatz dazu, als Reaktion gegen die Zerstreuungstendenz, jene Attraktions- tendenz, die unbesiegbar die Atome zur Ureinheit wieder zurückführen will. Dieses letztere Prinzip ist die Grundlage des Newtonschen Gesetzes von der Gravitation. Die Vereinheit- lidiungstendenz wird schließlidi über die hemmende Repulsions- krafl: triumphieren und alle Atome wieder ins ursprünglidie Zentrum zurückleiten, d. h.: das Weltall, das aus dem Nichts hervorgegangen ist, wird in Nichts zurückkehren. Nur Gott allein wird weiterbestehen. Die von Gott wiederaufgenom- menen Seelen werden ihrerseits Gott sein; Poe wird Jehova sein. So identifiziert sich etwas in dem Witwer von Fordham mit Gott, mit dem Vater, zu dem das ganze kranke Sein des Dichters, der um seine Frau trauert, und vom Leben enttäusdit ist, nun zurückstrebt. Wir werden später ausführlidier über diese megalomanische und mystische Krise, aus der Heureka hervorging, zu sprechen haben. 1 In Fordham — Nath dem Tod der Virginia 265 Er verbrachte die Nächte beim Aquädukt zu Fordham, um unter den Sternen über Gott und die letzten Geheimnisse des "Weltalls nadizudenken; mit fiebernder Feder brachte er dann, während Frau Clemm den Kaffee vorbereitete, bis vier Uhr morgens die kosmischen und mystischen Träume- reien, welche die "Welt revolutionieren sollten, zu Papier. Der Zustand von Schlaflosigkeit und übersteigerter intel- lektueller Erregung, in dem Poe sich befand, war wie sein ganzes übriges Verhalten symptomatisch für seine geistige Erkrankung. Ende 1847 entschloß sidi der von seinem Genie berauschte Poe, die Veröffentlichung seines "Werkes nicht abzuwarten, sondern seine „Entdeckung" unverzüglich der "Welt mit- zuteilen. Sein Freund "Willis organisierte für ihn bei der Society Library in New York einen Vortrag über Heureka. Das Reinerträgnis sollte dazu dienen, den noch immer nicht auf- gegebenen Stylus endlich erscheinen zu lassen. Am 3. Februar 1848 erschien Poe wieder in der Öffentlich- keit. Es regnete und der Saal, in dem er sprechen sollte, war schlecht geheizt. Ungefähr sechzig Personen waren anwesend. Zweieinhalb Stunden lang sprach Poe im Tonfall einer ver- zückten lyrischen Pathetik, er beschwor vor dem halbleeren Saal den Gott des Beginns, das Atom an sich, die Ausstrahlung, die Repulsionskraft, die At- traktionstendenz und den Gott des Endes. Das verblüffte Publikum hörte ruhig zu: Poe sprach beredt, überzeugt und sein Eifer machte Eindruck. Aber was er sagte, war kaum zu verstehen. Die Zeitungen machten sich dann in ihren Berichten über ihn lustig. Das verletzte Poe sehr und er bemühte sich, in seinen Briefen den Freunden zu erklären, wovon er gesprochen habe, und wie wichtig sein Thema sei. „"Was ich auseinandergesetzt habe, wird (mit der Zeit) die "Welt der Physik und Metaphysik I 266 Das Leben Edgar Poes revolutionieren. Idi behaupte das zwar ganz ruhig, aber ich be- haupte es."^^" Der Vortrag über Heureka hatte jedodi fast nidiis ein- gebradit, kaum fünfzig Dollar. Der Stylus konnte also wieder nicht ersdieinen. Nun machte Poe, der von seiner überragenden wissensdiaftlichen Begabung überzeugt war, den Versuch, Heureka zu veröffentlichen. Er suchte George P. Putnam auf, einen der Verleger, die seine Geschichten und Gedichte herausgegeben hatten, und bot ihm Heureka auf das feier- lichste an. Er war von der Wichtigkeit des Werks derart über- zeugt, daß er, ohne mit der Wimper zu zucken, Putnam vor- schlug, eine erste Auflage von fünfzigtausend Exemplaren drucken zu lassen, die nadi seiner Meinung sofort vergriffen sein müßten, und durch die sein Glück und das seines Ver- legers auf der Stelle gemacht wären. Putnam war sehr geduldig und freundlich mit dem seltsam erregten Autor. Er nahm Heureka an, druckte aber nur fünfhundert Exemplare. H e u r e k a, ein Gedicht in Prosa, wie Poe es nannte (damit hat er es genauer bezeichnet, als er ahnte), erschien im März 1848 mit einer Widmung für Alexander von Humboldt. Die kleine Auflage ging nur sehr langsam ab. Poe aber hielt sich weiter für das größte Genie der Welt. Er mußte leben; und darum gab er für einige Zeit seine glanzvollen Spekulationen auf und hielt in Lowell, in Provi- dence Vorlesungen, aber über Themen, die zugänglicher waren als eine Betrachtung über das Weltall. Er sprach über die Philosophie der Komposition, in der die Ent- stehung des berühmten Raben ebenso „rational" gedeutet wurde wie die aller Poesien, er sprach über das poetische Prinzip, in dem das zentrale Thema aller Poesie Poes, die 156) Poe an Eveleth. New York, 29. Februar 1848 (nadi Israfel, S. 742). _ In Fordham — NaA dem Tod der Virginia 267 sdiöne und tote Frau, in mandberlei Rhythmen glorifiziert wurde, und versudite, diese Themen ein wenig zu Geld zu machen. * Aber trotz Gott und Welt, denen nun seine große, neue Liebe, sein mächtiger und jüngster Rausdi galten, dürstete Poe im Herzen immer wieder nadi der Frau. Er mußte in seinem ewigen Kummer stets von neuem von Frauenhänden gesdiützt, gestreichelt werden, und wenn bei Frau Clemm der Hafen war, in den sidi seine arme und bedrohte Existenz geflüchtet hatte, so träumte er doch auch von einer andern Liebe, in der die Mutter und die ideale Geliebte miteinander verschmolzen. Frau Shew war der Engel, der die letzten Tage der Virginia und die Trauer Edgars mildern geholfen hatte. Sie interessierte sich wenig für Literatur, hatte kaum einige Werke Poes gelesen, aber da sie einen „medizinischen" Verstand besaß, begriff sie ihren Schützling besser als irgendeine der „literarischen Flammen" des Dichters. Sie war ein klar denkender Mensch mit einem gütigen und verstehenden Herzen. Daher brachte sie für den "Witwer nicht nur Nahrung und Kleider auf, sondern auch menschliches Mitfühlen und ein Verständnis für seine seelische und physische Not. Im Frühjahr 1848 kam Poe häufig wieder in die Stadt; dort stand ihm ihr Haus ebenso offen wie ihr Herz. Sie erlaubte es ihm, die Möbel in ihrem Salon nach den Kanons anzuordnen, die der Dichter in seiner PhilosophiederWohnungs- einrichtung ausgearbeitet hatte. Der Ton, in dem er sidi dafür bedankt, zeigt schon, weldie Leidenschaft seine Be- schützerin ihm einflößte. „Louise, strahlendste, Sie sind die am wenigsten selbstsüditige unter all den Frauen, die midi je geliebt haben! ... Es bereitet mir soldies Vergnügen, daran zu denken, daß Sie und die Ihren sidi in diesem Musikzimmer und in dieser Bibliothek befinden. Louise, idi 208 Das Leben Edgar Poes habe großes Vertrauen zu Ihrem Gesdimad; in diesen Dingen, und idi weiß, daß ich Ihnen mit all dem, was ich angeschafft habe, eine Freude machen werde. Als ich Sie das erstemal nach dem Tode meiner Virginia besuchte, bemerkte ich mit großem Vergnügen das Bild, das über Ihrem Klavier hängt, und das ein richtiges Meisterwerk ist; und ich bemerkte die Dimensionen aller Ihrer Bilder, ... die zarte Wirkung der Vorhänge in Ihren Fenstern und das Karmesinrot, und das Gold ... Ich war entzüdst, als ich sah, daß die Harfe und das Klavier nicht in einer Hülle steckten. Und idi werde die Anmut und Schönheit der Bilder von Raffael und vom „Cavalier" nie mehr vergessen! Und die Gitarre mit dem blauen Band, das Musikpult und die antiken Vasen! Ich war darüber er- staunt, daß ein kleines Mädchen vom Lande, wie Sie, so viel Geschmack haben und eine so klassische Atmosphäre schaffen könne."!«' Wie die „Helen" von ehemals führte also auch Marie-Louise Shew Edgar an die „klassischen" Gestade zurück, wo er von dem Bild einer schützenden Mutter erwartet wurde. Gehorsam folgte er ihr, er ging mit ihr in die Kirciie, nachdem er so lange die heiligen Stätten gemieden, zu denen er als Knabe Frances Allan begleitet hatte. Er sang die Kirchenlieder mit seiner schönen Tenorstimme mit und hatte seit jener Zeit in Richmond auch die Antworten im Gottesdienste nicht vergessen. 157) Poe an Frau Shew. Sonntag abends. V. E., Bd. 17, S. 297: Louise! my brightest, most unselfish of all who ever loved me! . . . I shall have so much pleasure in thinking of you and yours in that music-room and library. Louise, I give you great credit for taste in these things, and I know I can please you in the purchases. During my first call at your house afler my Virginia's death, I noticed with so much pleasure the large painting over the piano, which is a masterpiece indeed; and I noticed the size of all your paintings, the scroUs instead of set figures of the drawing-room carpet, the soft effect of the window shades, also the crimson and gold ... I was charmed to see the harp and piano uncovered. The pictures of Raphael and the „The Cavalier" I shall never forget — their softness and beauty! The guitar with the blue ribbon, music-stand and antique jars! I wondered that a little country maiden like you had developed so classic a taste and atmosphere . . . In Fordham — Nach dem Tod der Virginia 169 l. ^1 häufiger das Haus der Frau Shew. Er klammerte sich ganz ^1 verzweifelt an sie, ihn dürstete nach ihrer schützenden Liebe. ^m Und mehr als je hatte er diese Liebe nötig. m Schon die kleine Reise, die er 1847 nach Philadelphia unternommen, um dort einige Artikel bei Graham unter- zubringen, hatte ein klägliches Ende gefunden. Trotzdem er weniger als je den Alkohol vertrug, trank er, und Petersen, sein früherer Kollege bei Graham's Magazine, mußte ihn „retten" und den Schwerkranken zu Frau Clemm zurückschicken. 1 „Wenn Sie nicht im richtigen Augenblick und so entschieden l^ geholfen hätten, wäre ich wahrscheinlich nicht mehr am Leben H und hätte Ihnen diesen Brief nicht mehr schreiben können", ^1 schrieb ihm Poe aus Fordham.^^^ ^1 Frau Shew berichtet in ihrem Tagebuch von einer andern ^1 Krise Poes im Frühling 1848. Er war zu Besuch gekommen ^P und beide zogen sich in das kleine Häuschen zurück, von dem " aus man den Garten sehen konnte. "Während sie den Tee tranken, beklagte sich Poe bei Frau Shew: er solle ein Gedicht schreiben, finde aber dazu nicht die Inspiration. Frau Shew wollte ihm helfen, sie holte eine Feder, Tinte und Papier und legte sie vor ihm auf den Tisch. In diesem Augenblick hörte man Glocken läuten. Poe, dessen Gehörsinn und Nerven damals geradezu übersensibel waren, begann zu stöhnen: „Ich kann heute Abend das Glockenläuten nicht vertragen, idi kann nicht schreiben, ich habe kein Thema, ich bin ganz leer." Nun schrieb Frau Shew auf das Papier, das vor dem Dichter lag: „Die Glocken, die kleinen silbernen Glocken" {The bells, the little, silver bells), und Poe beendigte die Strophe, um dann wieder 158) hrafel, S.738. Without your aid, at the precise moment and in the precise manner in whidi you rendered it, it is more than probable that I should not now be alive to write you this letter . . . i 2/0 Das Lehen Edgar Poes in seinen Zustand von Stumpfheit zu verfallen. Frau Shew bedrängte ihn von neuem, sie begann eine zweite Strophe mit den Worten: „Die schweren Glocken aus Eisen" {The heavy iron bells), Poe beendigte die Strophe und schrieb darüber: „Von Frau M. L. Shew", und war dann wieder unfähig, das Gedidit fortzusetzen. Nadi dem Essen führte man ihn hinauf und brachte ihn ins Bett, wo er in einen Zustand tiefer Stumpfheit verfiel. Frau Shew ließ den Dr. Francis holen. Der Doktor und sie saßen neben dem Bett und beide notierten die Symptome. Der Puls war sehr schwadi und unregelmäßig. Der Doktor sagte: „Er hat ein Herzleiden und wird nicht alt werden." Frau Shew hatte sdion alle diese Symptome beob- achtet, beide hatten den Eindrudi, der Diditer sei dem Sterben nahe oder dem Wahnsinn. Poe verbrachte diese Nacht bei Frau Shew. Er schlief volle zwölf Stunden hindurch. Am nädisten Tag brachte ihn Dr. Francis nadi Fordham.^"' Nadi dem, was Frau Shew uns hier berichtet, scheint Poe, wie die auditive Überempfindlichkeit und sein stumpfes Ver- halten zeigen, an diesem Tag eher unter dem Einfluß des Opiums als unter dem des Alkohols gestanden zu sein. Idi wäre aber trotzdem nicht erstaunt, wenn es sich herausstellen würde, daß er damals auch wieder zu trinken begonnen hatte, wie jedesmal, wenn eine seiner platonischen Leidensdiaften so stark wurde, daß sie ihn in die Gefahr brachte, sich einer Frau zu sehr zu nähern. In solcher Zeit wurde dann, wie wir sdion gezeigt haben, das Wirtshaus seine Zufluchtsstätte und der Zu- stand von Trunkenheit, in dem er sidi vor der Geliebten zeigte, konnte sogar seine Verteidigung werden. Wie immer aber dem gewesen sein mag und was immer für ein Gift er an diesem Tag zu sich genommen, an dem er die Glocken sdirieb, jenes Gedidit, das seinen besonderen Wert durdi die Harmonie der 159) Israfel, 8.7475. In Fordham — Nach dem Tod der Virginia ^i Imitation und die "Wortassonanzen erhält und in dem wieder einmal Hymen und Tod nebeneinander besungen werden — die Prognose des Dr. Francis, der Poe nach dieser Krise sagte, wenn er nidit auf jedes Reizmittel verzichte, sei sein Ende nahe, war nur allzu wahr. Es fiel Marie-Louise Shew immer schwerer, mit Poe Freund- schaft zu halten. Sie war nicht eine Dichterin wie Frau Osgood; die platonische Leidenschaft des „großen Dichters" konnte ihr daher nicht zu Kopf steigen. Poe war für sie nichts anderes als ein sehr großer und sehr unglücklicher Patient, bestenfalls ein Freund, und die Freundschaft mit diesem Tobsüchtigen wurde scUießlicii unerträglich und kompromittierend. Daher entschloß sie sich im Juni dieses Jahres, nachdem er sich wieder einmal ungebührlich benommen hatte, mit ihm zu brechen. Sie schrieb ihm, er solle sie nicht mehr aufsuchen und auch sie habe nidit mehr die Absicht, nach Fordham zu kommen. Poe antwortete mit einem Schrei der Verzweif- lung, der zeigt, weldien Grad von Exaltiertheit die platoni- sche Leidenschaft für diese mütterliche Frau hatte erreichen können: „Kann es wahr sein, Louise, daß Sie den Gedanken gefaßt haben, Aren unglüddichen und unglüdseligen Freund und Patienten zu verlassen? .. . Ich ahnte das sdion seit Monaten. Und idi wieder- hole es, mein guter Genius, mein edles Herz! Soll das auf all diese Wohltaten und den Segen folgen, die Sie mir so edelmütig gewährt haben? Müssen Sie wirklidi aus meiner in Finsternis getauditen und ,verIorenen' Seele versdiwinden, wie alles, was idi liebe oder wunsAe? Idi habe Ihren Brief gelesen, und nodi einmal gelesen, und :4 kann es mdit für mögliA halten..., daß Sie bei Sinnen waren, als Sie ihn gesdirieben haben. (Ich weiß, Sie haben Tränen de r Angst und des Bedauerns beim Schreiben ver- g I e ß e n m ü s s e n!) Ist es möglidi, daß Ihr guter Einfluß für midi verloren sem soll? So zärtlidie und edite Naturen wie die Ihre sind treu bis zum Tod; aber Sie sind dodi nidit tot, Sie sind ja voll Leben und Sdiönheit! Louise, Sie traten ins Zimmer... in Ihrem weißen 272 Das Leben Edgar Poes flatternden Kleid: .Guten Tag, Edgar!' Ihre Eile verriet so viel kon- ventionelle Kälte, und die Art, wie sie in die Küdie eintraten, um Muddie zu suchen, ist meine letzte Erinnerung an Sie. Aus Ihrem Lädieln spradi Liebe, Hoffnung und Verzweiflung, statt, wie früher, Liebe, Hoffnung und Mut. Oh, Louise, wieviel Kummer erwartet Sie! Ihre edle, mitfühlende Natur wird bei der Berührung mit dieser hohlen und herzlosen Welt immer wieder ver- letzt werden; und ich, adi! wenn mich nicht eine wahre, zärtliche und reine Frauenliebe rettet, ich werde kaum mehr , ein Jahr lang leben! In wenigen kurzen Monaten wird man wissen, wie lange meine physische und seelisdie Kraft mich aufrediterhalten kann. "Wie soll ich an die Vorsehung glauben, wenn S i e mich mit soldier Kälte ansehen? Waren es nicht Sie, die meinen Geist wieder lebendig gemacht, und die mich im Glauben an Gott bestärkt hat? . . . und in dem Glauben an die Menschheit? Louise, ich habe Ihre Stimme gehört, nachdem Sie aus meinem Blick entschwunden waren . . . ; ich hörte Ihre Stimme; Ich hörte, wie Sie weinend sagten: ,Liebste Muddie!' Ich hörte, wie Sie mit meiner Catterina sprachen, aber das war nur mehr wie in einer Erinnerung . . . Nichts entging meinem Ohr, und ich war überzeugt, daß nicht Sie es gewesen . . . , die jene Worte sprach, welche Ihrer Natur — und Ihrem zärtlichen Herzen fremd sind! Ich hörte, wie Sie unter Schluchzen meiner Mutter sagten, welches Pflichtgefühl Ihr Herz erfüllte, und ich hörte, wie sie darauf antwortete: ,Ja, Loui . . . , ja! . . .' Ich fühlte, daß mein Herz stillstand und ich war sicher, daß ich unter Ihren Augen sterben werde. Louise, wie lieb war es von Ihnen, und wie glücklich machte es mich, daß Sie eine Träne in Ihren lieben Augen hatten, und daß Sie das Fenster öffneten und daß Sie von der Goyaven- marmelade sprachen, die Sie für mein Halsleiden mitbrachten . . . Louise, ich fühle, daß ich unterliegen werde — schon ist ein Schatten auf Ihre Seele gefallen und spiegelt sich in Ihren Augen. Es ist z u spät — die grausame Flut hat Sie schon von mir fortgerissen . . . , das ist keine gewöhnliche Prüfung — sondern eine schreckliche. So seltene Seelen wie die Ihre verschönern die Erde so sehr! Sie ent- schädigen für alles Abstoßende und Scheußliche . . . aber Sie müssen wissen, und seien Sie davon überzeugt, daß ich bedauern würde und voll Kummer wäre, wenn irgend etwas von dem, was ich geschrieben habe, Sie verletzt hätte. Mein Herz hat Sie niemals beleidigt. Sie stehen in meiner Achtung — ich /läx Lm^ ^ aMk^^^ i^^^-^j A*^ '^'^ ^■""■'^ /^ lrVirK< fe» /"^ ^ InH^Unvi/t^ _ A^ •*<-<< iJ-tt/H - ' / " ^ / '' I yV\ji^ti "-/ ^-e-MvC •"« .^0^ W^ i^Ä-w i/ra-y i^n-rU. M ^^k'oVvoi*; -»mcÄ/'. «' e^iC^riA /Ali. ri cii. l k ^^ /yfA.Ve.^ 1^^ |Kn^. «^"(^ JoAj^^.'^^U 'Hl- FAKSIMILE DES BRIEFS EDGAR POES AN Mrs. SHEW vom 29. Jänner 1847 I In Fordham — Nado dem Tod der Virginia 273 betone das feierlichst — neben der Freundin meiner Jugend, der Mutter meines Kameraden, von der ich Ihnen erzählt habe . . .""» Aber Frau Shew ließ sich nidit erweichen, und verschwand wie die vielen „Mütter", die ihr im Leben Poes vorangegangen waren, aus dem Gesichtskreis ihres „Kindes". 160) Poe an Frau Shew, Juni 1848 (V. E., Bd. 17, S. 298— 300): Can it be true, Louise, that you have the idea fixed in your mind to desert your unhappy and unfortunate friend and patient? ... So I have had premonitions of this for months. I repeat, my good spirit, my loyal heart! must this follow as a sequel to all the benefits and blessings you have so generously bestowed? Are you to vanish like all I love, or desire, from my darkened and „lost soul"? I have read over your letter again and again, and cannot make it possible . . . that you wrote it in your right mind. (7 know you did not without tears of anguish and regret.) Is it possible your influence is lost to me? Sudi tender and true natures are ever loyal until death; but you are not dead, you are füll of life and beauty! Louise, you came in . . . in your flowing white robe — „Good morning, Edgar". There was a toudi of conventional coldness in your hurried manner, and your attitude as you opened the kitdien-door to find Muddie, is my last rernemhrance of you. There was love, hope, and sorrow in your smile, instead of love, hope, and courage, as ever before. O Louise, how many sorrows are before you! Your ingenuous and sympathetic natura will be constantly wounded in its contact with the hollow, heartless world; and for me, alas! unless some true and tender, and pure womanly love saves me, I shall hardly last a year longer alive! A few Short months will teil how far my strength (physical and moral) will carry me in life here. How can I believe in Providence when you look coldly upon me? Was it not you who renewed my hopes and faith in God? ... and in humanlty? Louise, I heard your voice as you passed out of my sight leaving me . . . ; but still I listened to your voice. I heard you say with a sob, „Dear Muddie". I heard you greet my Catarina, but it was only as a memory . . . nothing escaped my ear, and I was convinced it was not your generous seif... repeating words so foreign to your nature — to your tender heart! I heard you sob out your sense of duty to my mother, and I heard her reply „Yes, Loui . . . yes". ... I feit my heart stop, and I was sure I was then to die before your eyes. Louise, it es well — it is fortunate — you looked up with a tear in your dear eyes, and raised the window, and talked of the guava you had Bonaparte: Edgar Poe. I. jg ^ 274 Das Leben Edgar Poes Poe war mit seiner ungeheuren Muttersehnsudit nun auf „Muddy" allein angewiesen. Aus jener Zeit stammt wahr- sdieinlidi das sdiöne Sonett, das er ihr gewidmet hat: An meine Mutter ""• Weil tief idi fühle, daß in Himmeln dort Die Engel, wenn sie Liebesworte nennen, Kein heilig-heißer und kein inniger Wort Als „Mutter" zueinander flüstern können, Drum gab ich diesen liebsten Namen dir — Die — mehr denn Mutter mir in meinen Sdimerzen — Der Tod, als er Virginias Geist von hier Befreit, zum Horte setzte meinem Herzen. brought for my sore throat . . . Louise, I feel I shall not prevail — a shadow has already fallen upon your soul, and is reflected in your eyes. It is too late — you are floating away with the cruel tide . . . it is not a common trial — it is a fearful one to me. Sudi rare souls as yours so beautify this earth! so relieve it of all that is repulsive and sordid . . . but you must know and he assured of my regret and my sorrow if aught I have ever written has hurt you. My heart never wronged you. I place you in my esteem — in all solemnity — beside the friend of my boyhood — the mother of my sdiool- fellow, of whom I told you . . . 161) Tomy Mother Because I feel that, in the Heavens above, The angels, whispering to one another, Can find, among their burning terms of love, None so devotional as that of „Mother", Therefore by that dear name I long have called you — You who are more than mother unto me. And fill my heart of hearts, where Death installed you. In setting my Virginia's spirit free. My mother — my own mother, who died early, Was but the mother of myself; but you Are mother to the one I loved so dearly, And thus are dearer than the mother I knew By that infinity with whidi my wife Was dearer to my soul than its soul-life. Flag of Our Union, 1849. Der zitierte Text ist der Griswolds, 1850; V.E., Bd. 7, S. 116. In Fordham — Nach dem Tod der Virginia 27$ Die eigne Mutter, die sdion früh mir starb, War m i r nur Mutter, du hingegen bist Von ihr die Mutter, die mein Lieben warb; Und so viel mehr, als meiner Seele ist Mein Weib denn meiner Seele eignes Leben, Muß ich audi dir denn eigner Mutter geben. Das ist das einzige Gedicht, in dem er seine Mutter, aller- dings audi hier nur in Verbindung mit Frau Clemm, besonders erwähnt. Aber trotz dieses Gedidites war Frau Clemm nur eine „Muddy", und dieser Name erinnert zugleich (wie wir es schon gezeigt haben) an „Mutter" und „Schmutz", also an die niedrigen Arbeiten im Haushalt, die Frau Clemm in ihrer un- endlidien und unfaßbaren Zärtlichkeit verrichten mußte. Sie konnte daher den Forderungen, welche die Phantasie ihres Sohnes an sie stellte, nicht genügen. Daher vergaß Edgar Poe noch im gleichen Sommer Marie- Louise; und er bemühte sich, seine Psyche zu einer neuen Astarte mitzureißen, die sdion am Horizont seines Lebens auftaudite. 18» i PROVIDENGE UND LOWELL HELEN UND ANNIE Die Dichterin Sarah Helen Whitman, geborene Power, war eine hübsche, anmutige, aber auch sehr preziöse, immerfort müde und kränkliche kleine Person, die sich in flatternde Schleier hüllte. Sie atmete den Duft eines mit Äther befeudi- teten Taschentuchs ein, und ihre Sdiwäche drohte unaufhörlidi sich in Ohnmacht zu verwandeln, was damals überaus modern war. In jener Zeit, in welcher der amerikanische „Transzendenta- lismus" häufig in Spiritismus ausartete, gehörte Helen Whitman zu den Lebewesen, die an der Grenze zum Jenseits lebten. Sie hieß unter Freunden die „Prophetin von Providence" und war weithin bekannt als „Spiritualistin", Dichterin und schöne Frau. Sie war damals fünfundvierzig Jahre alt, seit zehn Jahren Witwe, aber noch immer sehr anziehend. Poe, der von Helen Whitman schon wegen ihrer Gedichte und noch bevor er sie kannte, begeistert war, schrieb ihr übrigens etwas später: „Hat denn die Seele ein Alter?" Der große Kritiker, der gegen die dichtenden Frauen so ofl nachsichtig gewesen, hörte aus den Dichtungen der Frau Whitman, die uns heute sen- timental, langweilig und vergilbt erscheinen, den Tonfall der echten Poesie heraus. Helen sprach eben das aus, was Edgar fühlte, sie war eine wahre Schwesterseele! In der Zeit aber, in der er zum erstenmal von ihr hörte, reizten noch andere Liebschaften seine Phantasie. Als er drei Jahre vor den Er- eignissen, die wir jetzt darstellen wollen, mit Frau Osgood durch Providence gekommen war, hatte er sich sogar, wie wir Providence und Lowell — Helen und Annie 277 wissen, geweigert, seine Freundin zu der „Prophetin von Providence" zu begleiten. In einer Sommernacht in Providence jedoch war Poe, als er auf Frau Osgood wartete, die einem Vortrag beiwohnte, in die Straße geraten, in der Helen Whitman wohnte. Und (auch davon war bereits die Rede) er hatte sie im Mondsdiein auf der Schwelle ihrer Tür stehen gesehen, als sie frische Luft schöpfte. Ihr „poetisches" Aussehen verführte ihn schon damals, der Eindrudi, den er mitnahm, war überaus stark. Er verlegte später im Gediciit An Helen die Vision im Mondschein in einen Rosengarten, wobei die Augen der Helen, diese Augen, die das stärkste waren, was Poe bei Frauen anlockte, die Stelle der Sterne vertraten: „zwei liebliche, funkelnde Venussterne" (X'wo swettly scintillant Venuses), zwei Astarten. Zur Zeit dieser ersten Begegnung regierte aber nocii Frau Osgood im Herzen des Diciiters, dann kamen die lange Agonie der Vir- ginia, ihr Tod, und Frau Shew, und Ulalume und Heureka. Nun aber war Heureka ausgeträumt, und nach der Flucht vor Frau Osgood hatte er die Flucht vor Marie-Louise Shew ergriffen. In dem Haus, das von Virginia verlassen worden, war nur mehr die Muddy übriggeblieben. Wie traurig war das Leben in diesem Hause für ein Herz, das nach Liebe und Ruhm dürstete! Kann es uns daher überraschen, daß die Phantasie Edgar Poes in dieser Einsamkeit bereit war, den Blick auf Providence zu riditen, wo der Stern einer Dichterin glänzte? Die Sache wurde ihm dadurtii leicht gemacht, daß er von Frau Whitman eine Einladung erhielt. Im Februar 1848, zu einer Zeit also, als Poes Gedanken noch um Marie-Louise Shew kreisten, las Frau Whitman an einem Abend, der anläßlich des Heiligen Valentinstags^"^ bei Miss Lynch stattfand, bei dem Poe 163) Am St. Valentinstag dürfen in den angelsächsisdien Ländern die Frauen dem Mann ihrer Wahl anonym ihre Neigung offenbaren. 2/8 Oas Leben Edgar Poes nidit anwesend war, ein Gedicht vor, das sie geschrieben und an den „Raben" geriditet hatte. Sie fühlte sidi von diesem damals überaus berühmten Vogel sehr angezogen, und einige Mitteilungen über den großen Eindruck, den sie auf ihn in jener Mondnadit in Providence gemacht haben soll, schienen audi ihr zu Ohren gekommen zu sein: Oh du, düsterer und alter Rabe; Vom plutonisdien Gestade der Nacht Erheben sidi und flattern vor meiner Tür Oft im Traum deine gespenstigen Flügel — Dein Sdiatten verdunkelt oft den Mondsdiein, Der an der Tür meines Zimmers schläft. Romeo spridit von den „weißen Tauben, die Mit den Raben zur Nacht versammelt sind". Aber sähe ich deinen Flügel, Wie er den Weg des silbernen Lidits herabschießt Und hinabsteigt zu den Sdiwänen und kleinen Tauben, Das wäre für midi ein noch edleres Schauspiel . . . Adi! düsterer Gespensterrabe! Willst du für mein Ohr und mein Herz Der treueste Rabe sein, der je Die Flügel schlug und die Verzweiflung krächzte? Keiner der Vögel, die durch den Wald irren, Soll unseren hodigelegenen Horst mit uns teilen.^°* 164) Israfel, S. 761, fünf Strophen sind ausgelassen. Oh! thou grim and ancient Raven, From the Night's Plutonic shore, Oft in dreams, thy ghastly pinions Wave and flutter round my door — Oft thy shadow dims the moonlight Sleeping on my diamber door. Romeo speaks of „White doves trooping, Amid crows athwart the night", But to See thy dark wing swooping Down the silvery path of light, Providence und Lowell — Helen und Annle 279 Durch die Vermittlung der Frau Osgood sdiickte Miss Lynch diese Verse, die bei ihr vorgelesen worden waren, an Poe, aber ohne ihm zu sagen, wer sie geschrieben hatte. Poe er- kannte jedoch die Handsdirift wieder. Kurze Zeit nachher ver- öffentlidite das Home Journal das kleine Gedidit. Poe war begeistert. Im Juni bradi Frau Shew mit Poe. Und um die gleiche Zeit hörte Maria Mac-Intosh, eine der „Literati", auf einer Mond- scheinsoiree bei einer ihrer Freundinnen in Fordham, wie Poe im Ton höchster Begeisterung von Frau Whitman sprach. Sie kam bald darauf nadi Providence und erzählte sicherlich ihrer Freundin davon. Aber damit hatte es einige Zeit hindurch sein Bewenden. Im Juli organisierte nun Frau Locke, die Schwägerin der Frau Osgood, für Poe einen Vortrag in Lowell, im Staate Massachussetts. Dieser Vortrag fand am 10. statt; Poe spradi über das Poetische Prinzip. Bei diesem Aufenthalt in Lowell begegnete er Annie Richmond. Er verliebte sich sofort auf das heftigste in sie. In einer seiner Geschichten, inLandorsLandhaus, beschreibt Poe in dichterischer Verhüllung, welch tiefen Eindruck die erste Begegnung mit Annie auf ihn gemacht hat: „Da keine Klingel zu entdedcen war, podite idi mit dem Stock an die Tür, die halb offen stand. Sogleich näherte sidi eine Gestalt — die eines jungen Weibes von ungefähr aditundzwanzig Jahren — , Amid swans and dovelets stooping, Were, to me, a nobler sight . . . Then, Oh! Grim and Ghastly Raven! "Wilt thou to my heart and ear Be a Raven true as ever Flapped his wings and croaked „Despair"? Not a bird that roams thc forest Shall our lofly eyrie share. 28o Das Leben Edgar Poes schlank und etwas über Mittelgröße. Als sie mit einem gewissen nicht zu besdireibenden Sdiritt von bescheidener Entsdiiedenheit herantrat, sagte ich zu mir selbst: ,Hier habe ich nun die Voll- endung der natürlichen im Gegensatz zur künstlerischen Anmut gefunden.' Der zweite Eindruck, den sie in mir hervorrief, der aber nodi lebhafter war als der erste, war Begeisterung. Ein so intensiver Ausdruck von Romantik — so sollte idi es vielleicht nennen — oder von Unweltlichkeit, die aus ihren tiefliegenden Augen schimmerte, war mir nie vorher ins innerste Herz gedrungen. Ich weiß nicht wie das ist, aber dieser besondere Ausdrude im Auge, der gelegentlich auch den Mund kräuselt, ist der mächtigste, wenn nicht der durchaus einzige Zauber, mit dem ein Weib mich fesseln kann. Romantik — ich hoffe, daß meine Leser begreifen, was ich hier mit dem Worte sagen will — , Romantik und Weib- lichkeit sind für mich dieselben Begriffe, und was schließlich der Mann im Weibe wirklich liebt, ist einfach ihre Weiblichkeit. Annies Augen (ich hörte, wie jemand von drinnen seine ,liebe Annie' rief) waren himmlisch grau, ihr Haar, ein lichtes Kastanien- braun; das war alles, was ich beobachten konnte." '°^ 165) „As no bell was discernible, I rapped with my stick against the door, which stood half open. Instantly a figure advanced to the threshold — that of a young woman about twenty-eight years of age — slender, or rather slight, and somewhat above the medium height. As she approached, with a certain modest decision of Step altogether indescribable, I said to myself: ,Surely here I have found the perfection of natural, in contradistinction from artificial grace.' The second Impression which she made on me, but by far the more vivid of the two, was that of enthusiasm. So intense an expression of romance, perhaps I should call it, or of unworldliness, as that which gleamed from her deep-set eyes, had never so sunk into my heart of hearts before. I know not how it is, but this peculiar expression of the eye, wreathing itself occasionally into the lips, is the most powerful, if not absolutely the sole spell, which rivets my interest in woman. yRomance', provided my readers fully comprehend what I would here imply by the word — ,romance' and ,womanliness' seem to me convertible terms: and, after all, what man truly loves in woman, is, simply, her womanhood. The eyes of Annie (I heard some one from the interior call her ,Annie, darling!') were ,spiritual gray'; her hair, a light chestnut: this is all I had time to observe of her." (Landor's Cottage, V.E., Bd. 6, S. 268/269.) Providence und Lowell — Helen und Annie 281 Hervey Allen hat richtig bemerkt, daß zur Beschreibung der Frau inLandorsLandhaus Frau Ridimond Modell gestanden habe, und daß das Landhaus in dieser Geschidite dem Hause Poes in Fordham gleiche; man kann daraus schließen, Poe habe den tiefen 'Wunsch gehabt, Annie nach Fordham zu bringen. Aber da dieser Wunsdi nie in Erfüllung gehen konnte, ver- brachte Poe viele Stunden in ihrem Heim bei ihr, ihrem Gatten, ihrer Schwester Sarah und dem kleinen Caddy. Die Nähe seiner neuen Freundin war für den Dichter der zauberhafteste Traum. So war Poe zwischen zwei aufsprießenden Leidenschaften „eingeklemmt": zwei Astarten gingen zugleich über seinem Leben auf! Frau Whitman lockte ihn durch die Dichter- Aureole, die über ihr leuditete, durch ihre unleugbare geistige Kultur, die größer war als die aller andern Frauen, denen er bisher begegnet, durch ihre halb wirklidie, halb affektierte Kränklich- keit, und schließlich auch durch die Tatsache, daß sie Witwe war und es ihr dadurch freistand, den „Raben" einzuladen, er möge mit ihr „den hochgelegenen Horst" teilen. Dieser hoch- gelegene Horst war übrigens zu gleidier Zeit auch ein „ver- goldeter Horst", denn Frau Whitman besaß ungefähr acht- tausenddreihundert Dollar. Wenn man nun audi zu Unrecht behauptet hat, Poe habe bei seinen Heiratsplänen am Schluß seines Lebens nur materielle Interessen im Auge gehabt, und zweimal „alte und häßliche" Witwen"" nur um ihres Geldes Willen umworben, so muß deshalb die Aussicht, er könne durch solche Heiraten aus den Verlegenheiten herauskommen, der alten Muddy das Leben behaglicher machen und endlich sogar den Stylus herausgeben, seinen Plänen nicht vollständig fremd gewesen sein. Ohne innere Leidenschaft würde er sich aber 166) Arvede Barine: Poetes et nevroses. Paris 1908, Hadiette, S. 2j6f. 282 Das Leben Edgar Poes auch diesmal nicht eingelassen haben; wenn aber mit der Leidensdiaft auch der Wohlstand gekommen wäre, hätte er ihn nicht verachtet. Und außerdem darf man nicht vergessen, daß in Poe, trotzdem er beinahe vierzig Jahre alt war, die Seele eines „Adoptivsohns" hauste. Das frühreife Kind, das alle Eindrüdke mit äußerster Zähigkeit behielt, ist nicht vergebens in einem Alter von drei Jahren von einer zweiten angebeteten Mutter, die an Stelle der ersten angebeteten Mutter, die er soeben sterben gesehen, getreten war, adoptiert worden. Der Wieder- holungszwang, der unser Leben leitet, war die Ursache, warum Poe sein ganzes Dasein hindurch immer danach trachten mußte, sich stets von neuem adoptieren zu lassen. Das war ihm bei Frau Clemm gelungen. Aber die einfache Muddy genügte nidit mehr. Die Analytiker wissen nun, daß im Unbewußten das Geldgeschenk äquivalent ist mit dem Liebesgeschenk: es war daher für Edgar keineswegs erniedrigend, von einer reichen und mütterlichen Frau, die ihn lieben würde, Geld anzu- nehmen, eine solche Handlung hätte nur das märchenhafteste Ereignis seines Lebens, die Adoptierung durch die schöne und reidie Frances Allan, reproduziert. Solche Trümpfe hatte Frau Whitman in der Hand, als sie Edgar Poe erobern wollte. Frau Richmond hingegen konnte auf ihre Jugend hinweisen, und war für einen Mann von so verdrängter Sexualität wie Poe deshalb von unschätzbarer Bedeutung, weil sie einen Gatten besaß und dadurch unter dem Vorwand der Moral und des Gesetzes unerreichbar bleiben konnte. Ihr Heim war außerdem ein wirkliches Heim, mit Vater, Mutter, Sciiwester und Kind, ganz so wie jenes andere, in dem der kleine Edgar adoptiert wurde und in dem er mit John Allan, Frances und der Tante Nancy gelebt hatte. Und wenn Frau Whitman, als reale Lockung für das Unbewußte, Helen hieß, also den Namen einer Jugendgeliebten trug, so enthielt der Name Annies ebenfalls Providence und Lowell — Helen und Annie 283 einen großen, vom Wort ausgehenden Reiz, der zu allem übrigen dazukam. Hieß sie nidit Ridimond, ganz so wie die Stadt, in der Poe von einer Mutter zu einer andern Mutter gekommen, so wie die Stadt, in der er erzogen wurde und die für ihn die „Mutterstadt" geworden war? Und erinnerte nicht der Name Annie audi an den seiner geliebten Tante Nancy, an Anne Valentine, die seinerzeit für den kleinen Edgar eine Dublette seiner Mutter Frances Allan gewesen? Und was die Augen der beiden Frauen anlangt: er hat beide besungen. Aber stärker als die von diesen beiden Frauen ausgehende Lockung wirkte in Poe nodi ein anderer Zwang. Er wußte nidit, für welche von den beiden er sich entscheiden sollte und wollte diesem herzzerreißenden Konflikt entfliehen; dieser Konflikt war jedoch nicht das einzige, was ihn zur Flucht drängte. Entscheidender als dieses Schwanken war die Tat- sache, daß er ewig in sich den Zwang fühlte, die Frau um der Frau willen zu fliehen, sobald sie ihn zu sehr anzog; und dieser Zwang trieb ihn, als er von Lowell nadi New York zurückgekommen war, dazu, Frau Clemm in Fordham zurückzulassen und sich mit einem Herzen, das vom Gedanken an Annie überfloß, nach Richmond einzuschiffen. Er wollte dort für den Stylus Subskriptionen sammeln. In Wirklichkeit aber floh er zuerst vor Annie, und zwar dort- hin, wo er gewöhnlich vor der Frau seine Zuflucht nahm. Statt also sich um den Stylus zu kümmern, versdiwand Poe tatsächlich am 19, Juli, gleidi nadi seiner Ankunft: in Ridimond. Durdi Zufall erfuhr John R. Thompson, der damalige Chef- redakteur des Southern Literary Messenger, daß sein Vor- gänger in einem geradezu trostlosen Zustand im Hafenviertel gesehen worden sei. „Wenn Sie jemals Richmond besucht haben", schrieb Thompson ein Jahr später, „dann wissen Sif, daß das Geschäftsviertel der Stadt Das Leben Edgar Poes und die Viertel, in denen man wohnt, ungefähr anderthalb Meilen von den Docks entfernt sind, so daß Leute, die dort nidits zu tun haben, kaum jemals in diese Gegend kommen. Sobald ich hörte, Poe sei bei den Docks, hegte ich die schlimmsten Vermutungen; idi nahm sofort einen Wagen und fuhr ihn sudien . . . Als idb beim Eingang zu diesem verödeten Viertel ankam, erfuhr ich tatsächlich, daß sich jemand dort seit zwei Wochen und ständig betrunken aufgehalten habe, und daß dieser Jemand vor einigen Stunden ohne Hut und Mantel aufgebrochen sei, um Jack Mackenzie, der ungefähr drei Meilen von hier auf dem Land wohnte, aufzusuchen. Er war allein und zu Fuß fortgegangen ... Ich tat, was ich konnte, um seine Exzesse niederzuhalten und ihm das Nötigste zu verschaffen (denn er war ganz schrecklich arm), aber kein Einfluß war imstande, ihn von seiner verfluchten Neigung für das Trinken abzubringen."^'^ Poe blieb noch einige Wochen in Ridimond, und ging häufig zu den Mackenzies, deren Haus Duncan Lodge immer für ihn offenstand. Jack Madsenzie blieb ihm treu; Poe fand dort aucii seine Schwester wieder. Und dann sah er alte Freunde, Robert Stanard, den Sohn seiner ersten „Helen", und Robert Sully, den Maler, der vermutlich damals sein Porträt gemacht hat. Er wollte auch Catherine Potiaux wiedersehen, die er als Sechs- jähriger geliebt hatte — aber als er sidi bei ihr meldete, war er in einem derartigen Zustand, daß man ihn nicht einließ. Denn außer in den Büros der Zeitungen und Magazine, in denen er manchmal Artikel unterbrachte, war er fast nur in den "Wirtshäusern zu finden, wo er Heureka und den Raben vortrug, wenn er nicht allzu betrunken war. Alles, was er besaß, war nun aufgebraucht. Zwar hatte Thompson aus Mitleid The Rationale of Verse,^^^ das sciion lange für einen Vortrag bereitlag, angenommen; Poe war aber gleich wieder ohne Geld, und für den Stylus hatte er nicht eine einzige Subskription bekommen. Er verließ Richmond; 167) Thompson an Patterson. 9. November 1849 (Israfel, 8.76$; V. E., Bd. 17, S. 404). 168) Eine rationale Analyse der Verskunst. i ^B Providence und Lowell — H elen und Annie 285 ■ vor seiner Abreise geriet er aber noch in eine absurde Episode. ■ Ein gewisser Daniel, Chefredakteur des Examiner, der jemand ■ aus der Familie der Frau Whitman kannte, hatte diesem ■ Bekannten gesagt, Poe interessiere sidi keineswegs aus un- Pl eigennützigen Gründen für jene Dame; diese Worte wurden dem Dichter zugetragen, während er sich gerade in den Büros einer Zeitung befand. Er geriet in Wut, nahm sofort eine Feder und schickte Daniel eine Herausforderung zum Duell, die er auf das Dedblatt der Zeitung schrieb. Daniel weigerte sich, die Angelegenheit ernst zu nehmen. Aber Poe wollte nicht locker lassen. Daniel empfing nun Poe in seinem Büro, zwei veraltete Riesenpistolen lagen vor ihm. Poe fragte ihn, warum er ihn habe kommen lassen; Daniel erwiderte, er wolle sidi in seinem Büro mit ihm schlagen, um den Unannehmlichkeiten mit den Behörden auszuweichen. Das Groteske und der Ernst der Situation brachten Poe zur Besinnung; es folgte eine Aus- sprache, und alles wurde in Güte geordnet. In Providence aber, beim Mondschein einer warmen JuH- nacht, hörte Frau Whitman durdi ihre Freundin Miss Mac- intosh, die eben aus New York gekommen war, von den begeisterten Reden, die Poe über sie im Juni bei den Nachbarn von Fordham gehalten hatte. Miss Blackwell, die ebenfalls anwesend war, warnte Frau Whitman vor Poe, trotzdem aber schickte die gerührte und von den Schmeicheleien verführte Diditerin dem Dichter neue Verse. Sie waren nicäit unter- zeichnet, aber von ihr selbst niedergeschrieben worden und ent- hielten eine dicJiterische, versdbleierte Einladung zu einer Begeg- nung, die Poe selbst, wie sie wußte, gern herbeigeführt hätte: Eine leise, verwirrende Melodie Flüstert in mein Ohr — Töne, daß im dämmernden Wald Die Zitterpappel beim Zuhören bebt. 286 Das Leben Edgar Poes "Wenn der Waldgctt auf dem Hügel schlummert Und alle Zweige still sind vor Begeisterung. Der Jasmin sdilingt seine sdineeigen Sterne Zu einer sdiöneren Krone zusammen — Die Lilie atmet süßeren Duft aus Durch die Stäbe meines vergitterten Fensters — Und mit dem Blick zum Sternengewölbe der Nadit Verharre ich bei der „Schönheit, die Hoffnung ist"."" Die romantisciie Botsdiaft erreichte Poe in Riciimond am 10. September, vermutlici um die gleiche Zeit, als sein Duell mißglüdct war. Er verzichtete sofort auf seine Projekte mit dem Stylus, kam nadi Fordham zurück und besciilöß, nach Providence zu fahren. „. . . Aber ich habe Ihnen nicht gesagt", sollte er einige Zeit später an Frau Whitman schreiben, „daß Ihre Zeilen midi in Ridimond an dem Tag erreidit haben, an dem ich wegen einer Tournee und einer Unternehmung hätte abreisen sollen, die geeignet waren, meine ganze Natur zu verändern; diese Unternehmung hätte midi in einen heftigen, kalten und erniedrigenden, aber audi herrlichen gigantischen Ehrgeiz hineingetrieben — und weit, weit und für immer, von Ihnen, süße, süße Helen und diesem götdichen Traum Ihrer Liebe fortgeführt".!'''' 163) A low bewildering melody Is murmuring in my ear — Tones such as in the twilight wood The aspen thrills to hear When Faunus slumbers on the hill And all entranced boughs are still. The Jasmine twines her snowy stars Into a fairer wreath — The lily through my lattice bars Exhales a sweeter breath — And, gazing on night's starry cope, I dwell with „Beauty which is Hope". {Israfel, S. 772.) 170) Poe an Frau Whitman, 18. Oktober 1848 {Israfel, S. 722). . . . But I have not yet told you that your Ms. lines reached me in Richmond on the very day in whidi I was about to depart Providence und Lowell — Helen und Annie 287 Interpreten dieses Briefes meinen, Poe habe hier auf sein Duell angespielt oder auf eine geplante Heirat mit Frau Shelton. Aber es ist beinahe sicher, daß er bei diesem Aufent- halt in Ridimond Elmira nidit wiedergesehen hat. Die Tournee, das Unternehmen und auch der Ehrgeiz, von denen er schreibt, dürften daher nur mit dem berühmten Stylus im Zusammen- hang stehen. Der Stylus war jedoch für den Augenblick erledigt und Poe dadite nur nodi daran, zu seiner neuen „Helen" zu eilen. In New York bekam er von Miss Mac-Intosh ein Einführungs- schreiben für Frau Whitman. Dann schrieb er ihr selbst, mit verstellter Handschrift, und unterschrieb mit einem falschen Namen: Edward S.-T. Grey, Sammler von Autographen. Er tat dies zu dem Zweck, um zu erfahren, ob Frau Whitman in Providence sei. Sie war tatsächlich dort; Ende September kam Poe bei ihr an und überreichte ihr seinen Einführungs- brief. In dem Brief, den Poe naeii seiner Rückkehr in Fordham an Frau "Whitman geschrieben hat, schildert er die erste Be- gegnung: „Und nun lassen Sie midi mit den einfachsten Worten, über die idi verfüge, den Eindrudc beschreiben, den Ihre Gegenwart auf midi gemadit hat. Wie Sie bleidi, zögernd und beklommenen Herzens in das Zimmer traten, wie Ihre Augen einen kurzen Augenblidt lang auf den meinen ruhten, fühlte idi und erkannte idi zum erstenmal in meinem Leben die Existenz geistiger Ein- flüsse, die von der Vernunft nidit erfaßt werden können. Ich sah, daß Sie H e 1 e n waren, meine Helen, die Helen tausender Träume, ... die Frau, weldie der große Spender für midi bestimmt hatte on a tour and an entreprise which would have dianged my very J)"""'^ 7" steeped me in a stern, cold, and debasing, although bnihandy gigantic ambition — and borne me „far, far away" and forever from you, sweet, sweet Helen, and from this divine dream of your love. Das Lehen Edgar Poes — nur für mich — und wenn audi nicht für jetzt, ach, dann wenigstens für die Zeit nadi diesem Leben, und für immer im Himmel. Sie spradien mit zitternder Stimme und schienen kaum zu wissen, was Sie sagten. Ich hörte Ihre Worte nidit t- bloß den süßen Klang Ihrer Stimme, der mir vertrauter zu sein schien als der Klang meiner eigenen . . . Ihre Hand blieb in meiner liegen und meine ganze Seele bebte in zitternder Ekstase; und wenn ich nicht gefürditet hätte, Ihnen Kummer zu bereiten oder Sie zu verletzeri, wäre ich Ihnen zu Füßen gefallen in einer so reinen und wahren Anbetung, wie sie nodi nie einem Idol oder einem Gott dargebracht wurde.""* Dann machten beide einen Spaziergang zum Friedhof, und in dieser wahrhaft Poesdien Dekoration erklärte sich Edgar, während „bittere, bittere Tränen" ihm in die Augen kamen: „Helen, ich liebe jetzt — jetzt — zum ersten und einzigen Male.""^ Im Laufe dieses Spaziergangs erzählte Edgar Poe der Frau Whitman wohl auch die Gesdiidite seiner ersten „Helen". 171) Poe an Frau Whitman, V. E., Bd. 17, S. 305, 306. And now, in the most simple words I can command, let me paint to you the Impression made upon me by your personal presence. As you entered the room, pale, hesitating, and evidently oppressed at heart; as your eyes rested for one brief moment upon mine, I feit, for the first time in my life, and tremblingly adsnowledged, the existence of spiritual influences altogether out of the readi of reason. I saw that you were Helen — my Helen — the Helen of a thousand dreams . . . She whom the great Giver of all good had preordained to be mine — mine only — if not now, alas! then hereafter and for ever in the Heavens. — You spoke falteringly and seemed scarcely conscious of what you said. I heard no words — only the soft voice more familiär to me than my own . . . Your band rested within mine and my whole soul shook with a tremulous ecstacy: and then, but for the fear of grieving or wounding you, I would have fallen at your feet in as pure — in as real a worship as was ever offered to Idol or to God. 172) Ebenda, S. 305. Helen, I love now — now — for the first and only time. SARAH HELEN WHITMAN, geb. POWER 1803-1878 (Nach einem Porträt von C. J. Thompson) Providence und Lowell — Helen und Annie 2S9 Sie hat später in einem kleinen Band'^''^ darüber beriditet: in ihrem Beridit wird ein Jüngling heraufbesdiworen, der in den kalten Oktobernäditen das Grab der gestorbenen Geliebten besuchte. Der Gleichklang der Namen half mit, daß Poe die erste der beiden „Helenen" mit der zweiten in leidenschaftlichen Tönen identifizieren konnte, in Tönen, die wieder einmal der Herbstwind über die Gräber trug. Poe verbrachte noch zwei Abende mit Frau "Whitman, „das Denken geriet durch den berauschenden Reiz ihrer Gegenwart ins Sdiwanken". Aber, setzt er fort, „ich sah und hörte Sie nicht mit gewöhnlichen menschlichen Sinnen, ich erkannte Sie nur durch meine Seele . . ."^'* So verhielt es sich eben mit Poes Leidenschaften: sie waren ebenso heftig wie platonisch. Poe fuhr dann nadb Fordham zurück, und dort setzte der Briefwechsel zwischen den beiden ein. Wieviel „Literatur" enthalten diese berühmt gewordenen Liebesbriefe, die zwischen den beiden „Berufs"-Dichtern ge- jirechselt wurden? Es ist sicher manches „Literarische" in ihnen zu finden, aber Dichter sind oft weniger unaufrichtig als man glaubt. Es gibt, wie man gesagt hat, „Aufrichtigkeiten, die einander folgen", es gibt aber auch solche, die zu gleicher Zeit auftreten. Man muß an diese Art von Aufrichtigkeiten denken, wenn man die glühenden Briefe liest, die Poe nun, oft an auf- einanderfolgenden Tagen, das eine Mal seiner Helen, das andere Mal seiner Annie zu schidien begann. Frau Whitman hatte den Heiratsantrag des Dichters nodi nicht beantwortet. Es scheint, daß das Aussehen und das tolle 173) Sarah Helen Whitman: Poe and His Critics. Providence. ^1860, 'i88j. ' 174) Poe an Frau Whitman, V. E., Bd. 17, S. 306: My brain reeled beneath the intoxicating spell of your presence, and it was with no merely human senses that I either saw or heard you. It was my soul only that distinguished you there . . . Bonaparte: Edgar Poe. I. 19 I 2 9° Das Leben Edgar Poes Benehmen ihres Liebhabers sie sdion bei der ersten Begegnung abgeschreckt haben. Bereits im ersten Briefe, den sie ihm sdirieb, machte sie nämlidi gegen eine Heirat Einwendungen: sie sei wegen ihrer gefährdeten Gesundheit — wegen eines Herz- leidens, das sie wirklidi hatte oder vielleidit auch nur affek- tierte — kaum fähig, eine Heirat zu ertragen. Sie sei audi einige Jahre älter als Poe . . . und dann stehen in dem Brief vier Zeilen Einwendungen, die durdigestrichen sind. Man dürfte sie auch darüber orientiert haben, welche Gefahren und Unannehmlidikeiten die Liebe zum „Raben" mit sidi bringe. Aber diese Liebe sdimeichelte ihrer Eitelkeit als Frau und als Dichterin und sie vertagte daher immer wieder die Ent- scheidung, da sie über die glühenden und „unsterblidien" Briefe glücklich war, die sie vom Dichter erhielt. Ihn jedoch reizte das Hindernis, daher verdoppelte er seine poetische Beredtsamkeit und steigerte er die Glut seiner Liebe. Helen erwiderte: „Obwohl midi die Achtung vor Ihrem Verstand, meine Be- wunderung für Ihr Genie In Ihrer Gegenwart zum sdiüditemen Kind madien, bin idi dodi — aber darüber wollen Sie sidi wahr- sdieinlich nidit Rediensdiafl geben — viel älter als Sie."^''° Daraufhin rief Poe aus: „Fühlen Sie nicht im tiefsten Innern Ihres Herzens, daß die ,Seelenliebe', von der die Welt so häufig und leichtfertig spridit, in unserem Fall wenigstens, die wahrhafteste und absoluteste aller Wirklichkeiten ist? Begreifen Sie nidit — ich wende mich, Gelieb- teste, ebenso an Ihre Vernunft- wie an Ihr Herz — , daß der gött- lidie Teil meiner Natur — mein geistiges Wesen — danach brennt, sich mit dem Ihrigen zu vereinen? Hat die Seele ein Alter, Helen? 175) Although my reverence for your intellect and mv admiration for your genius make me feel like a diild in your presence you are not perhaps aware that I am many years older than yourself . . . Providence und Lowell — Helen und Annie api } Kann die Unsterblichkeit sidi um Zeit kümmern? Kann dieses Erlebnis, das weder einen Anfang nodi ein Ende hat, an die wenigen armseligen Jahre denken, die im Leben lebendig werden?""'^ Was ihre gefährdete Gesundheit anlangte: Helen ahnte natürlich nidit, welcher Reiz für Poe gerade in der Tatsache steckte, daß ihre Gesundheit gefährdet war . . . Frau Whitman sdirieb ferner: „Wie oft habe ich über Sie sagen hören: er verfügt über große intellektuelle Kräfte, aber nicht über Grundsätze — er hat keinen Sinn für Moral." Worauf Poe sich in einem neuen langen Brief verteidigte. Er suchte sie sdhließlidi wieder auf. Sie hörte ihm zu, wie er von seinem Leben erzählte — oder wie er die Legende seines Lebens vortrug — , sie erfuhr von neuem, daß sie in seiner Phantasie innigst verbunden sei mit „Helen" Stanard, und daß er sie schon einmal in einer nie vergessenen Vergangenheit gekannt und geliebt habe. Und eines Abends, als sie in das durch ein Kohlenfeuer schwach erleuchtete Zimmer trat, sprang Poe, der neben dem Feuer schlummerte, jäh auf und sagte ihr, wovon er eben geträumt habe: das Porträt der Frau Whitman, das an der Wand hing, hatte die Züge Robert Stanards, des Sohnes seiner ersten „Helen" angenommen . . . Poe verließ jedoch Providence, ohne daß sich Frau Whitman entschieden hatte. * 176) Poe an Frau Whitman, V. E., Bd. 17, S. 306. Do you not feel in your inmost heart of hearts that the „Soul love" of which the world speaks so oflen and so idly is, in this instance, at least, but the verlest — the most absolute of realities? Do you not — I ask it of your reason, darling, not less than of your heart — do you not perceive that it is my diviner nature — my spiritual being whicii bums and pants to commingle with your own? Has the soul age, Helen? Can Immortality regard Time? Can that which began never and shall never end consider a few wretched years of its incarnate life? ig* I 292 Das Leben Edgar Poes Er reiste nadi Lowell, um dort einen Vortrag zu halten. Von Lowell ging er aber wieder zu den Ridimonds, die in dem Nachbardorf Westford wohnten, und quartierte sidi bei ihnen für einige Tage ein. Er mußte aus dem nervösen und stürmi- schen Zustand herauskommen, in den er durch Frau Whitman geraten war; daher wandte er sidi wieder an Annie, er wollte in einen ruhigen Hafen gelangen. Die Ruhe und der Frieden im Heim der Richmonds waren für ihn das Paradies. Er machte lange Spaziergänge mit ihnen über die Hügel, über jene Hügel, dieinLandors Landhaus durch die Magie der Kunst verklärt wurden. Sarah, die Schwester Annies, hat uns diese Zeit besdirieben: „Mein Gedäditnis hat ihn sozusagen photographiert, wie er an diesem frühen Herbstabend vor dem Holzfeuer saß, in die Glut blidste, eine teure Freundin — Annie — bei der Hand hielt; lange Zeit hindurch spradi niemand und das einzige vernehmbare Geräusdi kam von der alten, großen Standuhr, die sidi in der Ecke des Zimmers befand." Poe erwartete bei den Ridimonds die Antwort der Helen auf seinen Heiratsantrag. Die Antwort ließ auf sich warten. Am 2. November kam endlich ein unentschlossener Brief. Nun sdirieb Poe an Frau Whitman, er werde am 4. in Providence sein und machte sicii bereit, Richmond zu verlassen. Er befand sich jedoch in einem furchtbar nervösen Zustand, zu dem viel- leicht die Unentschlossenheit der Frau Whitman beigetragen hatte. Die hauptsächliche Ursache bestand aber darin, daß Poe während des kurzen Aufenthalts in Westford gefühlt hatte, er könne nicht mehr ohne Annie leben! Wenn Helen ja sagen würde, müßte er sich von Annie trennen; und nun sah er keine Möglichkeit, sich von Helen zurückzuziehen. Wäre er jedoch frei, dann hätte sich erst redit nichts an der Leere seines Landhauses und an seinem moralischen und physi- schen Elend geändert, da ja Annie, seine „Schwester Annie", Providence u-nd Lowell — Helen und Annie 293 verheiratet war und ihm leider nidit nach Fordham folgen konnte, um ihn zu pflegen, zu trösten, und ihm am Abend die Hand zu halten. Daher entriß Poe, bevor er Westford verließ, Annie das Versprechen, sie komme bestimmt an sein Totenbett, wo immer er audh sterben werde. In dem Brief, den er aus Fordham am 6. November an Annie schickte, beschrieb er uns selbst, was nun folgte: „Oh, Annie, Annie ... Sie haben die Agonie des Sdimerzes, mit dem ich Ihnen Adieu sagte, gesehen, gefühlt — Sie erinnern sidi, wie düster idi dreinsah, ganz so, als ob ich das schreckliche, furchtbare Vorgefühl eines nahen Unglücks hätte. In WirkUchkeit — in Wirklichkeit — schien es mir, als ob sidi der Tod mir schon nähere, als ob ich schon in den Sdiatten eingehüllt wäre, der ihm voranging . . . Idi sagte zu mir: ich sehe Sie zum letztenmal, wir werden uns nur mehr im Himmel wiedertreflFen. Von diesem Augen- blick an erinnere ich midi an nichts mehr deutlidi bis zu dem Moment, wo idi midi in Providence befand. Ich hatte midi zu Bett gelegt und eine ganze Nacht hindurdi vor Verzweiflung geweint. — Als der Tag anbradi, erhob ich mich, und versuchte es, durch einen schnellen Spaziergang in der kalten und scharfen Luft meinen Geist zu beruhigen — ich konnte aber keinen Erfolg damit haben — , der Dämon quälte mich weiter. Schließlich verschaffte ich mir zwei Unzen Lauda^m, und ohne ins Hotel zurüdtzukehren fuhr ich wieder nach Boston.^" Nachdem ich dort angekommen war, schrieb ich Ihnen einen Brief, in dem ich Ihnen — Ihnen — mein ganzes Herz öffnete ... Ich sagte Ihnen, daß ich meine inneren Kämpfe nicht länger mehr ertragen könne ... Ich erinnerte Sie an das heilige Versprechen, das ich Ihnen zuletzt vor meiner Abreise ent- rissen habe — an das Versprechen, daß Sie unter allen Umständen an mein Sterbelager kommen werden. Ich flehte Sie an, nun zu mir zu kommen, gab Ihnen den Ort an, wo man mich in Boston finden würde. Nachdem ich den Brief beendet hatte, schluckte ich ungefähr die Hälfte Laudanum hinunter und rannte zur Post — idi entschloß mich, den Rest erst zu nehmen, nachdem ich Sie gesehen — , denn 177) Das heißt: Er fuhr in die Riditung zurüi, in der sich Annie befand. i 294 Das Leben Edgar Poes ich zweifelte nidit einen Augenblidc daran, daß Annie das heilige Verspredien halten werde. Ich hatte aber nicht mit der Macht des Laudanums gerechnet: nodi bevor ich bei der Post angelangt war, verlor ich die Besinnung, und so wurde der Brief nicht aufgegeben. Idi übergehe, teuerste Schwester, die fürditerlidien Schredcen, die nun folgten. Ein Freund, der vorbeikam, half mir und rettete mich (wenn man so sagen darf), ich kann midi aber erst seit drei Tagen an das erinnern, was sidi in diesem düstern Zeitraum ereignet hat. Nachdem ich das Laudanum erbrodien hatte, wurde ich wieder ruhig und, für den oberflächlidien Beobaditer, vernünftig, so daß man mir erlaubte, nach Providence zurückzukehren . . ." "s 178) Poe an Annie. Fordham, 16. November 1848 (V. E., Bd. 17, S. 312—314). Oh, Annie, Annie! ... you saw, yon feit, the agony of grief with whidi I bade you farewell — you remember my expression of gloom — of a dreadful, horrible foreboding of 111. Indeed — indeed it seemed to me that Death approadied me even then, and that I was involved in the shadow whiA went before him . . . I Said to myself — „it is for the last time, until we meet in Heaven". I remember nothing distinctly from that moment until I found myself in Providence. I went to bed and wept through a long, long, hideous night of Despair — when the day broke, I arose and endeavored to quiet my mind by a rapid walk in the cold, keen air — but all would not do — the Demon tormented me still. Finally, I procured two ounces of laudanum, and, without returning to my hotel, took the cars back to Boston. "When I arrived I wrote you a letter, in which I opened my whole heart to you — to you ... I told you how my struggles were more than I could bear ... I then reminded you of that holy promise which was the last I exacted from you in parting — the promise that, under all circumstances, you would come to me on my bed of death. I implored you to come then, mentioning the place where I should be found in Boston. Having written this letter, I swal- lowed about half the laudanum, and hurried to the Post Office — intending not to take the rest until I saw you — for, I did not doubt for one moment, that Annie would keep her sacred promise. But I had not calculated on the strength of the laudanum, for, before I reached the Post Office my reason was entirely gone, and the letter was never put in. Let me pass over — my darling sister — the awful horrors which succeeded. A friend was at band, who aided and (if it can bc called saving) saved me, but it is only within the last three days that I have been able to Providence und Lowell — Helen und Annie 295 In diesem Zustand — nadidem er also einen Selbstmord hatte verüben wollen, um glücklich in den Armen Annies zu sterben — kehrt Poe zu Frau Whitman zurück, um ihr den Hof zu machen. Er irrte in Providence wie ein "Wahnsinniger umher, und klopfte bei Frau Whitman so zeitlich morgens an, daß er nidit empfangen werden konnte. Sie sandte ihm einige Zeilen ins Hotel und schlug ihm für eine spätere Stunde eine Begegnung im Athenäum vor. Er antwortete ihr, er sei so krank, daß er habe nach Hause gehen müssen, flehte sie um ein Liebeswort an, und bat sie, ihm zu verspredien, „sie werde ihm gehören", was immer auch geschehen möge. In der folgenden Nacht kümmerte sich ein Freund der Frau Whitman, Mac-Farlane, um Poe. Am nächsten Morgen benützte dieser Freund die Gelegenheit, den „großen Dichter" zu einem Photographen zu führen; wir verdanken also Mac-Farlane die Daguerreotypie Poes, auf der man ihn mit dem verwüsteten Gesicht sieht.^'^'' Nach dem Besuch beim Photographen ging Edgar zu Frau "Whitman. Er befand sich (sagt sie) „in einem Zustand heftigster, wahnwitzigster Erregung und flehte midi an, ihn vor dem schrecklichen Schicksal zu retten, das ihn bedrohte. Seine Stimme klang entsetzlich und laut durch das ganze Haus. Ich habe nie etwas so Fürchterliches, bis ins Er- habenste Fürchterliches gehört . . ." Frau "Whitman bekam Angst. Aber ihre Mutter, Frau Power, die mit ihr wohnte und gegen diese Heirat war, riet ihr nun selbst, dem Unglücklidien eine Unterredung zu gewähren. „Meine Mutter", erfahren wir von Frau "Whitman, „war von remember what occurred in that dreary interval. It appears that, after the laudanum was rejected from the stomach, I became calm, and — to a casual observer, sane — so that I was suffered to go back to Providence . . . 178 a) Siehe die Abbildung nach S. 296. 296 Das Leben Edgar Poes so viel Verzweiflung gerührt und bedrängte midi, ihm alles zu versprechen, was er von mir verlangte, und ihn dadurch zu be- ruhigen." Zwei Stunden lang versuchte die Mutter Helens, ihn vor der Unterredung mit der Tochter zu beruhigen. Endlidi erschien Helen. Er begrüßte sie wie einen Engel, der den Auf- trag hatte, ihn zu retten, und klammerte sich so verzweifelt an ihr Kleid, daß er ein Stück Musselin herunterriß. So klammerte sicii Edgar Poe, dieses ewige, verzweifelte "Waisenkind, dieser Mensch, der immer wieder adoptiert sein wollte, an das Kleid jedes Mutter-Phantoms, das an ihm vorbeikam; und er hielt . sich so lange krampfhaft fest, bis das Phantom ihn zurückstieß. Die Mutter der Frau Whitman schenkte Poe Kaffee ein. Dann schickte sie nach einem Doktor, der ihn zu einem ihrer Freunde, W. J. Pabodie, begleitete. Im Athenäum fanden später nodi mehrere Begegnungen statt. Und dort gab ihm Frau Whitman endlich das Verspreciien, ihn unter der Bedingung zu heiraten, daß auch er ihr verspreche, niemals mehr zu Stimulan- tien oder zum Alkohol zu greifen: sie ließ sich dadurcäi eine Hintertüre offen ... Poe kam nach diesem Verspreciien in einem derartigen Zu- stand nacJi Fordham zurück (sagt Muddy), daß er kaum wieder- zuerkennen war. Zwei Tage nach seiner Verlobung mit Helen sdirieb er den Brief an Annie, den wir zitiert haben, jenen Brief, in dem er von seinem Selbstmordversuch erzählt und sie neuerdings seiner Liebe versichert. Er schließt ihn mit der Er- klärung, er könne nicht mehr leben — so krank sei er an Körper und Geist — , wenn er nicht auf der Stirn die sanfle, liebe Hand Annies spüre. Er bittet sie, nach Fordham zu kommen — wenn auch nur für eine kurze Woche — bis er die Unruhe bemeistert habe, die sein Leben zerstören oder ihn zu einem hoffnungslosen Wahnsinnigen machen müsse." 179) Poe an Annie. Fordham, 16. November 18 Bd. 17, S. 314): (V. E., I EDGAR POE (Diese Daguerreotypie verdanken wir Mac-Farlane; sie wurde 1848 in Providence nach dem Selbstmordversuch aufgenommen) I Providence und Lowell — Helen und Annie 297 Aber Annie kam nicht, ja sie antwortete nicht einmal, so sehr war sie wahrscheinlich über den irren Ton, in dem der Brief ihres Anbeters gesdirieben war, entsetzt. Poe zerfleisdite sich nun in dem Konflikt Annie oder Helen; und er schickte beiden glühende Briefe, in denen er ihnen seine flehenden Hände entgegenstreckt, wobei es ihm gleichgültig war, welche der beiden weiblidien und mütterlichen Phantasiegestalten vor ihm stand. Er sdirie um Hilfe, man solle ihn „retten"; die Muddy mit ihren armen Händen, die nur den Besen und die Töpfe zu fassen gewohnt waren, genügte hiezu nicht. Seitdem das kleine Phantom, um das Poe seine Träume gesponnen hatte, fortgetragen worden war, stand in seiner Phantasie das Haus leer. In diesen Liebesbriefen, die in zwei Exemplaren abgesdiickt wurden, erbaute Poe in seiner Phantasie für Annie und für Helen (einmal für die eine, dann für die andere, oder audi für beide zugleidi) Landors Landhaus, neben dem ein kristallklarer Badi, der zwischen den Rasen plätscherte, vorüberfloß, das Haus, in dem ihn die Hände einer mütter- lichen Sylphide, die der Annie oder die der Helen, zur Ruhe wiegten. ^^" Einer von ihnen, Helen, verspricht er die Befriedigung ihres Ehrgeizes, die ruhmreiche Gründung der Aristokratie der Intel- ligenz in Amerika, der einzigen, die nicht bestritten werden I am so m — so terribly, hopelessly ill in body and mind, that I cannot live, unless I can feel your sweet, gentle, loving hand pressed upon my forehead — oh, my pure, virtmus, gene- rous beautiful sister Annie! Is it not possible for you to come — if only for one little week? Until I subdue this fearful agitation, whidi, if continued, will either destroy my life or drive me hope- lessly mad. 180) Siehe Landors Landhaus und Poe an Annie, Fordham, 16. November 1848, ferner Poe an Frau Whitman, ohne Datum (V.E., Bd. 17, S. 314, 316). Das Lehen Edgar Poes könne.^*^ Der andern, Annie, teilt er mit, er werde mit größtem Fleiß arbeiten, Triumphe feiern und für sie reidi werden.^^^ Zu gleicher Zeit schreibt er seinem Onkel Edward Valentine — dem gleichen, der einmal, als sie bei einem Friedhof vorbei- ritten, den kleinen zitternden Knaben an sich gedrückt hatte — und verlangt von diesem Onkel, der inzwisdien Pastor ge- worden war, zweihundert Dollar, um den Stylus gründen zu können. Durch diese Zeitschrift: wollte er triumphieren, für Annie reich werden und gleichzeitig für Helen jene Aristokratie der Intelligenz gründen, über die sie beide herrschen sollten . . . Der Pastor scheint aber das verlangte Geld nicht gesdiickt zu haben; und Annie antwortete auf die Briefe nidit. Darum dringen bald Schreie höchster Verzweiflung aus dem Landhaus in Fordham.^*" Ridimond, der Gatte Annies, war nämlich von „guten" Freunden von der Gefahr benachriditigt worden, die seiner Frau durch die Verehrung des „Raben" drohte. Darum ant- wortete sie auf die Briefe Poes nidit; sollte wieder einmal das angebetete Phantom sidi von ihm entfernen? Es blieb ihm jedodti Helen. „In weniger als vierzehn Tagen", sdireibt er am 2 j. No- vember, „werde idi Sie, teure Helen, wieder an mein Herz drücken . . .",^** und dann lobt er sidi selbst, weil er das Ver- sprechen, abstinent zu bleiben, gehalten habe: „Von nun an bin idi stark: — die midi Heben, werden es sehen — aber auch jene andern, die den kläglidien Versudi unternommen 181) Poe an Frau Whitman, 22. November 1848 (V. E., Bd. 17, S. 318). 182) Poe an Annie, ohne Datum (ebenda, S. 319). 183) Poe an Sarah, die Schwester Annies, 23. November 1848 {ebenda, S. 319). 184) Poe an Frau Whitman, 2j. November 1848 (V. E., Bd. 17, S. 320): In little more than a fortnight, dearest Helen, I shall once again clasp you to my heart. Providence und Lowell — Helen und Annie 299 haben, midi moralisch umzubringen. Idi braudite die Prüfungen, die ich durchgemadit habe, nur dazu, um zu dem zu werden, der ich von Geburt aus sein sollte, und um das Bewußtsein meiner eigenen Kraft wiederzugewinnen. - Aber, teure Helen, von meiner Ent- schlossenheit allein hängt nicht alles ab - alles hängt von der Aufrichtigkeit Ihrer Liebe ab.""^ Inzwischen hatten aber Frau Whitman und ihre Mutter von allen „skandalösen Begebenheiten" aus Poes Leben erfahren. Die Mutter bekam es mit einer immer größeren Angst zu tun, die Toditer litt, da eine romantische Lockung das Herz der Dichterin trotz allem an Edgar fesselte. Waren sie nicht ver- schwisterte Seelen? War sie nicht seine ewige „Helen"? Und lag nicht auch darin ein gutes Vorzeichen, daß sie an demselben Tag Geburtstag feiern konnten? Und waren die Le Poer, die normannischen Vorfahren, die sich Frau Whitman iür Edgar ausgedacht hatte, nicht identiscäi mit den Powers, von denen sie selbst abstammte? So konnten weder üble Nachrede, noch Ver- leumdung oder wie immer auch das Schlangengezüciit heißen mag, diese beiden füreinander bestimmten Liebenden trennen! Und eines Abends, an dem Helen durch jene üble Nachrede ganz besonders verletzt worden war, flüchtete sie zum Fenster und schrieb dort die Anrufung des Arcturus, aus der die Sehnsucht, ja die Gewißheit hervorging, das „w e i ß- glühende Feuer" ihrer Seele werde mit dem des sym- bolischen Sternes zusammenfließen, trotzdem die Schlange sie von ihm trennen möchte. Poe-Arcturus erhielt in Fordham dieses astrale Gedicht. i8j) Poe an Frau Whitman (ebenda, S. 320/321). Henceforward I am strong: - this those who love me shall See — as well as those who have so relentlessly endeavoured to ruin me. It needed only some sudi trials as I have just undergone to make me what I was born to be, by making me conscious of my own strength - But all does not depend, dear Helen, upon my hrmness — all depends upon the sincerity of your love 300 Das Leben Edgar Poes Daher war er am 12. Dezember wieder nach Providence zurückgekommen. Die Angelegenheit nahm diesmal eine so schnelle "Wendung, daß Poe ein paar Zeilen für den Pastor Crooker vorbereitete, in denen er ihn bat, das Aufgebot für den kommenden Sonntag und Montag zu veröffentlidien. Bloß der Tag der Eheschließung war noch zu fixieren. Es schien also, als solle die Liebe über alle üble Nachrede und den "Widerstand der Verwandten triumphieren. Die Familie der Frau "Whitman konnte nur einen einzigen Sieg verzeichnen: das "Vermögen der Helen mußte vor der Heirat auf ihre Mutter übertragen und so vor dem Schnabel des „Raben" sidiergestellt werden. Am 15. Dezember wurden die- Ehepakten zwischen Edgar Poe und Helen unterzeidinet und die Vermögensübertragung durch- geführt. Poe kehrte nun nadi Fordham zu Muddy zurück, die, wie es sdieint, darüber verletzt war, daß sich Frau Power der Heirat ihrer Toditer widersetzt hatte, und audi darüber, daß das Vermögen der Frau "Whitman auf ihre Mutter übertragen worden war. Obwohl auch sie diese Ehe nidit wollte, sdirieb Poe an Helen, seine Mutter wenigstens werde Böses mit Gutem vergelten. Er kündigte ihr auch an, daß er am kom- menden Mittwoch, am 20. Dezember, wieder in Providence sein werde. Tatsächlich verließ er am angegebenen Tag New York. Auf dem Bahnhof in New York sah er Frau Hewitt, die zu ihm sagte: „Sie gehen nach Providence, Herr Poe, um zu heiraten?" — „Idi halte dort einen Vortrag über Poesie", antwortete er, und nadi einigem Zögern fügte er hinzu: „Die Heirat wird vielleicht nie stattfinden." Der Vortrag im Franklin-Lyceum war ein großer Erfolg. Am folgenden Morgen sdirieb Poe an Annie: „Ich hoffe, midi durdi diesen "Vortrag ausgezeidinet zu haben . . ., ich habe midi um Ihretwillen so b e m ü-h. t. Achtzehn- hundert Menschen waren anwesend, und dieser Beifall! ... Idi war Providence und Lowell — Helen und Annie 301 um vieles besser als in Lowell. Wenn nur Sie dagewesen wären . . ."^^'' An dem gleidien Donnerstag wahrscheinlich erhielt Poe die endgültige Zustimmung der Frau "Whitman zu ihrer Heirat. Freitag den 22. wurde ein zweites Schriftstück unterzeichnet, das auf die Vermögensübertragung der Helen Bezug hatte; bei dieser Unterzeichnung war auch Pabodie anwesend, dem Poe am nächsten Morgen, am Samstag, den Brief für den Pastor übergab, der das Aufgebot veröffentlichen sollte. Poe schrieb nun an Frau Clemm: „Meine liebe teure Mutter, wir werden Montag heiraten und Dienstag mit dem ersten Zug in Fordham ankommen."^*'' Am gleichen Morgen, am Samstag den 23. Dezember, machten die beiden Verlobten eine Spazierfahrt. Helen fuhr dann nach Hause, um einzupacken, und sie traf Poe nach- mittags in einer öffentlichen Bibliothek. Don wurde ihr ein Brief übergeben, der. sie über den Skandal informierte, welcher durch die Leidenschaft Poes für Frau Richmond in Lowell entstanden war. Frau Whitman erfuhr auch (vielleicht durch Pabodie), daß Poe am gleichen Morgen in der Bar des Earl House mit Freunden trinkend angetroffen wurde. Er hatte also — am Tag vor seiner Heirat — das Ver- sprechen nicht gehalten, von dem die Heirat abhängig gemacht worden war. Frau Whitman machte sich diesen Vorwand sofort zunutze. Als sie mit Poe nach Hause gekommen war, sagte sie ihm, was 186) Poe an Annie, Donnerstag morgens (V.E., Bd. 17, S. 322). I hope that I distinguished myself at the Lecture — I tried to de so, for your sake. There were 1800 people present, and sudi applause! I did so mudi better than I did at Lowell. If you had only been there . . . 187) Israfel, S. 789. MY OWN DEAR MOTHER - We shall be married on Monday, and will be at Fordham on Tuesday, in the first train. 302 Das Leben Edgar Poes sie über seine Anwesenheit in der Bar erfahren habe. Wir wissen nidit, ob audi von Annie die Rede gewesen. Dann ließ sie in Gegenwart Poes die Veröffentlichung des Aufgebots widerrufen. Poe leugnete auf das heftigste, getrunken zu haben; wir werden allerdings nie erfahren, ob und in welchem Ausmaß dies stimmt. Jedenfalls aber sah Frau Whitman, wie sie sagte, ein, daß man auf die Hoffnung, ihn zu ändern, verziditen müsse — und darin hatte sie nidit unredit. Idi glaube jedodi, der Hauptgrund, warum sie mit Poe bradi, bestand darin, daß sie von seiner Liebe zu Annie erfahren hatte. Wenn audi Edgar alles abgeleugnet haben dürfte — was wir aber nicht wissen — , der Flair des Weibes ahnte die Wahrheit. Und die Eigenliebe der verletzten Frau ließ das ganze Gebäude einstürzen, das die Phantasie der Diditerin um den Mann herum aufgebaut hatte. Darum mußte sidi Edgar Poe ohne Widerrede zurückziehen. Frau Whitman teilte nun ihrer Mutter mit, was in den letzten Tagen vorgefallen war. Am Ende des Nadimittags kam der von Helen herbeigerufene Poe nodimals zu ihr, um ver- schiedene Briefe und Dokumente wieder zurückzuerhalten. Sie übergab ihm die Sdiriflstüdke in Gegenwart ihrer Mutter und Pabodies, dann fiel sie ersdiöpft auf den Diwan und bededste das Gesicht mit einem in Äther getauditen Taschentuch. Poe stürzte sich auf sie. Frau Power madite ihn aufmerksam, er müsse sidi beeilen, um den Zug nadi New York noch zu er- reidien. Er fiel jedoch neben Helen auf die Knie und besdiwor sie, die Entsdieidung zu widerrufen. Sie flüsterte schließlich: „Was soll idi sagen?" — „Sagen Sie, daß Sie midi lieben, Helen!" Und sie wiederholte ganz leise durch das in Äther ge- taudite Tasdientudi: „Ich liebe Sie!" Das waren die letzten Worte der Dichterin zu dem Mann, um den sie in ihrer Phantasie ihr ganzes weiteres Leben Trauer tragen sollte, die vollen dreißig Jahre hindurch (sie starb mit Providence und Lowell ~ Helen und Annie 303 fünfundsiebzig Jahren), die sie trotz ihrer schwachen Gesund- heit noch weiterleben durfte. Pabodie begleitete Poe zum Bahnhof; um die Rolle zu be- leuchten, d-e Pabodie in dieser Sache spielte, mag nodi der Hin- weis auf die Tatsadie Platz finden, daß er selbst ein Verehrer der Frau Whitman gewesen. In seiner Einleitung zu den Histoires extraordinaires sagt Baudelaire über die Ereignisse, von denen wir eben berichtet haben : „Man erzählt übrigens, daß Poe eines Tages, gerade als er sich rlr "2 TT ^°"''---' f"r*«^li* betrunken war und die NaAbarsAaft der Frau, mit der er sich verehelichen sollte, auf- brachte; er nahm somit zu seinem Laster Zuflucht, um siA eines Meineids gegen die arme Tote zu entledigen, deren Bild immer in Ihm lebendig war und die er so wunderbar in seiner A n n a b e 1 L e e besungen hatte." Es scheint, daß Baudelaire hier den Grad von Trunken- heit, der Poe verfallen war, übertrieben hat; er stützt sich dabei allerdings auf Griswolds Memolr.^^^ Wenn jedoch seine Behauptung richtig ist, dann muß man annehmen, Frau Whitman habe im Einvernehmen mit Pabodie in ihrem Kult für ihren ehemaligen Verlobten die Tatsache seiner Trunken- heit abgeschwächt.^" Aber in einem Punkt trifft Baudelaire sicher das Richtige- nämhdi in der Annahme, das Verhalten Poes gegen Frau Whitman, dieses Verhalten, welches zum Bruch führen mußte, sei durch die Treue für eine andere Frau bestimmt worden. 188) Im ersten Band von The Works of the Ute Edgar Allan Poe u,^th a memo.rhyKnius Wilmot Griswold and notices of Z &ild!%r'"' ^■^•'^'"" ^"'^ J.R. Lowell, New York, Red- P^^y ^'^^rlt°.^'^ ^" ^'^ "^"^ ^"^'^ Trihune", Griswold an Pabodie und Pabodie an Griswold, i8ja (V. E., Bd. 17, S.408 I 30^ Das Leben Edgar Poes Wollte er aber Virginia treu bleiben, wie Baudelaire be- hauptet? Oder A n n i e, wie man nach dem aktuellen Konflikt annehmen könnte, in dem Poe steckte? Hinter all dem Ver- halten lauerte die Treue zu seiner Mutter, die ihm für immer den normalen "Weg zur Frau versperrt hatte, indem sie an den teuren Leidinam die Libido ihres Sohnes fixierte. Die Trunk- sucht Poes, die Anfälle von Halbwahnsinn, weldie die geliebte Frau ersdirecken mußten, sdiließlich sogar der Mangel an Mißtrauen gegenüber dem „Nebenbuhler" Pabodie, waren die Mittel, deren sidi die Fixierung an die Mutter bediente, um Poe nodi knapp vor der Hodizeit vor der unmittelbar bevor- stehenden Gefahr, welche die physische Annäherung an die lebende Frau bedeutete, zu bewahren. „Gottlob! Die Gefahr ist nun endlich vorbei . . ." sollte Poe bald in seinem Gedidit F ü r A n n i e singen. Man kann diese Worte auch in dem oben angedeuteten Sinn ver- stehen. ^ Poe, der in das Landhaus von Fordham mit seiner Frau einziehen wollte, kam allein zurück. Frau Clemm war darüber nicht besonders verärgert, die Heirat ihres Sohnes mit der Dichterin hatte ihr nie gefallen. Aber der Stolz Edgars^ war nodi tiefer als seine Liebe verletzt. Daher war es seine nächste Sorge, diesem Stolz weitere Demütigungen zu ersparen. Er schrieb an Frau Whitman und bat sie, das Gerücht zu be- stätigen, das er selbst verbreitete: die Hochzeit sei nur wegen ihres Gesundheitzustandes verschoben worden. Fast zu gleicher Zeit schrieb er an Annie und erklärte ihr, eine große Last sei ihm durch den Bruch mit Frau Whitman abgenommen worden; er sei auch immer entschlossen gewesen, es nicht zur Heirat kommen zu lassen ... Was ist an diesen Worten wahr? Wahrscheinlich sehr viel. Die leidenschafllidie Neigung für Frau Whitman mit allen Providence und Lowell — Helen und Annie 30J Zwischenfällen, die zu dieser Liebe gehörten, mußte sich in Edgar schnell in einen heftigen Alptraum verwandelt haben, und es scheint auch sicher zu sein, daß die Liebe Poes zu Annie der wahren Liebe am nächsten war."» Frau Whitman gegen- über verschwieg er mit Recht seine Neigung für Annie. Annie gegenüber aber log er kaum, wenn er ihr versicherte, sie braucäie auf Frau Whitman nicht eifersüchtig zu sein. Ende Januar schickte er an Annie sogar einen Brief, der für Frau Whitman bestimmt war, damit sie ihn lese, bevor er an seine Adresse abgeschickt werde: „Ich schicke Ihnen einen Brief für Frau Whitman. Lesen Sie ihn und zeigen Sie ihn nur den Menschen, denen Sie vertrauen können, versiegeln Sie ihn dann und schiien Sie ihn nach Boston. Wenn idi die Antwort erhalte, werde idi sie Ihnen zu- kommen lassen: das wird Sie von der Wahrheit dessen überzeugen, was ich gesagt habe.'"-""- Dann fügt er hinzu: „Trotz aller Bangigkeit und aller Verlegenheit, in die idi im Augenblick verstridct bin, fühle idi im Innersten meiner Seele eine göttliche Freude — ein unaussprechliches Glück — , das durdi nichts getrübt werden kann..."^"^ So sprach der Anbeter der in der Ferne lebenden Annie nach dem Bruch mit der „Helen tausender Träume". Zum Schluß des Briefes schrieb er: 190) Ich bin hier einer Meinung mit Hervey Allen {hrafel, S- 77j)- 191) Poe an Annie, 23. Januar (V. E., Bd. 17, S. 328). I enclose you a letter for Mrs. Whitman. Read it — show it only to those in whom you have faith, and then seal it with wax and mail it from Boston. When her answer comes I will send it to you: that will convince you of the truth. 192) Ebenda. In all my present anxieties and embarrassments, I still feel in my inmost soul a divine joy — a happiness inexpressible — that nothmg seems to disturb. Bonaparte: Edgar Poe. I. „ 3o6 Das Leben Edgar Poes „Seien Sie dessen versichert, Annie — von heute an meide idi diese verpestete Gesellsdiaft schreibender Frauen. Das ist eine Clique ohne Herz, ohne natürliches Empfinden, eine gallige Gesell- schaft, ohne Ehre und nur von unmäßiger Eigenliebe gelenkt. Frau Osgood ist die einzige Ausnahme, die idi kenne . . ." ^^^ Im gleidien Brief zählt Poe die zahlreichen Magazine auf, die seine Artikel angenommen oder ihn um Mitarbeit gebeten haben. Er werde sich an die Arbeit machen, Geld verdienen, reidi werden, über alle triumphieren, trotz der furchtbaren Kopf- sdimerzen, die ihn seit zwei Wodien quälen, und schließlich, meint er, könne er den Stylus gründen und der Richter und König der amerikanisdien Literatur werden. Am 14. Februar 1849 nahm Poe auch den Briefwedisel mit seinem Freund Thomas wieder auf, der so lange unter- brochen war: „Idi bin glücklich, Sie wieder in dem Ihnen einzig zukommenden Beruf, ,auf dem Felde der Literatur', wiederzufinden. Seien Sie trotz allem versidiert, Thomas, das Schreiben ist der edelste aller Berufe. Es ist fast der einzige, der eines Mannes würdig ist. Was midi betrifft, nidits könnte midi veranlassen, diesen Weg zu ver- lassen. Idi wenigstens werde mein ganzes Leben hindurdi Schrift- steller bleiben; und ich würde die Hoffnungen, die mich aufredit erhalten, nidit für das ganze Gold Kaliforniens hergeben.""' 193) Ebenda. But of one thing rest assured, „Annie", — f rom this day forth I shun the pestilential society of literary women. They are a heartless, un- natural, venomous, dishonorable set, with no guiding principle but inordinate self-esteem. Mrs. Osgood is the only excepuon I know. 194) Poe an Thomas, 14. Februar 1849 (V. E., Bd. 17, S. 332). Rigiit glad am I to find you once more in a true position — „in the field of letters". Depend upon it after all, Thomas, literature is the most noble of professions. In fact, it is about the only one fit for a man. For my own part there is no seducing me from the path. I shall be a litter ateur at least, all my life; nor would I abandon the hopes whidi still lead me on for all the gold in California. Providence und Lowell — Helen und Annie 307 So lenkte der Diditer, der in seiner auf das äußere Objekt geridbteten Liebe sich geirrt hatte, der wieder durch die Frau enttäuscht worden war, narzißtisch seine Libido auf sich selbst und auf seine Schöpferkraft, die dadurdi neuerdings, wenn audi nur für eine kurze Zeit, eine ganz besondere Stärke erreichte. * Die ideale und distanzierte Liebe, die Poe für Annie hegte, scheint auf diese letzte sdiöpferische Zeit seines Lebens von besonders günstigem Einfluß gewesen zu sein. Die Stürme und Konflikte, welche die von Gefahren besetzte Gegenwart jeder geliebten Frau mit sidi brachte, waren besänftigt. Nun aber, wo er vom Liebesobjekt so weit entfernt war und von der Realität nicht gestört wurde, konnte er ungebunden von Annie träumen, und die Gedichte Die Glocken, El Dorado, Annabel Lee und Für Annie diditen und umdichten, und daran denken, daß sie von ihren Augen gelesen werden. Die erste Fassung der Glocken war — wie man sich er- innern wird"'' — auf das Drängen der Frau Shew hin an einem Tag geschrieben worden, an dem er sich in einem Zustand seltsamer Stumpfheit befand. Es bestand damals nur aus zwei Strophen, in denen der Grabesklang der „schweren Eisen- glocken" gleich auf das Klingeln der hochzeitlidien „kleinen Silberglocken" folgte — eine Aufeinanderfolge, die durch den in Poe inhärenten Wiederholungszwang, zu Liebe stets Tod zu assoziieren, erzwungen wurde. Das Glockenthema war für eine soldie Assoziation besonders geeignet und ihm darum teuer. Das kleine Gedicht mit den zwei kurzen Strophen war somit ein Jahr lang liegen geblieben. Jetzt aber, an einem einzigen Tag, wahrscheinlich am 6. Februar, machte er plötzlich ein langes Gedicht mit vier Strophen daraus.^"^ Die Silberglocken 195) Siehe S. 269 f. 196) Poe an Annie, Donnerstag, den 8. (V. E., Bd. 17, S. 330). 3o8 Das Leben Edgar Poes hingen nun an fröhlichen Schlitten, die unter der eisigen und be- sternten Wölbung des Winterhimmels dahinglitten. Die hoch- zeitlichen Glocken verwandelten sich in Goldglodken, die ihre Töne aus geschmolzenem Gold in der nach Balsam duftenden Luft der Sommernacht klingen ließen. In der dritten Strophe tauchten gar Bronzeglocken auf, um als Sturmglocken des Brandes durch die Nacht zu heulen. Die Eisenglocken der letzten Strophe schließlidi blieben die Totenglocken, die in der Nadit des Todes läuteten. Es fällt uns dabei auf, daß jetzt alle Glocken in der Nadit klingen; das Thema des Gedichtes taudit — und das entspricht natürlich dem Geist Poes — in voll- kommener Verdüsterung unter. Für wen läuten nun. alle diese Glocken, die Silberglocken der Verlobung, die Goldglodcen der Hochzeit, die Bronzeglocken der Gefahr und sdiließlidi die Eisenglocke des Todes? Läuten sie nidit der ewigen Liebe Poes, die er verliert, sobald er sie errungen hat? Und sind die Flammen, weldie die Sturmglocke ankündigt, und die zwischen Hymen und Tod lodern, nicht das Symbol für die gefährlichen, unheilvollen „Flammen" der physisdien Liebe, die Poe so fürchtete? Durch diese Umformung wird das Gedicht, in dessen letzter Strophe deutlidb vom „Päan" die Rede ist, zu einer Art neuer Ausgabe von L e n o r e oder E i n Päan, dessen Thema in andern Bildern und mit andern Worten wiederholt wird. Gleidizeitig aber mit der Wiedergeburt der Poesie in der Seele Poes erfaßte ihn von neuem das Heimweh nach der toten Mutter, die für ihn mit der „Poesie" identisch war. Selbst das kleine Gedicht El Dorado, das zweifellos in der Zeit des kalifornischen Goldrausdies geschrieben worden, zeigt uns, daß der „w ackere Reiter, fröhlich aufgeputzt" — Poe selbst natürlich — , der sein ganzes Leben das Goldland gesucht hat, erfahren muß, El Dorado sei nidits anderes als das Sdiattental des Todes. Providence und Lowell — Helen und Annie 309 Aber das mäditig empordrängende Heimweh nach einer Vereinigung mit der toten Mutter bricht besonders aus den zwei letzten großen Gedichten Poes, aus Annabel Lee und Für Annie, hervor. Wir haben schon ausführlich über Annabel Lee ge- sprochen, als wir von den letzten Tagen Virginias berich- teten."' Rosalie Poe behauptet, sie habe dieses Gedicht von ihrem Bruder im Sommer 1846 in Fordham gehört.^"^ Audi Poe hat (der Frau Weiß) erklärt, Annabel Lee sei vor dem Tode der Virginia gedichtet worden. Trug die Heldin schon damals ihren Namen oder bekam sie ihn erst durch den Einfluß Annies? Tatsache ist, daß das Gedicht umgedichtet und mit dem sicheren dichterischen Instinkt Poes verbessert wurde, als der Stern Annie aus der Ferne über seinem Leben leuditete. Er schrieb ihr um diese Zeit: „Ich habe eine Ballade geschrieben, die Annabel Lee heißt, und die ich Ihnen bald sdiicken werde . . ."^o» Deutlicher aber als in der Annabel Lee, in der die Heldin so nachdrücklich die Züge Virginias trägt, daß man andere, später hinzugefügte Züge nicht erkennen kann, deut- licher also als in Annabel Lee erkennt m^n in dem Ge- dicht Für Annie, welche Bedeutung Annie Richmond im Unbewußten Poes bekommen hatte. Elizabeth Arnold, die geliebte Mutter, hauste von dem Augenblick an in ihm, in dem er die Augen im Licht dieser Welt geöffnet hatte, und sie sollte für immer in ihm herrschen. Auf dieses ursprüngliche Antlitz wurde später im Unbewußten Poes das Bild seiner Frau Virginia als Realitätsersatz derart 197) Siehe S. 215— 22j. 198) Siehe S. 215. 199) Poe an Annie, ohne Datum (V. E., Bd. 17, S. 346), I have written a ballad called „Annabel Lee", whidi I will send you soon. 310 Das Leben Edgar Poes darübergelegt, daß es die meiste Zeit hindurch mit ihm gänz- lich verschmolz. Nun war aber Virginia gestorben; ihr „ver- waister" Mann mußte daher in der "Welt weiter nach einem Mutterbild suchen, an das er seine Hoffnungen und Träume klammern konnte. In der Realität kam er nie zum Ziel; er war außerstande, sidi dem Leben anzupassen — das ist der Fall bei allen Menschen, bei denen die ungebändigten Triebkräfte des Unbewußten vor der Realität die Vorhand haben — und diesem Verhalten blieb Poe bis zum Ende seines Lebens treu. Aber nadidem Virginia der Mutter Elizabeth ins Grab gefolgt war, fand sich wenigstens eine Frau, die Poe zu einem Gedidit inspirieren konnte — und die dort Erfolg hatte, wo Frances Osgood, Marie-Louise Shew und auch Helen Whitman nichts erreidien konnten. Einen soldien riesengroßen Raum hatte die sanfle, ruhige Annie im Unbewußten des Dichters erobert. Für A n n i e.""" Gotdob! die Gefahr ist nun endlidi vorbei . . . 200) For Annie, Flag of Our Union, 1849; Home Journal, 28. April 1849; Griswold, i8jo (nadi V. E., Bd. 7, S. 216). Der nadi der V. E., B. 7, S. 11 1 — 114, zitierte Text ist die Fassung aus dem Jahre 1849 (Home Journal): For Annie. Thank Heaven! the crisis — The danger is past, And the lingering illness Is over at last — And the fever calied „Living" Is conquered at last. Sadly, I know I am shorn of my strength. And no muscle I move As I lie at füll length — But no matter! — I fcel I am better at length. Providence und Lowell — Helen und Annie 311 ruft der Dichter aus, während er diese Verse nadi dem Brudi mit Helen Whitman sdireibt. Aber die Krise, von der hier die Rede ist, erreicht eine ganz andere Schwingungsweite: Von schleppender Krankheit Ward endlich ich frei — Ward sieghaft vom Fieber Dem „Leben", nun frei. Und dann klingt das Lied auf den Tod des lebensmüden Wesens kräftig auf: Ich weiß es, ich kann Keine Taten mehr tun, Keinen Muskel mehr regen, Nur langgestreckt ruh'n — Was tut es! Jetzt fühl ich Midi besser im Ruh'n. Und idi liege so friedlich. Errettet von Not, Daß wer an mein Bett tritt, Vermeint, idi sei tot — And I rest so composedly Now, in my bed, That any beholder Might fancy me dead — Might Start at beholding me, Thinking me dead. The moaning and groaning, The sighing and sobbing, Are quieted now, With that horribie throbbing At heart: — ah that horribie, Horribie throbbing! The sickness — the nausea — The pitiless pain — Have ceased with the fever That maddened my brain — With the fever called „Living" That burned in my brain. 312 Das Leben Edgar Poes Ersdirickt bei dem Anblick Und meint, idi sei tot. Das Ächzen und Krächzen, Die seufzende Plag' Ist nun endlich vorbei Mit dem schrecklidien Sdilag, Mit des Herzens entsetzlidiem Schrecklidiem Schlag! Das Übel — der Ekel Die ruhlose Not — — Hörte auf mit dem Fieber, Das im Hirn mir geloht — Mit dem Fieber, dem „Leben", Das wahnvoll geloht. Und von allen Foltern Ich jener genas. Die am schrecklichsten quälte. Am furchtbarsten fraß: Des Durstes nadi Liebe, Nadi Lieb' ohne Maß — And oh! of all tortures That torture the worst Has abated — the terrible Torture of thirst For the naphtaline river Of Passion accurst: — I have drank of a water That quendies all thirst: — Of a water that flows, With a lullaby sound, From a spring but a very few Pect under ground — From a cavern not very far Down under ground. And ah! let it never Be foolishly said That my room it is gloomy And narrow my bed; Providence und Lowell — Helen und Annie 313 Nun trank ich ein Wasser, An dem ich genas. Ein Wasser, das flutet Mit schlaf erndem Klang, Das nah unterm Boden Sich gräbt seinen Gang — Wenig Fuß in dem Grunde Sich gräbt seinen Gang. Und ach, daß noch immer Die Dummheit es spricht. Daß enge mein Bette, Ohne Lufl, ohne Lidit — Denn in anderen Betten Da ruht es sich nicht, Und zum Schlafen bedarfst du Solch Bett ohne Licht. So besingt der Dichter das Grab, das in der Phantasie der Mensdien eine zweite Wiege ist; er lehnt sich an die Mutter- For man never slept In a different bed — And, to sleep, you must slumber In just such a bed. My tantalized spirit Here blandly reposes, Forgetting, or never Regretting, its roses — Its old agitations Of myrtles and roses: For now, while so quietly Lying, it fancies A holier odor About it, of pansies — A rosemary odor, Commingled with pansies — With rue and the beautiful Puritan pansies. And so it lies happily. Bathing in many 314 Das Leben Edgar Poes Erde wie an die mütterlidie Brust, die den Durst lösdit und an der das Kind einschläft. Aber da ersdieint die menschliche Gestalt der Mutter wieder: Die gemarterte Seele, Hier ruht sie sidi aus, Vergißt, und vermißt nidit Den duftenden Strauß Von Myrten, von Freude — Den Rotrosenstraudi. Denn drunten, da ruht sie In heiligerm Haudi, In süßestem Duften Von Rosmarinstraudi — Im Blauveildienduften Und Rosmarinhaudi — In keusdiester Reinheit Von Rosmarinstraudi. Symbolische Blumen zeigen so den Auftritt der mensdilidien Gestalt an, und während die gar zu physisdien weiblidien A dream of the truth And the beauty of Annie — Drowned in a bath Of the tresses of Annie. She tenderly kissed me, She fondly caressed. And then I feil gently To sleep on her breast — Deeply to sleep From the heaven of her breast. When the light was extinguished, She covered me warm. And she prayed to the angels To keep me from härm — To the queen of the angels To shield me from härm. And I lie so composedly, Now, in my bed, I Providence und Lowell — Helen und Annie 315 Rosen und die hochzeitlidien Myrten verschwinden, erscheint die Mutter inmitten eines reinen, keuschen, („puritanischen") und dem Gi-ab entsprechenderen 'Wohlgeruchs von Blauveilchen, Rosmarin und Raute. Und da liegt sie nun heiter In Träume gebannt Von Treue und Schönheit, Von Annie, gebannt In Träume von Annie, Von Locken umspannt. Sie küßte mich innig. So zärtlich bewuiSt, Dann fiel idi in Schlummer Dort an ihrer Brust — In traumtiefen Schlummer Von himmlischer Brust. Als das Licht dann erloschen. Da deckt sie mich warm. Und sie bat zu den Engeln, Mich zu hüten vor Harm — Zu der Herrin der Engel, Mich zu schirmen vor Harm. (Knowing her love) That you fancy me dead — And I rest so contentedly, Now, in my bed, (With her love at my breast) That you fancy me dead — That you shudder to lock at me, Thinking me dead: — But my heart it is brighter Than all of the many Stars of the sky, For it sparkies with Annie — It glows with the Hght Of the love of my Annie — With the thought of the Hght Of the eyes of my Annie. 3i6 Das Lehen Edgar Poes Haben wir hier nicht das Bild des gesättigten Kindes vor uns, das an der Mutterbrust eingeschlafen ist und von den zärtlichen Mutterhänden behütet, gestreichelt wird? Dem Kind fehlt es noch an Worten, um das Glück, zu besingen, in dem es sich badet; aber der Erwachsene, in dem das Kind ewig weiter- lebt, findet, wenn er die Gabe der Poesie mitbekommen hat, die Worte, weldie das Glück einer vergangenen Zeit wieder- erwecken können. Und das Gedidit schließt mit dem Bild des schlafenden Kindes, das der Liebe seiner Mutter sicher ist: Und idi liege so friedlich, Errettet von Not (Denn ich weiß ihre Liebe), Daß ihr meint, idi sei tot — Und ici ruh' so gelassen, Errettet von Not (Ihre Liehe im Busen), Daß ihr meint, idi sei tot — Nur schaudernd mich ansdiaut, Und denkt, ich sei tot. Dodi mein Herz, das strahlt heller, Als am Himmelsthron sprüht Der Sterne Gewimmel, Da von Annie es glüht. In der Liebe von Annie Erstrahlet und glüht. Im Gedanken an Annies Lichtaugen erglüht. So träumt der Dichter davon, daß er im Tod den Glanz der nievergessenen Mutteraugen wiedersehen werde, jenes Leuchten, das den Träumenden zu seiner Ligeia inspiriert hatte und dessen Reflex in den Augen anderer Frauen ihn stärker als alles andere anlockte, jener Glanz, der auch noch für uns aus der Miniatur, in der die Züge Elizabeth Arnolds weiterleben, sichtbar ist.^" 201) Siehe S. 224, Fußnote 131. p Providence und Lowell — Helen und Annic 317 Und anderseits besingt dieses Gedicäit in herrlidien Worten, im Traum, was die Realität schon einmal Poe verweigert hatte und was sie ihm einige Monate später noch einmal verweigern sollte: in den Armen Annies zu sterben. Die Bedeutung der Mutter„übertragung", die für Poe auf Frau Ridimond übergegangen war, geht deutlich aus diesem Gedicht hervor. Außer Virginia, der großen Anregerin seines ganzen Werks, ist Frau Ridimond (neben Frau Stanard) unter allen Frauen, die er liebte, tatsächlich die einzige gewesen, welche ihn zu einem großen Gedicht inspiriert hat. Am 23. März schickte Poe sein Gedicht Für Annie an Frau Richmond und fügte diesem Kommentar bei: „Ich glaube, die Verse F ü r A n n i e (die ich Ihnen jetzt schicke), sind die besten, die ich je gesdirieben habe; aber ein Autor darf nur selten der eigenen Einschätzung seiner Leistung trauen, daher mödite idi gerne erfahren, was Annie wirklich von dieser Dichtung hält — und ihre liebe Schwester und Herr C "^"^ Wir wissen nicht, was Annie von diesem Gedichte dachte. Was uns anbelangt, wir stellen es neben die Annabel Lee und Ulalume und schließen uns gern dem Urteil Poes an. In einem früheren Brief, der vom 19. Februar datiert ist, beklagt sich Poe bei Annie, das Herz sei ihm schwer. Und während er noch zehn Tage^»« vorher den ihn berauschenden Plan gefaßt hat, das Landhaus in Fordham nicht mehr zu mieten und sidi mit Muddy in einem andern Landhaus, in Westford, bei den Richmonds einzuquartieren — jedenfalls 202) Poe an Annie, 23. März 1849 (V. E., Bd. 17, S. 344). I think the lines „For Annie" (those I now send) mudi the best I have ever written; but an author can seldom depend on his own estimate of his own works, so I wish to know what „Annie" truly thinks of them — also your dear sister and Mr. C. — . 203) Poe an Annie, Donnerstag, den 8. (V.E., Bd. 17, 's.331). 3i8 Das Leben Edgar Poes aber bald eine "Woche mit Annie zu verbringen — teilt er jetzt mit, er habe Fordham neuerdings für ein Jahr gemietet und könne nicht mehr kommen. Böse Mäuler haben nämlich wieder einmal ihr Werk getan, und Poe erklärt daher:' er könne zwisdien den Zeilen lesen, Herr Richmond mißtraue ihm. Und man solle sogar versudit haben, den Gatten lädierlidi zu madien und als einen gefälligen Ehemann hinzustellen. Poe zieht es daher vor, nidit neben Annie zu leben, ja er verziditet sogar darauf, sie bald wiederzusehen: er wolle nicht das häus- liche Glüdk des einzigen Wesens in der ganzen Welt, das er zu gleidier Zeit wirklich und rein geliebt habe, trüben.^"* Wie hätte es auch die Welt verstehen können, daß die Leidenschaften des großen Dichters ebenso platonisch wie glühend waren? Ihre Tollheit täuschte, man hörte nur, wie heftig und beunruhigend die „Liebessdireie" waren; aber er schrie doch nur deshalb so laut, weil ihm jede physische Geste untersagt war. Jedesmal also, wenn er mit einer der besungenen „Seelenleidenschaften" liebte, mußte er sich vor der „Verleum- dung" der Welt zurüdcziehen, mit reinem Gewissen und ohne zu verstehen warum. Annie verließ ihn jedoch nicht, trotzdem sie so weit von ihm weg war. * Nach dieser großen Erregungsperiode, die mehrere Monate gedauert hatte, und deren verschiedene Ereignisse der Kampf um Frau Whitman waren, die beharrliche Verehrung Annies und das kurze, heftige Fieber literarischer Tätigkeit, aus dem zahlreiche Artikel, Briefe und die letzten großen Gedichte 204) Poe an Annie, Fordham, Sonntag, den 19. Februar (V. E., Bd. 17, S. 337. (Das von Poe oder Harrison angegebene Datum muß aber entweder Sonntag der 18. oder Montag der 19. sein). I cannot and will not have it on my conscience that I have interfered with the domestic happiness of the only being in the whole World whom I have loved at the same time with truth and with purity. p Providence und Lowell — Helen und Annie 319 hervorgingen, verfiel Poe natürlich wieder in einen Zustand tiefster Depression. Muddy schrieb im März an Annie: „Ich habe einige Male geglaubt, er werde sterben. Gott weiß, daß ich für uns beide das Grab herbeisehne. Das wäre sicher das allerbeste."^''= Einige Zeit nachher schrieb Poe: „Annie, — aus diesen Zeilen ersehen Sie, daß ich mich beinahe wohl fühle, wenn audi nicht ganz, — quälen Sie sich daher meinet- wegen nicht. Ich bin nidit so krank gewesen, wie meine Mutter geglaubt hat, sie zittert so sehr um mich, daß sie sich oft ohne Ursadie ängstigt. Ich war weniger krank als vielmehr psydiisih deprimiert — icii kann Ihnen nicht sagen, wie sehr idi unter einer düstern Stimmung gelitten habe ... Sie wissen noch, in welch fröhlichem Ton idi Ihnen vor nidit langer Zeit — über meine Pläne — meine Hoffnungen sdirieb, und daß ich damit rechnete, bald aus allen meinen Schwierigkeiten heraus zu sein. Es scheint mir aber, als ob jetzt alles danebengegangen ist — für den Augenblidc wenig- stens . . ." Und Poe zählt auf, was von seinen Hoffnungen zusammen- gebrochen, welche Magazine eingestellt wurden, für die er ge- schrieben hatte. Dann setzt er fort: „Sie werden, Annie, diese schlechteLaune sidierlidi jenen Ereignissen zusdireiben — jedoch mit Unrecht. Derart äußerliche Gründe könnten nicht eine solche Depression in mir hervorrufen . . . Aber idi kann über meine Traurigkeit nicht Klarheit be- kommen, und das macht mich noch trauriger. Ich bin von düsteren Ahnungen erfüllt. Nichts freut midi, nichts tröstet midi. Mein Leben sdieint zu Ende zu sein — die Zukunft ist wie eine düstere Leere." ^"^ 20j) Israfel, S. 804. 206)^ Poe an Annie, ohne Datum (V. E., Bd. 17, S. 345 f.). Annie, — You will see by this note that I am nearly, if not quite, well — so be no longer uneasy on my account. I was not so ill as my mother supposed, and she is so anxious about me that she takes alarm often without cause. It is not so much ill that I have been as depressed in spirits — I cannot express to you how terribly I have been suffering from gloom . . . You know Das Leben Edgar Poes Der Zyklothymiker Poe ging also auch diesmal wieder aus dem Zustand glühendster Exaltation in den tiefster De- pression über. Die „dunklen Ahnungen", von denen Poe spricht, erfordern unsere Aufmerksamkeit. Schon bevor er im November Annie verließ, hatte er jenes „schreckliche, grauenhafte Vorgefühl eines nahen Unglüdks".^<" Und mit vollem Redit: den nächsten Tag nahm er jene Unze Laudanum. Die Voraussage eines von außen kommenden Unglücks war hier — wie das fast immer der Fall ist — die Projektion, und somit die im Dunkeln bleibende Bewußtmadiung eines inneren unbewußten Wunsdies nach einer Selbstzerstörung, die einerseits mit den Todestrieben, welche stets in uns schlummern, anderseits mit den mit ihnen verbundenen erotischen Trieben in Zusammenhang steht, mit Trieben, welche Poe in die Arme Annies jagten, oder vielmehr in die Arme der in ihr verkörperten toten Mutter, nach der nun in seinem Jammer die Sehnsucht mächtig anwuchs. Darum durften die „dunklen Ahnungen" vom Frühling 1849 nidit lange ohne Reditfertigung bleiben. * Man wird uns einwerfen, daß der Lebenslauf Poes — wie wir bald sehen werden — so schnell zu Ende ging, weil er nur über eine sciiwaciie physische Gesundheit verfügte. Das leugnen wir niciit. Er stammte von einem Alkoholiker ab, ging aus einem Keim hervor, der mancherlei Beschädigung unterlegen how dieerfuUy I wrote to you not long ago — about my prospects — hopes — how I anticipated being'soon out of difficulty. Well! all seems to be frustrated — at least for the present . . . No doubt, Annie, you attribute my „gloom" to these events — but you would be wrong. It is not in the power of any mere worldly considerations, such as these, to depress me . . . No, my sadness is unaccountable, and this makes me the more sad. I am füll of dark forebodings. Nothing dieers or comforts me. My life seems wasted — the future looks a dreary blank. 207) Siehe S. 293. p I Providence und Lowell — Helen und Annie 321 war, litt vor und nach seiner Geburt viel Elend, und bot das Bild eines Menschen, den sdion Lauvriere nadi dem Terminus jener Zeit einen „degenere superieur" genannt hat. Wie viele Söhne von Alkoholikern, neigte audi er zum Trinken, ohne den Alkohol vertragen zu können. So erlebte er ständig den Kon- flikt zwisdien seiner Erbschaft und der Identifizierung mit dem trinkenden Vater einerseits und dem Kampf gegen diese Neigung anderseits: und war damit das schlagende Beispiel für einen dipsomanen Zyklothymiker. Der Alkohol, audi der nur intermittierend genossene — wobei zeitweilig das Opium wohl mitwirkte — hat wahrscheinlich in dem wenig widerstands- fähigen Organismus vielfadie Zerstörungen hervorgerufen, die Leber, Niere angegriffen, diffuse Vaskularverletzungen hervor- gerufen und die ungenügende Herztätigkeit sdiwer beein- träditigt. Gehirn und Herz waren jedenfalls nicht gesund. Das hätte genügt, um ein kurzes Leben zu verursachen. Dazu aber kam, daß außerdem noA irgend etwas, besonders seit Virginia fort war, ihn dazu trieb, voll Verzweiflung und mit allem Nadidruck jenem Gleiten nachzugeben, das durch seine schwankende Gesundheit verursacht wurde. Die Bewegung schien ihr Tempo immer mehr zu beschleunigen, und der Ruf des Grabes klingt nachdrücklicher als je aus dem Gedidite Für Annie. Es sah so aus, als ob die tote Mutter, die seit jeher die Hände nadi ihm ausstreckte, nidit mehr länger warten wollte. Bonaparte: Edgar Poe. I. PHILADELPHIA, RICHMOND UND BALTIMORE DIE LETZTEN FLUCHTVERSUCHE Poe kam aus der furditbaren Armut nicht heraus. Die ge- alterte Muddy konnte weder durch ihre Näharbeiten noch durch andere Wunder ihren Sohn und das Haus erhalten. Und wenn audi Frau Lewis und Frau Shew wieder die „Schutzengel" des armen Hauses wurden, der Stylus blieb die einzige Hoffnung, aus diesem Elend herauszukommen. Und welche Luftschlösser errichtete die Phantasie Poes mit diesem Projekt! Um aber Schlösser in Wirklichkeit bauen zu können, bedarf man eines soliden Einlagekapitals. Wer wollte nun das Kapital hergeben? Die Reise Poes nach dem Süden, wo er für den Stylus Sub- skriptionen sammeln sollte, und die er in einem Brief schon Anfang Februar erwähnt,^"* wird aus Mangel an Geld immer wieder aufgeschoben. Und immer wieder schreibt er an Annie: „Ich muß reich werden, reich . . ." Durdi Helen wäre er es geworden, für Annie wollte er es werden; das machte den Unterschied in seinem Verhalten den beiden Frauen gegenüber aus, und ließ ihn trotz allem Annie gegenüber männlicher er- scheinen als Helen gegenüber. Aber zwischen dem Projekt und der Realisierung lag der Abgrund, der durch den Charakter Poes immer wieder aufgerissen wurde. 208) Poe an — , 29. Februar 1849 (V. E., Bd. 17, S. 338). Hervey Allen meint, daß dieser Brief, ebenso wie die auf den folgenden Seiten zitierten, an Eveleth geriditet sei (Israfel, S. 804). Die letzten Fluchtversuche 323 In der Zeit nun, in der Poe das letzte Aufbäumen seiner Leidenschaft für Helen bekämpfte, fiel es einem jungen Mann aus Oquawka, einer kleinen Stadt in Illinois am Mississippi, ein, an Poe zu schreiben. Edward Horton Norton Patterson hatte nämlidi seinen eben verstorbenen Vater beerbt, er besaß em kleines Vermögen und den Oquawka Spectator, ein Magazin, das vom Vater gegründet worden war. Der junge Mann war vor kurzem (1849) großjährig geworden; seine erste Tat bestand in dem Brief an Edgar Poe. Es war das Sdireiben eines jungen und enthusiastischen Be- wunderers. Seit Jahren las er in verschiedenen Magazinen, die ihm unter die Augen kamen und die sein Vater im Tausch gegen das eigene bekam, was Poe geschrieben hatte. Er wußte daher auch von dem Plan zu einem großen Magazin, der den großen Dichter und Kritiker schon seit langem beschäftigte. In seiner jugendlichen und ehrgeizigen Begeisterung schlug er Poe vor, mit ihm dieses Magazin zu gründen. Er wolle das Kapital liefern, Poe solle die Artikel schreiben und die litera- rische Richtung bestimmen. Der Brief des jungen Mannes, der am 18. Dezember 1848 abgeschickt worden war, erreichte Poe erst im folgenden April. Als er aber in diesem Elendsfrühling ankam, war er gleichsam die Manna, die vom Himmel fällt! Poe ant- wortete sofort; er war anderer Meinung über den Preis des zu gründenden Magazins, wollte elegante teure Hefte haben, das Jahresabonnement sollte fünf Dollar kosten statt der vorgeschlagenen drei. Er war audi mit dem vorgeschlagenen Titel nicht einverstanden, brannte aber darauf, zu einer Ver- ständigung zu gelangen. Endlich sollte der Stylus, dieser Traum seines Lebens, erscheinen! Aus weiteren Briefen erfahren wir, daß Poe Patterson in Oquawka, Saint-Louis, New York, oder wo immer er wünsdie, treffen wollte; er war im Begriffe, eine Vortragsreise nach dem 324 Das Leben Edgar Poes Süden anzutreten. Die Vorträge und die nun einsetzende Pro- paganda sollten mindestens tausend erste Subskriptionen für den Stylus herbeischaffen; die erste Nummer war für Januar i8jo geplant.'''"' Vorher aber, im Mai, fuhr Poe nadi dem Norden. Die Gerüdite über den „Skandal" waren in- zwischen in Lowell abgeflaut, Edgar konnte es daher wagen, wieder bei Annie aufzutaudien. Diese wenigen Tage — die letzten, die er in ihrem Haus verbradite — waren audi die letzten glücklichen Tage seines Lebens. Annie liebte ihn, auf ihre Art — das beweisen die Briefe an Frau Clemm, die sie nadi dem Tod Edgars sdirieb.^" Bei ihr fand er die letzte, ruhevolle Zuflucht. Dann kam Poe mit der endgültigen Fassung der G 1 o c k e n, die er in Westford niedergeschrieben hatte, nadK Fordham zurück, stattete sich aus und war nun bereit, nadi Richmond abzureisen, um den Reichtum zu erobern. Vorerst aber mußte die Miete in Fordham bezahlt, werden; daher ersudite Poe Patterson, der ihm in Richmond fünfzig Dollar vorstrecken sollte, ihm das Geld noch vor dem Antritt der großen Reise zu leihen. Schon einmal, im Jahre 1843, hatte die Grün- dung des Stylus damit begonnen, daß ein gewisser Herr Clarke die Kosten einer Reise nach Washington tragen mußte, die dann ein so elendes Ende fand. War dem neuen Schwabenstreich in Richmond ein besserer Erfolg besdiieden? Tatsadie ist, daß Poe Ende Juni an Eveleth über den Stylus schrieb: „Idi warte auf die beste Gelegenheit, um ihn ersdieinen zu lassen; und wenn ich entdecken sollte, daß beim Jüngsten Geridit die Chancen erheblidi besser sein werden als heute, dann will idi 209) Nadi dem auf der folgenden Seite zitierten Brief Poes an — (Eveleth). 210) V.E., Bd. 17, S. 398, 402 und 431. Die letzten Fluchtversuche }i^ geduldig bis zum Jüngsten Geridit warten. Ich fahre nach Ridimond, um zu sehen, „was sidi madien läßt" — und es ist möglich, daß ich die erste Nummer kommenden Januar veröfFentlidie." °" Man könnte meinen, der alte Fludi Allans, der dem Adoptivsohn voraussagte, er werde nie zu etwas taugen, läge nodi immer auf der Seele dieses Sohnes, hindere ihn, je „reich zu werden" und in der materiellen Domäne Erfolg zu haben, die für die Väter, für die John Allans reserviert blieb. Dieser „naditräglidie Gehorsam" vor dem gefürchteten Vater sollte, wie es scheint, bis zum Schluß zur Folge haben, daß der Sohn vor jedem Erfolg scheiterte. * Gegen Ende Juni wurde das Landhaus in Fordham ge- sdilossen. Edgar Poe, der wieder von dunklen Vorahnungen verfolgt und von einer neuerlidien Depression gepeinigt wurde, begab sich mit Muddy nach New York, wo diese von der guten „Estella", von Frau Lewis, aufgenommen wurde. Und die dunklen Vorahnungen waren auch der Grund, warum Poe vor seinem Hinsdieiden an Griswold schrieb und den Reverend bat, seine vollständigen Werke herauszugeben, wenn er, Edgar Poe, sterben sollte; Willis war beauftragt, den biographischen Teil zu sdireiben. Poe nahm von seinen Freunden in New York Abschied. Er kam bei Frau Oakes Smith in dem Augenblick an, in dem sie in den Wagen stieg, um zur Bahn zu fahren. Sie war entsetzt über „sein sdimerzvolles Aussehen, über seine Augen, die nidit 2ii) Poe an — (Eveleth), New York, 26. Juni 1849 (V. E., Bd. 17, S. 361). I am awaiting the best opportunity for its issue; and if by waiting until the day of judgment I perceive still increasing chances of ultimatc success, why until the day of judgment I will patiently wait. I am now going to Richmond to „see about it" — and possibly I may get out the first number next January. 326 Das Leben Edgar Poes mehr von dieser "Welt waren, über den seltsamen Blidi voll Verzweiflung". Er stand ganz enttäusdit in der Sonne da und murmelte: „Idi hatte . . . Ihnen so viel zu sagen." Frau Lewis, bei der er ebenso wie Muddy die Nacht ver- bracht hatte, sagte er ein Lebewohl auf der Schwelle der Tür, und während Muddy weinte, spradi er: „Teure Stella, teure Freundin, Sie verstehen mich und schätzen mich wirklich — ich fühle, daß ich Sie nie mehr wiedersehen werde . . . Wenn ich nicht mehr zurückkomme, schreiben Sie die Geschichte meines Lebens. Sie können und werden mir Gerechtigkeit zuteil werden lassen." Von Muddy begleitet ging er 'dann zur Bahn. Dort gab er ihr einen letzten Kuß und sagte: „Gott segne Sie, meine teure Mutter. Haben Sie keine Angst um Ihren Eddy und denken Sie immer daran, daß ich sehr vernünftig sein werde, wenn ich von Ihnen weg bin, und daß ich zurüdikommen werde, um Sie zu lieben und zu trösten." ^^^ Poe fuhr nun über Philadelphia nach Richmond. Dort stieg er, vermutlich gegen Ende des Nachmittags, am i.Juli 1849, aus dem Zug von Perth Amboy aus. In seiner geblümten Reisetasche hatte er zwei Vorträge mit, deren einer sicherlich eine Rede über das Poetische Prinzip war, sein Lieblingsthema in dieser letzten Zeit. Die Börse enthielt ungefähr vierzig Dollar. Infolge des letzten kalifornischen Goldrausches gab es nun viele Wirtshäuser in Philadelphia. Auf das freigebigste bot sich daher Poe nach seiner langen und heißen Reise die Gelegenheit zum Trinken an. Vor allem aber drängte ihn die tiefe Depression, in der er sich damals befand und die so gebieterisch und drängend bei ihm den Alkohol zu Hilfe rief, dazu, der Versuchung zu erliegen. 212) hrafel, S. 814. Die letzten Fluchtversuche 327 Man weiß nidit genau, was nun vorgefallen ist. Immerhin steht fest, daß der Zeichner John Sartain, ein alter Freund Poes, mit dem er manchen Absinth getrunken hatte, an einem heißen Julitag in den Büros von Sartain's Magazine, das jetzt ihm gehörte, einen zitternden, schreienden Mann mit zer- zaustem Haar eintreten sah, der ihn um Sdiutz gegen ein- gebildete Verfolger anflehte, die diesem Unglücklicäien an- geblich nadisetzten. Der Verfolgungswahn, zu dem die mit dem Alter wachsende Tendenz schon immer in Poe steckte, war also ausgebrochen. Sartain, sein alter Freund, nahm ihn dann zu sich in die Wohnung. Dort verlangte Poe ein Rasier- messer, um sich den Sdinurrbart abnehmen zu können und dadurdi für die Verfolger unkenntlidi zu werden. Natürlidi gab man es ihm nicht. Mit Mühe bradite nun Sartain den rasenden Dichter zu Bett, dann bewachte er ihn die ganze Naclit und wagte es nicht, ihn allein zu lassen; Poe selber flehte ihn um Schutz an. Audi am nächsten Tag wurde die freundlidie Ergebenheit Sartains sehr auf die Probe gestellt. Als Poe am Abend un- bedingt ausgehen wollte, folgte der Freund ihm auf dem Fuße. Poe irrte, ohne stehenzubleiben, durch die Straßen, er sprach vor sidi hin, gestikulierte und zitierte mit seiner vollen und tönenden Stimme die Fiebervisionen, die in seiner leuchtenden und überreizten Phantasie an ihm vorüberzogen. Das Thema dieser Visionen, das ihn ganz in Bann hielt, von dem sein Geist vollständig besessen war, bestand aus einer schrecklichen Ver- schwörung, die ihn bedrohte. Vergeblich versuchte sein Freund, ihn zu beruhigen. Unermüdlich rannte Poe durch die Straßen, und Sartain bemühte sidi, ihn nach Hause zu bringen. ^^^ 213) Nadi William-Fearing Gill, The Life of Edgar Allan Poe, New York, W. J. "Widdleton; London, Chatte and Windus 1880, S. 233— 237, auf den sich sowohl Harrison in der V. E., Bd. i, S. 307 f., als audi Hervey Alien im hrafel, S. 816, beziehen. 3z8 Das Leben Edgar Poes Während dieses wahnwitzigen "Wettlaufs sdileppte Poe Sar- tain bis zum Fairmount Reservoir, wo sie gegen Mitternadit ankamen. Dort ließ er ihn die steile Stufe hinaufklettern, die bis zum obersten Rand des Reservoirs führte. Aber auch hier hörte Poe nicht zu phantasieren auf, er sdirie, er werde sidi nun umbringen, die Gefahr stehe unmittelbar bevor und er flehte auf die rührendste Weise um Schutz. Schließlidi ließ er sich nach Hause bringen. Aber nodi hatte Sartain nidit alle Prüfungen überstanden. Poe täuschte seine Aufsidit und ent- wischte von neuem. Er legte sich auf freiem Felde nieder und schlief ein. Da erschien ihm eine in Weiß gekleidete Vision und behütete ihn vor dem Selbstmord . . . Bald danach wurde er wegen Trunkenheit aufgegriffen und in das Gefängnis von Moyamensing gebradit. Hier soll ihm nun auf den Wällen ein neues, in Weiß ge- kleidetes Weibphantom erschienen sein und einige Worte zu- geflüstert haben: „Hätte ich nicht gehört, was sie sagte", er- klärte er später, „das wäre mein Ende gewesen." So war in diesen trostlosen Tagen die tote Frau, welche die Seele Poes bewohnte, zweimal aus dem lebenden Grabe hervor- gekommen und, durch die heftige Krise eines Alkoholwahns begünstigt, nadi außen „projiziert" worden; sie zeigte sidi den Blicken des Menschen, der sie in sicii trug . . . Die drohende und zu gleicher Zeit ihn beschützende Gestalt war eine „Verdichtung" der fernen und nahen Vergangenheit, sie war zu gleicher Zeit Elizabeth Arnold, seine Mutter, und Virginia, seine Frau, die aber als Lebende auch nur eine Ver- körperung der toten Elizabeth gewesen. Das Leichentudi der einen war nun in der weißen Figur auch das LeichentucJi der andern; und die Gestalt kam wie aus dem Jenseits herbei, um den zu fordern, der schon zu lange auf Erden weilte . . . Am nächsten Morgen, beim Appell der Gefangenen, soll Poe erkannt worden sein. Jemand soll gesagt haben: „Das ist Die letzten Fluchtversuche 329 ja Poe, der Diditer!", und man ließ ihn frei, ohne von ihm die Geldstrafe zu verlangen. Als Sartain Poe fragte, warum er denn eingesperrt worden sei, soll dieser geantwortet haben, er habe einen falschen Sdieck untersdirieben. Poe wurde wahr- sdieinlidi in seinem Anfall von Verfolgungswahn von den alten Beschuldigungen des English gequält. Und um sein Elend noch zu versdiärfen, bekam er eine heftige Diarrhöe, die er für Cholera hielt. Die tote Mutter hörte natürlich nidit auf, im Zentrum seines Wahns zu herrsdien. Erst wurde er nun von dem Ge- danken heimgesucht, Muddy sei tot: er hatte Halluzinationen, in denen sie tot vor ihm lag, und er flehte Sartain an — ver- mutlich um seine einzige und dodi in vielen Formen auf- tauchende Mutter schneller im Jenseits zu erreidien — , ihm Laudanum zu versdiaffen, jene Droge, die schon einmal beinahe ihre Mission erfüllt hatte. Auf Sartains Weigerung hin brannte Poe von neuem durch, um durch die Straßen zu irren. Hier trafen ihn zwei alte Freunde, ehester Chauncey Burr und George Lippard, der überspannte Romanschriftsteller aus der Monk's Hall.^^^ Sie brachten ihn zu sidi nadi Hause, pflegten ihn, und nachdem der Anfall von Alkoholwahn ein wenig ab- geflaut war, konnte Poe am 7. Juli an Muddy einen Brief sdireiben. Der Inhalt dieses Briefes verrät uns nodi seinen elenden Zustand: „Meine teure, teure Mutter — idi bin so krank gewesen — idi habe Cholera oder ähnlidie üble Krämpfe gehabt, idi kann kaum die Feder halten. Sie müssen sidi im Augenblidi, in dem Sie diese Zeilen bekommen, zu mir auf den Weg madien. Die Freude, Sie zu sehen, wird unsere Sdimerzen lindern. Wir können nur gemeinsam sterben. Es wäre vergeblidie Mühe, mit mir jetzt zu räsonnieren; 214) Siehe S. 180. 330 Das Leben' Edgar Poes ich muß sterben. Ich will nidit mehr leben, seit ich Heureka ge- sdirieben habe. Ich könnte nidits anderes mehr fertigmadien. Für Sie weiterzuleben, wäre vielleicht süß, aber wir müssen gemeinsam sterben. Sie sind für midi, teure und immer geliebte Mutter, alles, alles gewesen, die teuerste und verläßlichste Freundin. Ich war nie wirklich wahnsinnig, bloß bei den Gelegenheiten, bei denen mein Herz getroffen worden. Man hat mich, seit ich hier bin, einmal wegen Trunkenheit ins Gefängnis gesteckt; aber damals war ich nicht betrunken. Das war wegen Virginia.'"''^ (Sicher eine Anspielung auf die weiße Er- scheinung.) So träumte Poe von neuem die Liebesphantasie einer Ver- einigung mit seiner geliebten Mutter im Tode, jene Phantasie, die ihm nach andern Erzählungen und Gedicliten zu der Ballade Annabel Lee und zu den Versen Für A n n i e inspiriert hatte; aber diesmal galt seine Sehnsuclit niclit der Anmut der sterbenden Virginia, noch dem ruhigen Reiz Annies, sondern den weißen Haaren und dem Witwenhäubchen der alten „Muddy"! Das war wenigstens eine Belohnung für die arme, alte Frau, welche verärgert über die Ratschläge einer reichen Freundin, die ihr zugemutet hatte, den „Sohn" zu ver- 2ij) Poe an Frau Clemm (Nach Woodberry, 1909, II, S. 311, 312. — Israfel, S. 817). MY DEAR, DEAR MOTHER, — I have been so ill — have had the cholera, or spasms quite as bad, and can now hardly hold the pen. The very instant you get this come to me. The joy of seeing you will almost compensate for our sorrows. We can but die together. It is of no use to reason with me now; I must die. I have no desire to live since I have done Eureka. I could accomplish nothing more. For your sake it would be sweet to live, but we must die together. You have been all in all to me, darling, ever beloved mother, and dearest truest friend. I was never really insane, except on occasions where my heart was touched. I have been taken to prison once since I came here for getting drunk; but then I was not. It was about Virginia. Die letzten Fluchtversuche 331 lassen, nach Fordham zurüdigekehrt war und dort voller Angst auf Nadiridhten von ihrem Edgar wartete . . . * Wir können uns leidit vorstellen, wie Poe in dem larmoyanten, rührseligen Zustand des Alkoholikers die heftig- sten Sdhreie nadi dem Tod und nach der Mutter zu Papier bradite; er sdirieb diese Zeilen mit jener furchtbaren Sdirift, die er während seiner "Wahnzustände hatte, und die er später selbst ausdrücklidi als die Sdirift jener Tage erwähnen sollte. Und wahrsdieinlich datierte er diesen Brief irrtümlidi aus New York, weil er in seiner Phantasie glaubte, er sei sdion im Tode mit seiner mütterlichen Muddy vereint; er hatte sie ja in New York zurückgelassen. Indessen ließ ihm Graham in Philadelphia, der von dem Zustand, in dem sidi sein ehemaliger Redakteur befand, durch Lippard erfahren hatte, fünf Dollar zukommen. Charles Petersen, der ehemalige Hilfsredakteur Poes bei Graham, tat das gleiciie. Burr kaufte für Poe eine Fahrkarte für den Steamer bis Baltimore. Der geblümte Reisesack, den man seit zehn Tagen suchte, wurde wiedergefunden, aber die Vorträge waren gestohlen worden. Mit der ausgeplünderten Tasche und den zehn Dollar Grahams und Petersons schiffte sich Poe, der von Burr bis zur Landungsstelle begleitet wurde, Freitag, den 13. Juli, nach Baltimore ein. In Baltimore nahm er einen anderen Steamer nach Ridi- mond. Und knapp bevor er hier ankam, sclirieb er Muddy die folgenden Zeilen, aus denen von neuem pathetisdi die Sehnsudtit nach der Mutter in ihr hervorbridit: „Bei Ridimond. Es ist fürchterlidi heiß und außerdem habe ich ein derartiges Heimweh, daß ich nidit mehr weiß, was idi machen soll. Idi habe nodi niemals solche Lust empfunden, irgendeinen Menschen zu sehen, wie diesmal, wo idi Sie, meine geliebte Mutter, wiedersehen soll. i 33^ Das Leben Edgar Poes Idn glaube, daß ich jedes Opfer dafür bringen könnte, nur nodi ein einziges Mal Ihre Hand zu halten, und zu erreichen, daß Sie midi trösten: so furchtbar deprimiert bin ich. Kein Anlaß wird bedeutend genug sein können, um mich von neuem von Ihnen zu reißen. Wenn ich bei Ihnen bin, kann ich alles ertragen, aber wenn ich von Ihnen fern bin, dann bin ich zu unglücklich, um weiterleben zu können."^" Poe kam in Richmond am Abend des 14. Juli 1849 an und ging direkt nach Duncan Lodge. Die Mackenzies, die gast- freundlich wie immer waren, nahmen ihn bei sich auf; er befand sich in einem fürchterliclien Zustand, seine Kleider waren zerrissen. Noch am Abend seiner Ankunft schrieb er an Muddy: „ . . . ich bin hier mit zwei Dollars angekommen. Ich schicke Ihnen einen davon. O Gott, Mutter, werden wir uns nie mehr wiedersehen? Wenn es Ihnen irgend möglidi ist, ach, KOMMEN SIE! Meine Kleider sind in einem furchtbaren Zustand und ich bin so krank. Ach, könnten Sie doch zu mir kommen, Mutter. Sdireiben Sie mir sofort — aber bestimmt! Gott segne Sie für immer. Eddv""^^ 216) Poe an Frau Clemm, 14. Juli 1849 (erster Brief dieses Datums, nach Woodberry, 1909, II, 8.313 f. — Israfel, S. 818). Near Richmond. The weather is awfully bot, and besides all this, I am so homesidc I don't know what to do. I never wanted to see any one half so bad as I want to see my own darling mother. It seems to me that I would make any sacrifice to hold you by the hand once more, and get you to cheer me up, for I am terribly depressed. I do not think that any circumstances will ever tempt me to leave you again. When I am with you I can bear anything, but when I am away from you I am too miserable to live . . . 217) Poe an Frau Clemm, 14. Juli 1849 (zweiter Brief dieses Datums; nach Woodberry, 1909, II, S. 315. — Hervey Allen, Israfel, S. 819 verlegt diesen Brief irrtümlicherweise in den Monat September). ... I got here with two doUars over — of which I enclose you one. Oh God, my Mother, shall we ever meet again? If possible, oh COME! My clothes are so horrible and I am so ill. Oh, if you could come to me, my mother. Write instantly — Oh do not fail. God forever bless you. Eddy. Die letzten Fludnversuche 333 Der Dollar blieb die einzige Geldsendung, die Poe während seines ganzen Aufenthaltes in Richmond der Frau Clemm zu- kommen ließ. Trotz der guten Behandlung durch die Madtenzies und durch seine Schwester Rosalie beharrte also die Sehnsudit nadi seiner „Mutter-Muddy" in dem Herzen des kleinen Kindes, das Poe unter dem Zwang seines Wahns und seiner Krank- heit wieder geworden war. Wir finden ihn nach wenigen Tagen in der Old Swan Tavern wieder, einer bescheidenen Pension, in der er ein Zimmer gemietet hatte. Dort suchte ihn Dr. George Raw- lings auf, jener Arzt, von dem wir erfahren, Poe habe wieder einmal einen Anfall von Gewalttätigkeit erlitten und ihn sogar einmal mit einer Pistole bedroht. Die Krise flaute aber sdinell ab, und bald antwortete Edgar auf den ersten Brief, den er von Frau Clemm erhalten hatte: „Ridimond, Donnerstag, den 19. Juli. Meine teure und geliebte Mutter! Sie werden schon durdi die Handschrift dieses Briefes erkennen, daß es mir besser geht — viel besser, was meine Gesundheit und mein psydhisdies Befinden angeht. Ach, könnten Sie nur wissen, wie sehr midi Ihr lieber Brief gestärkt hat! Das war Magie, könnte man sagen. Der größte Teil meiner Leiden kam von der sdireck- lidien Idee, die idi nidit loswerden konnte: von der Idee, daß Sie tot seien. Während mehr als zehn Tagen war ich ganz verstört, obwohl ich nidit einen einzigen Tropfen getrunken hatte; und während dieser ganzen Zeit war ich in meiner Einbildung von den grauenhaftesten Unglüdcsfällen heimgesudit. Das alles waren Halluzinationen, die von einem Anfall kamen, wie ich nodi nie einen gehabt hatte — einem Anfall von mania- ä-potu. Gebe der Himmel, daß dies nur eine Warnung für den Rest meines Lebens bleibe . . . Nodi ist nidit alles verloren, und ,die düsterste Stunde kommt knapp vor dem Anbrudi des Tages'. Verlieren Sie Ihren Mut nidit, 334 Das Leben Edgar Poes teure und geliebte Mutter — alles kann nodi gut werden. Idi will meine ganze Kraft entfalten...""^ So gesteht sidi Poe selbst diesen seinen heftigsten Anfall von Alkoholwahn ein. Die Krise, die mit ihrem Auf und Nieder ungefähr zwei Wochen gedauert hatte, war vorbei und der Diditer konnte, zum letztenmal in seinem Leben, nodi einmal auf einen Aufstieg hoffen. «. Elmira, die Witwe des Herrn Shelton, eines reichen Kauf- manns, der seiner Frau seinen ganzen Besitz als Lebensrente und einen Sohn hinterlassen, näherte sidk den Vierzigern. Sie war eine sehr imponierende Erscheinung, Herrin ihrer selbst und sehr fromm. Kurze Zeit nach seiner Ankunft in Ridimond begab Poe sidi zu ihr. Ein Diener ging hinauf, um die Herrin des Hauses zu benadiriditigen, daß ein Herr nadi ihr frage; sie kam in den Salon herab. Es war Sonntag, und die fromme Dame wollte gerade zur Kirdie gehen. Wie sie eintrat, erhob sidhi Edgar und rief mit einer Stimme, die vor Erregung 218) Nadi "Woodberry, II, S. 315 f. — Israfel, S. 820. Ridimond, Thursday, July 19. MY OWN BELOVED MOTHER — You will see at once by thc handwriting of this letter, that I am better — mudi better — in Health and spirits. Oh if you only knew how your dear letter com- forted me! It acted like magic. Most of my sufferings arose from that terrible idea whidi I could not get rid of — the idea that you were dead. For more than ten days I was totally deranged, although I was not drinking one drop; and during this interval I imagined the most horrible calamities. All was hallucination, arising from an attadt whidi I had never before experienced — an attadc of mania-d-potu. May heaven grant that it prove a warning to me for the rest of my days . . . All is not lost yet, and „the darkest hour is just before day- Hght". Keep up heart, my own beloved mother — all may yet go well. I will put forth all my energies . . . Die letzten Fluchtversuche 335 zitterte: „Adi, Elmira, sind Sie's?" Frau Shelton erkannte ihn sofort und begrüßte ihn überaus freundlich, ging aber trotzdem sofort in die Kirche. Sie bat Poe, wiederzukommen. Er kam wieder. Man spradi von den vergangenen Zeiten, und Edgar erinnerte Elmira an das Verspredien, das sie ihm vor vierundzwanzig Jahren gegeben hatte. Sie glaubte zuerst, daß er auf eine romantisdie Weise scherze, mußte sich aber bald davon überzeugen, daß er die Sache ernst nahm. Ende Juli waren sie nun, sagt man, zu einem „Einvernehmen" ge- kommen. Poe war zu Elmira zurückgekehrt, weil er sie früher einmal geliebt und weil die Poesie dieser Jugendliebe in einem Herzen wie dem seinen nie mehr ganz verklingen hatte können. Aber nodi ein anderer Grund trieb ihn zu ihr: die Elmira seiner Jugend war jetzt zu einer der mütterlichen Gestalten geworden, die wie die geträumten Mütter der Kindheit Reiditümer schenken konnte. Dieses Mütterliche zog Poe an, nidit die Sorge um das Geld, wie man ihm vorgeworfen hat: das Vermögen Elmiras war ebenso wie das der Helen Whitman für ihn nichts anderes als eines der Attribute der Allmacht und Allfruchtbar- keit einer Mutter. Nach dem gleichen Schema herrsdite auch die reiche Frances Allan über ihn, als sie das Waisenkind adoptiert und mit vollen Händen ihre "Wohltaten über ihn ausgeschüttet hatte. Der "Wiederholungszwang, der unser Leben lenkt, drängte eben auch den vierzigjährigen Edgar Poe, dieses ewig verlassene Kind, dazuj sich wieder einmal adoptieren zu lassen, diesmal durch dieselbe Elmira, die ihn in seiner Jugend zuerst entzückt, dann aber in Verzweiflung getrieben hatte. Frau Shelton war natürlich von der neuerlichen "Werbung ihres ehemaligen Bewunderers entzüdit. Man hatte damals die Briefe ihres jungen Geliebten unterschlagen, um sie in die Arme des wenig poetisdien Herrn Shelton zu stoßen, und sie glauben lassen, Edgar habe sie vergessen. Das konnte sie ihren Eltern jjg Das Lehen Edgar Poes nie verzeihen. Nun mußte sie erfahren, daß noch vier- undzwanzig Jahre später Edgar an sie dadite! Und trotz ihrer Frömmigkeit war Elmira Frau. Ja, die Frömmigkeit konnte sogar im Dienste ihrer Eitelkeit und ihres Herzens Vernunftgründe finden: es sei vielleidit ihre Aufgabe, diese „verirrte Seele" zu retten. Poe, der außer mit Marie-Louise Shew niemals in die Kirche gegangen war, wurde dort bald am Sonntag neben Frau Shelton gesehen . . . Mit der Zeit hatten die Leute von Richmond Edgar Poe auda immer mehr sein Benehmen gegen den Vormund ver- ziehen. Der Ruhm machte ihn zu einem Objekt der Neugierde; und Kinder aus jener Zeit erinnerten sich später, ihn vorüber- gehen gesehen zu haben: „Ein Dichter, nach der Mode in Schwarz gekleidet, sdilank, aufrecht, das subtile Antlitz blickte nachdenklidi darein... Ein auffallend schöner Mensdi, nur der Mund störte.""^ Die Salons öffneten sidi wieder vor ihm. Selbst Frau Julia Mayo Cabell, eine Verwandte der zweiten Frau Allan, lud ihn ein. Und zu der sozialen Anerkennung kam noch das Gerüdit hinzu, Edgar Poe habe sidi mit Elmira Shelton versöhnt. Poe verbrachte seine Zeit damals hauptsädilich bei den Mackenzies und Rosalie in Duncan Lodge, bei den Talleys in Talavera und, am entgegengesetzten Ende der Stadt, im Haus der Frau Shelton in Churdi Hill. Er ging zu Fuß von einer Wohnung zur andern und kehrte am Weg häufig in der Broad Street bei einem jungen Doktor John Carter, seinem neuen Freund, ein, um sich ein wenig auszuruhen. Das späte Verlöbnis Edgars mit seiner Elmira sollte jedoch nidbt ohne Trübung bleiben. Elmira wußte nid it nur, wie 219) Israfel, S. 822 (nadi Basil C. Gildersleeve, den Harrison in der V. E., Bd. i, S. 315 f., zitiert). Die letzten Fluditversuche 337 berühmt Poe war, sie kannte auch seinen sdilechten Ruf und fand keinen besonderen Geschmack an der Idee, Patterson über Bord zu werfen und selbst das Gründungskapital für den Stylus herzugeben. Das wollte aber Poe: in seinen Briefen an Patterson berief er sich jetzt mit Selbstgefälligkeit auf die „Cholera", das „Kalomel", die „Gehirnsdiwäche", um sein Zögern zu entschuldigen und verschob jedesmal das Erscheinen des Stylus auf später.^^" Inzwischen aber traf Elmira Verfügungen, um ihren Besitz noch vor der Heirat in Sicherheit zu bringen. Ein soldies Vor- gehen, die Tatsache, daß Elmira selbst an die Sicherstellung dachte, war für Poe noch viel verletzender als das Verhalten der Helen Whitman, bei der die Mutter das Geld ihres Kindes hatte schützen wollen. Er war über den Mangel an Ver- trauen sehr böse, und anfangs August waren die Beziehungen zwischen den beiden Liebenden bereits wieder gelockert. Elmira verlangte von Edgar ihre Briefe zurück; und Edgar mied Elmira. Am 7. August hielt Poe einen mit großem Beifall aufgenom- menen Vortrag über das Poetische Prinzip vor einem ausgewählten Publikum. Frau Shelton war anwesend, der Vor- tragende verließ aber den Saal mit den Talleys. Das Reinerträgnis dieses Vortrags und einige Einnahmen durch Beiträge für den Southern Literary Messenger ermög- lichten es Poe, sich recht und schlecht durchzuschlagen. Aber er besaß noch immer nicht so viel, um sich einen Anzug kaufen zu können oder der armen Muddy, die in Fordham in größtem Elend auf ihn wartete, etwas Geld zu schicken . . . Elmira war jedoch keineswegs im Unrecht, wenn sie an Eddy zweifelte! Zweimal war er neuerdings von seinen Anfällen heimgesuciit worden — ganz wie in Philadelphia. Der "Wein 220) Poe an Patterson, 15. Juli und 7. August 1849 (V. E., Bd. 17. S. 363). Bonaparte; Edgar Poe. I. sa 338 Das Leben Edgar Poes in diesen südlichen Gegenden war zweifellos gar zu ver- führerisch! Das erstemal hatten ihn die Mackenzies in der Old Swan Tavern gepflegt j er war ziemlich glimpflich davon- gekommen. Aber das zweitemal, im August, war der Anfall derart stark, daß Poe nadi Duncan Lodge transportiert und sein junger Freund, Dr. Carter, geholt werden mußte. Als Poe zu sich kam, hielt Carter ihm eine ernste Straf- predigt: der Dichter könne keinen Anfall mehr überstehen — wenn er leben wolle, dann müsse er von nun an jeden Alkohol meiden. Poe war von Gewissensbissen gepeinigt, er schluchzte heftig, jammerte und sagte, daß er vergeblidi versuche, sich von seinem „Laster" zu befreien. Und er wolle sich in Zukunft beherrschen, den Versuchungen Widerstand leisten, ein Ver- sprechen, das er feierlich beschwor! Und um sich selbst seinen Entsdiluß zu erleichtern, schrieb er sidi kurze Zeit nachher in der Shockoe Hill Division der Sons of Temperance"^'^ ein und sdiwor vor dem Präsidenten W. J. Glenn, gänzlich ab- stinent zu bleiben. Die Zeitungen beriditeten darüber. Von dieser Zeit an soll sich Poe in Richmond tatsädilich jedes alkoholischen Getränks enthalten haben. Man sah ihn in den Büros des Richmond Examiner, bei Daniel, bei dem gleichen Daniel, mit dem er sich im vergangenen Jahr im Duell schlagen hatte wollen und der jetzt mit ihm befreundet war. Er sah hier von neuem seine Gedichte, den Raben oder Traumland durch, ließ sie setzen, korrigierte die Fahnen und blieb so bis an sein Lebensende der Dichtkunst treu. Anfangs September hatte sich Edgar auch mit Elmira wieder versöhnt. Sie verlobten sich. Und am j. September"^ schrieb Poe an Frau Clemm: 221) The Shockoe Hill Division of the Sons of Temper ance. 222) Nadi Israfel, S. 832. Der Brief (V. E., Bd. 17, S. 368— 370) ist mit September 1845, Mittwodi abends, datiert. Dieser Mittwodi kann aber nadi allem nur der j. September gewesen sein. I Die letzten Fluchtversuche 339 „ . . . Und dann, meine liebe und teure Muddy, in dem Augen- blidc, in dem ich eine endgültige Antwort auf alle diese Fragen haben werde, schreibe ich Ihnen wieder und teile Ihnen mit, was Sie machen sollen. Elmira möchte gerne Fordham besuchen, aber idi glaube nicht, daß das gut ist. Ich halte es für das beste, Sie erledigen dort alles und kommen mit dem Steamer hierher. Schreiben Sie sofort und teilen Sie mir mit, was Sie von diesem Vorschlag halten, denn Sie wissen am besten, was Sie tun sollen." Dann fügte er ohne Übergang hinzu: „Sollten wir jedoch in Rich- mond oder in Lowell glücklicher sein? — denn idi vermute, daß wir in Fordham niemals glüdlich sein werden, und, Muddy, ich muß dort sein, wo idi Annie sehen kann . . ." Und einige Zeilen später: „Schließlich glaube ich, teure Muddy, das beste wäre, Sie sagen, ich sei krank oder etwas Ähnliches und verabschieden sich in Fordham, um hierher zu kommen. Teilen Sie mir sofort mit, was Sie für das Riditige halten. Sie wissen, daß wir leicht bezahlen können, was wir in Fordham schulden, und Fordham ist ein schöner Ort — aber ich will in der Nähe Annies leben." Und er sdiHeßt: „Schreiben Sie mir nichts über Annie — idi kann es in diesem Augenblidi nicht ertragen, von ihr sprechen zu hören, — so- lange Sie mir nicht mitteilen können, Herr R. sei tot. — Idi habe schon den Ehering gekauft, und es wird mir hoffentlich nidit schwer- fallen, mir einen Frads zu verschaffen." °^' 223) Poe an Frau Clemm, September 1849, Mittwoch abends (V.E., Bd. 17, S. 368 ff.). And now, my own precious Muddy, the very moment I get a definite answer about everything, I will write again & teil you what to do. Elmira talks about visiting Fordham — but I do not know whether that would do. I think, perhaps, it would be best for you to give up everything there & come on here in the Padcet. Write immediately & give me your advice about it — for you know best. Could we be happier in Ridimond or Lowell? — for I suppose we could never be happy at Ford- ham — and, Muddy, I must be somewhere where I can see Annie . . . I think, upon the whole, dear Muddy, it will be better for you to say that I am ill, or something of that kind, and break up at Fordham, so that you may come on here. Let me know immediately what you think best. You know we could easily pay 340 Das Leben Edgar Poes Aus diesem Brief erfahren wir sehr interessante Dinge: erstens, daß die Heirat zwischen Poe und Frau Shelton be- schlossen war; zweitens, daß Eddy sidi noch nicht entsdilossen hatte, die Muddy selbst aus Fordham abzuholen; drittens, daß • das affektive Ergebnis der Verlobung mit Elmira die Er- weckung der Sehnsucht nadi Annie war. In dem Augenblick, in dem Poe sein Leben an das einer andern Frau binden sollte, brach also das Bedauern aus ihm hervor, daß diese Frau nicht Annie sei. "Wohl war Elmira früher einmal die Flamme des jungen Edgar gewesen; aber in der ernsten und frommen vierzigjährigen Dame blieb von dem zierlichen und leichtfüßigen Mädchen von fünfzehn Jahren wahrscheinlich nicht mehr genug übrig, daß die Phantasie des Diditers sich an der Berührung mit ihr neu hätte entzünden können. Es ist daher kein Zufall, daß die Zeilen, welche vom Tod des Herrn Richmond sprechen, und jene andern, in denen vom Ankauf des Eherings die Rede ist, gleich nebeneinander stehen. Diese Nebeneinanderstellung hat im Unbewußten den "Wert eines gedachten Bandes; sie sagt gleichsam: „Warum ist nicht Annie Witwe und frei? Ich würde dann diesen Ehering an ihren Finger stecken." Poe verehrte Annie aber hauptsächlich deshalb, weil sie nidit "Witwe und nicht frei war. Bei Elmira hingegen kam zu den andern Fehlern, die sie in den Augen Edgars hatte, hinzu, daß sie erreichbar wurde. Annie jedoch erfüllte außerdem eine der Liebesbedingungen, die Edgar schon mit zwanzig Jahren besungen hatte: off what we owe at Fordham and the place is a beautiful one — but I want to live near Annie. Do not teil me anything about Annie — I cannot bear to hear it now — unless you can teil me that Mr. R. is dead. — I have got the wedding ring — and shall have no difficulty, I think, in getting a dress-coat. Die letzten Fluchtversuche 341 „lA Labe nur dort lieben können, wo der Tod seinen Atem mit dem der Schönheit vermischte — Oder dort, wo der Hymen, die Zeit und das Schicksal zwischen ihr und mir weiterzogen." Jetzt war dieselbe Elmira, die, zum Teil wenigstens, Edgar damals zu jenen Zeilen inspiriert hatte, nicht mehr durch das Schicksal oder Hymen von ihm getrennt! Daher sagte Edgar von ihr in seinem nächsten Brief an Muddy: „Elmira ist soeben vom Land zurückgekommen. Idi habe den gestrigen Abend mit ihr verbradit. Idi glaube, sie liebt midi mit mehr Ergebenheit als irgendeine der Frauen, die idi bisher gekannt habe, und idi kann nicht umhin, sie dafür auch zu lieben."^''* Die wahre Leidenschafl; spricht anders. "Wir haben gesehen, wie er in einem andern Brief an die gleiche Frau Clemm von Annie sprach . . . Elmira und Annie waren für ihn zwei Pole geworden, zwei mit tiefer unbewußter Bedeutung besetzte Symbole, zwischen denen in diesen letzten Monaten seines Lebens das Schicksal Edgar Poes hin und her pendeln sollte. Auf der einen Seite stand eine "Witwe von fast vierzig Jahren, seine Gattin von morgen, mit der ein Versudi unter- nommen werden mußte, den zu unternehmen Poe wahrscheinlich noch nie gewagt hatte. Elmira repräsentierte daher trotz ihres prosaischen Benehmens und ihrer Frömmigkeit die gefährliche Sinnlichkeit. Auf der andern Seite stand die nodi nicht dreißigjährige, verheiratete ferne Geliebte, die ihn nie in solche „Gefahr" brachte, um die er tausend Träume spinnen konnte — be- sonders den schönsten Traum, in ihren Armen zu sterben. 224) Poe an Frau Clemm. Richmond, Dienstag, 18. September 4g (V. E., Bd. 17, S. 366)- Elmira ^ has just got home from the country. I spent last evening with her. I think she loves me more devotedly than any one I ever knew and I cannot help loving her in return. 34Z Das Leben 'Edgar Poes Die eine war die Frau, mit der er in Prosa sozusagen und in der „Gefahr" kämpfen und leben sollte. Mit der andern hin- gegen lebte er im Traum und in der Poesie; bei ihr konnte er davon träumen, an der Brust der Mutter zu liegen, und in den Schlaf gewiegt zu werden. Und der Vorrang im Schicksal Poes kam unzweifelhafl: jener Frau zu, der nadi dem Tod der Virginia auf Annie „über- tragen" worden war. Frau Shelton repräsentierte durch ihren beschützenden Reichtum eher die Mutter, welche das verlassene Kind adoptiert hatte, sie war also eine verspätete Frances Allan. Annie hingegen, mit der er sterben mödite, repräsentierte im Unbewußten Poes die erste Liebe seiner Kindheit: durch das Sternenleuchten ihrer Augen, die bis in das Herz des Geliebten hineinfunkelten, durch geheimnisvolle Zusammenklänge, die uns heute entgehen und an denen jene Augen zweifellos großen Anteil hatten. In ihr fand er die wahre Mutter Elizabeth wieder, der er' mit seinem ganzen kleinen verliebten Kinder- herzen hatte folgen wollen, als grausame Männer ihn von ihr trennten und ihn daran hinderten, nodi einmal an ihrer kalt gewordenen Brust einzuschlummern. Das Heimweh nadi solchem verlorenen Glück sollte er ja sein ganzes Leben hin- durch nicht überwinden. Ein Herr St. Leon Loud suchte Poe beim Examiner auf und bot ihm hundert Dollar an, wenn er die Veröffentlichung der Gedichte seiner Frau, einer Dichterin aus Philadelphia, über- nehmen wollte. Der arme Teufel Poe nahm natürlich an; in dem schon zitierten Brief vom j. September erzählte er seiner Muddy von diesem Geschäft: und meinte, die Sache werde ihn nur drei Tage lang aufhalten. In dem gleichen Brief schlug Poe der Frau Clemm vor, sie möge nach Richmond kommen, um ihn dort zu treffen. In dem Brief vom i8. September teilt Poe jedoch mit, er werde selbst kommen, um Muddy abzuholen, Die letzten Fludjtversuche 343 allerdings nidit nach Fordham, wo er besser nicht hingeht, sondern nach New York. Er werde in einer Woche abreisen und sich auf dem Wege in Philadelphia aufhalten, um dort die Veröffentlichung der Gedidite der Frau Loud, die ihm hundert Dollar einbringen sollte, zu überwachen. Bis dahin allerdings könne er auch nicht einen einzigen Dollar sdiicken. So änderte Poe in dreizehn Tagen seinen ursprünglichen Plan, er beschloß knapp vor der Heirat, zu Muddy zu reisen und in den Norden, wo fern der Stern Annies leuchtete. Schon einmal hatte er in die gleiche Richtung einen „Fluchtversuch" unternommen, damals, als er sich in Providence beinahe mit einer andern Frau verlobt hatte; auch damals stieg er in den Zug nach Boston, nadi dem Norden, wo bereits Annie herrschte, und in der Tasche hatte er zwei Unzen Laudanum. Diesmal trug er kein Laudanum mit sich, wohl aber in einem zu allem Unheil bereiten Körper eine Psyche, die sicher ebenso wirksam war wie jenes Gift. Die Melancholie Poes oder vielmehr diese plötzlichen Ver- düsterungen seiner Laune fielen in jenen letzten Wochen, die er in Richmond verbrachte, jedem auf, der ihn sah. Er hatte große literarische und gesellschaftliche Erfolge, seine Vorträge über das poetische Prinzip, sein Lieblingsthema, die er in Richmond und Norfolk hielt, fanden viel Beifall. Er war mit einer in der Stadt angesehenen Frau verlobt, er wurde nun von allen seinen ehemaligen Freunden in Gnaden wieder auf- genommen. Aber sogar inmitten der fröhlichsten Gesellschaften, inmitten der Veranstaltungen, bei denen er am lautesten ge- feiert wurde, verdüsterte sich plötzlich, und oft gerade in dem Augenblick, in dem man meinte, er sei von der allgemeinen Heiterkeit angesteckt, sein Gesicht; eine Melancholie bemäch- tigte sich seiner, er setzte sidi irgendwo, abseits von den andern, nieder, oder irrte durch einen nahegelegenen Garten und sprach mit irgendeinem Freund von der Vergangenheit. 344 Das Leben Edgar Poes Die Vergangenheit scheint Poe in dieser Periode seines Lebens mehr als je besdiäftigt zu haben. Miss Talley (später Frau "Weiss) erzählt uns von einer Spazierfahrt, die er mit ihr in die Eremitage, in das frühere Haus der Mayo, in dem Poe als Kind spielte, gemacht hatte; in unsagbarer Melancholie irrte der Dichter durch die verlassenen Gärten und das leere Haus. Miss Ingram berichtet, er sei mit ihr in Norfolk spazieren- gegangen, habe das Irisparfüm, mit dem ihr Kleid besprengt war, bemerkt und gemeint, das sei auch das Parfüm der Schubladen des Wäsdiekastens der Frau Allan gewesen, „es führe ihn in die Zeit zurück, in der er ein kleiner Junge war" und erinnere ihn an seine Adoptivmutter . . .^^^ Samstag, den 22. September, verbrachte Poe den Abend bei Elmira. Die Hochzeit wurde für den 17. Oktober angesetzt. Poe schenkte seiner Braut eine große als Broche montierte Kamee; er schien an diesem Abend glücklich zu sein. Elmira versprach ihm, Muddy zu schreiben, ein Versprechen, das sie audi hielt, als er fortgegangen war. Sie kenne Muddy zwar noch nicht, schreibt sie, wolle sie aber gerne lieb haben. Sie lobte Eddy, der nun nüchtern, mäßig, moralisch und sehr lieb sei. Dann fügte die fromme Dame hinzu: „Idi hoffe, die Vorsehung wird ihn schützen und auf den Pfad der Wahrheit leiten, damit sein Fuß nidit ausgleite." Und sie sdiließt: „Eben hat es Mitternacht gesdilagen, Sabbat ist da und idi will daher schließen. Gute Nacht, teure Freundin, der Himmel segne und beschütze Sie, und mögen die Tage, die Sie noch auf dieser Erde verbringen werden, friedliche und glückliche sein . . . So betet Ihre Ihnen zwar unbekannte, aber von Herzen zugetane Freundin Elmira." ==^ 225) Israfel, S. 831, 83J. 226) Elmira an Frau Clemm. Ridimond, 22. September 1849 (V.E.. Bd. 17, 3.396/397)- Die letzten Fluchtver suche 34 j Aber adi! die glücklichen Tage, welche Maria Clemm er- leben durfte, waren vorbei. Und ebenso vergeblich war die Bitte Elmiras, Edgars Fuß möge nicht mehr ausgleiten . . . Am 24. September hielt Poe seinen letzten Vortrag in Ridi- mond, immer wieder über das poetische Prinzip. Alle Freunde waren anwesend, damit die Einnahmen es ihm mög- lich machten, die Reise nach dem Norden zu unternehmen. Am nächsten Tag verbrachte Poe den Nachmittag in Talavera bei den Talleys. Er schien gut gelaunt zu sein. Nie hatte man ihn so heiter und hoffnungsvoll gesehen wie an diesem Abend. Er erklärte, sein letzter Aufenthalt in Rich- mond gehöre zu den glücklichsten Zeiten seines Lebens und er blieb bis lange in die Nacht hinein auf, um mit seinen Freunden zu plaudern. Er bedauerte, wie er sagte, diese Reise nadi New York unternehmen zu müssen. "Während er bei der Haustür von den Freunden Abschied nahm, lief gerade über seinem Kopf ein Meteor über den Himmel; dieses Ereignis soll einen tiefen Eindruck auf sie gemadit haben . . . Poe kehrte dann nadi Duncan Lodge zurück, wo er die Nacht verbrachte; er war aber jetzt wieder deprimiert und von dunklen Ahnungen befallen. Er blieb lange Zeit beim Fenster stehen und rauchte. Am nächsten Morgen packte er den Koffer, denselben Koffer, den ihm Allan 1829 nach Baltimore ge- schickt hatte, nachdem Poe aus dem Elternhaus geflohen war. Mittwoch, den 26. September, den Tag vor seiner Abreise, widmete Poe den verschiedenen Freunden in Richmond. Er besuchte unter anderem Thompson im Messenger, der ihm fünf Dollar lieh. Beim Fortgehen sagte Poe: „Ja richtig, Sie sind immer freundlich zu mir gewesen — da ist eine Kleinigkeit, die für Sie einigen Wert haben kann." Und er überreichte ihm ein Manuskript der Annabel Lee. Nachmittags kam Rosalie zu Miss Susan Talley und übergab ihr im Auftrage des Bruders ein Manuskript von Für A n n i e. So sahen die 346 Dus Leben Edgar Poes Legate aus, die Poe zu vergeben hatte. An demselben Nach- mittag begab er sidi noch einmal nach Church Hill, um sich von Frau Shelton zu verabschieden. Er war sehr traurig, sagte sie, und beklagte sich darüber, krank zu sein. Sie befühlte seinen - Puls, fand, daß er Fieber habe und meinte, er könne am nächsten Tag in diesem Zustand nicht abreisen. „Beim Fortgehen", erfahren wir von Frau Shelton,^^'' „er- klärte er, er müsse sich noch nach New York begeben, um einige wichtige Angelegenheiten zu erledigen; er werde sofort nacii ihrer Erledigung wieder nadi Richmond zurückkommen, gestand aber zu gleidier Zeit seine Ahnung ein, daß er midi nie mehr wiedersehen werde." Nach diesem Besuch bei Elmira hielt sich Poe bei seinem Freund, dem Dr. John Carter auf. Er las hier die Zeitung und nahm beim "Weggehen den Stock des Doktors mit statt des eigenen. Dann ging er in das Haus gegenüber, in das Restaurant Sadler, essen, traf dort Freunde und blieb mit ihnen bis spät in die Nacht hinein auf. Blakey und Sadler, die damals in seiner Gesellschaft waren, sagen, der „Son of Tem- perance" habe an diesem Abend nicht getrunken. Dann begab sicii Poe, von einigen Gästen begleitet, zur Landungsstelle. Der Steamer lichtete um vier Uhr morgens den Anker, um nacii Baltimore zu fahren ... "Warum hat Poe diese Reise nadi dem Norden unter- nommen? Um das Landhaus in Fordham zuzusperren, um Muddy abzuholen, um mit Griswold über die Herausgabe seiner gesammelten "Werke zu sprechen? Oder gar, um auf der Durchreise in Philadelphia die "Veröffentlichung der Gedichte der Frau Loud, welciie ihm hundert Dollar einbringen sollte, vorzubereiten? 227) Appleton's Journal, XIX, S. 421 (nach Lauvri^re, Edgar Poe, sa vie et son ceuvre, S. 252). Die letzten Fluchtversuche 347 In Wahrheit war diese Reise keineswegs unbedingt nötig. Und alle die genannten Motive waren für Poe nur „Ratio- nalisierungen" einer viel tiefer im Unbewußten verankerten Motivierung. Das Landhaus hätte von Muddy allein zugesperrt werden können; er schlug ihr noch am 5. September vor, allein mit dem Steamer aus Fordham zu kommen. Oder hat sie ihn in ihrem Antwortbrief gerufen? Ich glaube eher, er allein hat sich zu dieser Reise entsdilossen; von diesen beiden Menschen war weniger Muddy als er gewohnt, um Hilfe zu rufen, und als sie Ende August Hunger litt, da wandte sie sich nicht an Eddy, sondern an Griswold und Frau Lewis, um sich ein Stück Brot kaufen zu können. Auch die gesammelten "Werke hätten noch warten können, und die Gedichte der Frau Loud sollten nach den eigenen "Worten Poes erst gegen Weihnachten veröffentlidit werden.^^^ Der Reinertrag aus der letzten "Vorlesung, mit dem die Kosten der Reise nach dem Norden bestritten wurden, hätte also ganz gut dazu dienen können, Edgar bis zur Hochzeit am 17. Ok- tober, bei der er reidh werden sollte, über Wasser zu halten. „W enn es möglich is t", schrieb Edgar am 1 8. Sep- tember an Muddy, „werde ich vor der Abreise heiraten, aber man kann es nicht mit Gewißheit sagen.''^^" Die Kräfte, die Poes Natur determinierten, zwangen ihn nun, zu seinem Unheil dazu, vor der Heirat nach dem Norden zu reisen. Der „negative" psychische „Tropismus", durch den er jede Frau in dem Augenblick verlor, in dem er sie hätte besitzen können, mußte sich bei dem vierzigjährigen Poe in seinem "Verhalten gegen Frau Shelton ebenso auswirken wie bei dem Dreiund- 228) Poe an Frau Clemm, September 1849, Mittwodi abends, "V. E., Bd. 17, S. 369. 229) V. E., Bd. 17, S. 367. // possihle, I will get married before I Start — but there is no telling. 348 Das Leben Edgar Poes zwanzigjährigen, der einer Mary Devereaux gegenüberstand. "Wir erinnern uns noch daran, daß er sidi seiner Freundin Mary nach vielen Monaten der Werbung eines Abends derart be- trunken genähert hatte, daß sie ihn hinausjagen mußte. Eine solche Verlegenheit sollte Elmira erspart bleiben, dafür benahm sich Poe um so radikaler, um sie zu verlieren. Man darf aber auch nicht den „positiven" psychischen „Tropismus" vergessen, der Edgar zu Annie trieb, oder vielmehr zu dem Wesen, dessen letzte Verkörperung sie gewesen . . . Man weiß nicht genau, wann Edgar Poe, der „Son of Temperance", seinen Schwur, nüchtern zu bleiben, gebrochen hat. Trank er schon bei Sadler, was allerdings Sadler und Blakey ableugnen? Oder auf dem Steamer, auf dem sicher eine Bar war, während der achtundvierzig Stunden, die er auf ihm verbrachte, oder in dem Hotel in Baltimore? Tatsache ist, er erlag hier oder dort dem plötzlich auftretenden „katego- rischen Imperativ" des Dipsomanen, der alle Schwüre brechen läßt und dazu überaus vernünftige Gründe zur Verfügung stellt. Und wenn auch Untergang und Tod am Ende stehen, was liegt daran! Für Edgar Poe war der im Glas verborgene Tod nur eine unbewußte Lockung mehr. Samstag, den 29. September, an dem Tag, an dem Poe in Baltimore angekommen war, kam er jedenfalls betrunken zu seinem Freund, dem Dr. Nathan C. Brooks. Dann verlieren wir ihn für fünf Tage aus dem Auge. Es gibt verschiedene Meinungen darüber, wo sich Poe in dieser Zeit herumgetrieben und was er in diesen fünf Tagen gemacht hat. Die größte Wahrscheinliciikeit hat folgende Dar- stellung für sicht^ä" Es war gerade Wahlzeit, und die politi- 230) Nadi Hervey Allen {Israfel, S. 842 ff.), der Woodberry und Harrison folgt. Die letzten Fluchtversuche 349 sehen Sitten in Amerika waren überaus korrumpiert. Es gab keine Wahlkarten: die Wähler erschienen vor der Kommission, schwuren — und gaben ihre Stimme ab. Nun wurden von den Parteien Banden organisiert, die einige Tage vor der Wahl Razzien abhielten, die Unglücklichen, welche ihnen in die Hände fielen, einsperrten, betrunken maditen und so zu den Urnen schleppten. Man nannte die Orte, an denen man die Gefangenen bewachte, „coops" — „Hühnerkäfige". Nun fand am 3. Oktober in Baltimore die Wahl der Mitglieder des Kon- gresses und der staatlichen Gesetzgebung statt. Fünf Tage vorher hatte die Jagd nach dem Wähler begonnen. Poe fiel vermutlich in die Hände einer der Banden, wurde in einem der „Hühnerkäfige" gefangengehalten, wobei der Alkohol in Strömen floß. In einem solchen „Gefangenenlager" der Whig-Partei, es hieß Ryan's Fourth Ward Polls (Ryans Wählersaal im vierten Bezirk) wurden 1849 hundertdreißig bis hundertvierzig Wähler hineingepfercht. Neben diesem Lager befand sich ein Wirtshaus, Cooth & Sergeant's Tavern, das über eine bedeutende Kund- schaft aus den „coops" verfügte. In der nächsten Nähe wohnte audi der Dr. Snodgrass. Und dieser Doktor, der ein alter Freund Poes war, bekam Mittwoch, den 3. Oktober, folgende mit Bleistift geschriebenen Zeilen: „Baltimore, am 3., 1849. Sehr geehrter Herr! In Ryan's 4th ward polls ist ein Herr in einem fürditerlichen Zustand; er heißt Edgar A. Poe, sdieint sidi in großer Not zu befinden und behauptet, er kenne Sie; idi betone, er braucht Ihre unverzügliche Hilfe. In hödister Eile, Ihr ergebener Jos. W. Walker." Dr. Snodgrass erkannte die Schrift:. Der Brief kam von einem Druckereiarbeiter des Baltimore Sun, den er flüchtig 350 Das Leben Edgar Poes kannte. Er begab sidi nun bei dem kalten Oktoberregen, der an diesem Tage fiel, sofort an den bezeidineten Ort und fand Poe in Cooth Sc Sergeant's Tavern. Dort saß der größte Dichter Amerikas, von Leuten niedrig- sten Standes umgeben, zusammengebrochen auf einem Stuhl, „mit verstörtem, aufgedunsenem und ungewaschenem Gesidit; die Haare waren nicht gekämmt und sein ganzes Aussehen abstoßend. Die große Stirn . . . und die weiten, sanflen und seelenvollen Augen, die für ihn so diarakteristisdi waren, wenn er er selbst war — sahen ohne Glanz darein, wie ich bald bemerken konnte — und versteckten sidi unter einem ganz zerrissenen Palmenhut, der beinahe keine Krempe mehr hatte, zerfetzt und ohne Band war. Sein Anzug bestand aus einem Paletot von dünnem, glänzendem Alpacastoff, war an mehreren Stellen an den Nähten aufgerissen, verschossen und beschmutzt, und aus einer Hose aus Cassinette, die ganz abgewetzt und arg zugerichtet war, wenn man so etwas überhaupt sagen kann. Er hatte weder eine "Weste noch ein Halstuch, und die Brust seines Hemdes war zerknittert und beschmutzt . . ."^" Während Dr. Snodgrass sofort im Wirtshaus selbst ein Zimmer herrichten ließ, kam Herring, der Vetter Poes. Wir wissen nicht, wer ihn benachrichtigt hatte. Die beiden be- schlossen, Edgar Poe in das Washington Hospital transpor- tieren zu lassen. Es wurde ein Wagen herbeigeholt, man hob den Unglücklichen, der das Bewußtsein nodi nidit wieder- gewonnen hatte und trotzdem den Stock des Dr. Carter krampfhaft festhielt, in den Wagen und brachte ihn um fünf Uhr nachmittags ins Washington Hospital zu Dr. J. J. Moran, dem diensthabenden Arzt. 231) Nadi Hervey Allen, der in Israfel, S. 844, The Facts of Poe's Death and Burial by J. E. Snodgrass in Beadle's Monthly, S. 283— 288, 1867, zitiert. Die letzten Fluchtversuche ,„ Wir zitieren nun den Bericht des Dr. Moran nadi dem Brief, den er bald nachher an Frau Clemm sdirieb: „Als er ins Spital gebradit wurde ... war er bewußtlos; er wußte weder, wer ihn dorthin gebradit hatte, noch mit wem er vorher beisammen gewesen. Er blieb in diesem Zustand von fünf Uhr nachmittags, der Stunde seiner Aufnahme, an, bis drei Uhr morgens Das war am 3. Oktober. _ Auf diesen Zustand folgte ein Zittern in den Gliedern und ein unaufhörliches Delirieren ohne jede Gewalttätigkeit oder Heiligkeit, ein unaufhörliches Reden, bei dem er sich an phan- tastische und eingebildete Wesen wandte, die er an den Wänden sah. Das Gesicht war bleich und der ganze Körper mit Schweiß bedecit. Wir waren außerstande, ihn vor dem zweiten Tag seiner Autnahme zu beruhigen. Da idi den Krankenwärtern dazu den Auftrag gegeben hatte, wurde idi sofort zu ihm geholt, als das Bewußtsein wiederkam- ich fragte ihn nadi seiner Familie, nach seiner Wohnung, nadi seinen Eltern usw.... Er gab nur zusammenhanglose, ungenügende Antworten. Er sagte jedoch, er habe eine Frau in Riehmond (was nicht wahr ist, wie ich seither erfahren habe), daß er nicht wisse, wann er jene Stadt verlassen, nodi was aus seinem Koffer geworden sei. Idi versudite, die sdinell wieder sdiwindende Hoffnung zu be- leben und zu erhalten; daher sagte idi ihm, idi hoffe, er werde m wemgen Tagen wieder in der Gesellsdiaft seiner Freunde sein können, und idi wäre sehr glücklich darüber, wenn idi in irgend- einer Weise zu seinem Wohlbefinden und zu seiner Bequemlidikeit beitragen könnte. Bei diesen Worten schrie er laut und sehr heftig aut, das Beste, was sein bester Freund für ihn tun könne, sei, ihm eine Kugel durdi den Kopf zu jagen, am liebsten möchte er unter der Erde versdiwincien, damit er seine eigene Erniedrigung nidit mehr sehe usw. . . Bald nadi diesen Worten sdiien Herr Poe einzusdilafen und id, verließ ihn für einige Augenbliie. Aber als ich zurüdkam, befand er sidi wieder mitten in einem heftigen Ausbruch und leistete den beiden Krankenwärtern, die ihn im Bett zurüAhalten wollten, stärksten Widerstand. Dieser Zustand dauerte bis Samstag abend an (er wurde Mittwoch aufgenommen); er begann nun die ganze Nadit hmdurch bis Sonntag morgen um drei Uhr nadi einem gewissen Reynolds zu rufen. Nadi drei Uhr ging eine offensidididie Ver- 3J2 Das Leben Edgar Poes änderung in ihm vor sich. Er war durdi seine Anstrengungen geschwächt, beruhigte sich, schien einige Zeit hindurch zu schlummern, dann wandte er sanft den Kopf zur Seite, sagte: ,Der Herr helfe meiner armen Seele' und verschied."^"'' Durch diesen Anfall von Delirium tremens war das Leben des vierzigjährigen Edgar Poe beendigt. Nadidem einige der bedeutendsten Persönlichkeiten der Stadt gekommen waren, um den Leichnam zu sehen, beerdigte man ihn Montag, den 8. Oktober, auf Kosten seiner Vettern auf dem Friedhof der presbyterianischen Kirche, obwohl er zum episkopalen Ritus gehörte. Der Reverend W. T. D. Clemm, ein methodistisdier Pfarrer, las die Messe. Anwesend waren Neilson Poe, Herr Herring, Dr. Snodgrass, ein gewisser Edmund Smith und Z. CoUins Lee, ein Sdiulkollege Poes. Die Muddy, mit der er hatte sterben wollen, und Annie, die ihm hatte versprechen müssen, wo immer er auch sein möge, an sein Totenlager zu kommen, waren nicht da^ ^ 232) Dr.Moran an Frau Clemm. Der Brief ist vom ij. No- vember 1849 datiert, aus dem Baltimore City Marine Hospital (V E, Bd.i, S.335). Man kann in der letzten Zeile dieses Briefes und in dem Faktum, daß dem Diditer heftige, „moralische" Gewissensbisse zugesdirieben werden, bereits das Embryo der erbaulidien Legende entdeden, die sidi später so herrlidi um die gesdiilderten Ereignisse herum entwiieln sollte. Dr. Moran versdiönerte nämlidi im Verkut der Vorlesungen, die er während seines langen Lebens über den Tod des Dichters gehalten hatte, dieses Ende immer mehr und mehr, und zwar ohne Rüdssidit auf seine medizinischen Kenntnisse. Zuletzt gar sdiilderte er das Sterben Edgar Poes in den banalsten, aber erbaulidi- sten Farben und behauptete, der Diditer sei während der sechzehn Stunden, die er im Spital verbradit hatte, ganze fünfzehn Stunden bei vollem Bewußtsein und bei Vernunft gewesen, er war auch nidit betrunken, als man ihn aufgriff, rodi nidit im germgsten na* Alkohol, und beim Sterben habe er nur an Gott und an das Heil seiner Seele gedadit. So sehr kann durdi den Drude, den die soziale Zensur auf einen unbedeutenden Geist, wie Dr. Moran, ausübt, die Wahrheit verändert werden. (Zu diesem Thema: Israfel, S. 895/896, wo audi ein Brief des Dr. Moran an Edward Abbott vom 27. Februar 1882 zitiert wird.) Die letzten Fluchtversuche 3j5 Sie erfuhren die tragische Nadiricht vermutlich durch die Zeitungen. Muddy schrieb hierauf voll Verzweiflung an Annie: „Annie, mein Eddy ist t o t! Er ist gestern in Baltimore gestorben. Annie! beten Sie für midi, für Ihre verzweifelte Freundin. Mein Verstand verläßt mich. Idi werde Ihnen sdireiben, sobald idi Einzelheiten erfahren habe. Idi habe nadi Baltimore geschrieben. Schreiben Sie mir und raten Sie mir, was idi machen soll. Ihre Freundin, die ganz von Sinnen ist, M. C.""ä Annie antwortete auf diesen so tiefen Schmerz verratenden Brief: „Ach, meine Mutter, meine teure, teure Mutter, wie soll ich zu Ihnen sprechen? Wie kann ich Sie trösten — ach! Mutter, das ist mehr, als idi ertragen kann — und wenn idi an Sie, seine Mutter denke, die alles, was sie besaß, verloren hat, dann fühle idi, daß das nicht sein soll, nein, daß es nidit sein kann — ach, könnte ich Sie nur sehen, bitte, kommen Sie so schnell als möglidi zu Ihrer Annie — kommen Sie, teure Mutter, idi werde Ihnen wirklich eine Tochter sein — wenn ich nur mein Leben hätte hingeben können für das seine, damit er Ihnen erhalten geblieben wäre . . ."=>" Aber Annie hatte nicht einmal das Versprechen halten können, wie in dem Gedicht in ihren Armen den „ein- zusdiläfern", für den sie ein ganzes Jahr hindurdi so ideal die Rolle der wirklichen, immer wieder von neuem beweinten Mutter spielen durfte! Der mit seinen Gespenstern von jeher auf vertrautem Fuß stehende Poe mußte sidii auch mit seinen Phantomen begnügen, als er in seiner Agonie einschlief. Die 233) Frau Clemm an Annie, 8. Oktober 1849 (V. E., Bd. i, S. 338). 234) Annie an Frau Clemm, Oktober 1849, Mittwoch morgens (V. E., Bd. 17, S. 358). Frau Clemm wurde übrigens erst von Annie, dann von Stella (Frau Lewis) aufgenommen. Sie starb am 16. Fe- bruar 1871, mehr als 80 Jahre alt, im Churdi Home and Infirmary, dem Altersversorgungsheim von Baltimore. Bonaparte: Edgar Poe. I. 3 354 Das Leben Edgar Poes Gestalten an den "Wänden, mit denen er gesprochen hatte, waren Ligeias, Virginias, das heißt sie waren hinter allen Verwandlungen immer wieder nur die eine, einzige Mutter. Und der Ruf nach Reynolds in der Nadit des Todes, der den Anwesenden so unerklärlich war, ersetzte auf seine Art den Ruf nach der Mutter so vieler Sterbender. War nidit Reynolds der Mann, der wie Gordon Pym den Pol hatte erobern wollen, das weiße Symbol für die eiskalt erstarrte Mutter? Poe glaubte nun, sich in den Eroberer des Eismeers verwandelt zu haben, er identifizierte sidi mit ihm in dem Augenblick, in dem er selbst in den Abgrund stürzte und von neuem in d i e versank, aus der er hervorgegangen war. Er kam treu wieder zu ihr zurück, ohne je, trotz aller Ver- suchungen — dessen kann man fast sicher sein — vor Fleisches- lust in den Armen einer andern Frau gebebt zu haben. Und die „Gefahr", die „Krise" waren diesmal endgültig vorbei und mit ihnen das „Fieber", genannt „Leben". Die Mutter hatte den Sohn wieder zu sich genommen. INHALTSVERZEICHNIS DES I. BANDES Vorwort von Sigmund Freud ^"" I. TEIL: LEBEN UND DICHTUNG Edgars Eltern Der Tod der Mutter ^ Die Adoptiveltern ■ • • 4 Die erste Erziehung Edgars Edgar in Großbritannien . . Helen '.'.'..'. ^^ Der Besuch Lafayettes und die Erbschaft William Galts . . . . !! Elmira ■ ■ • 44 Auf der Universität von Virginia Bruch mit John Allan l^ Bei der Armee Nach dem Tode der Frances Allan ' ' ' ^° In West Point. Die Morgenröte der großen Dichtungen '. ' ' ' L In Baltimore bei Frau Clemm. Die ersten Erzählungen In Richmond. Der Kritiker des „Southern Literary Messenger' Die Heirat mit Virginia InNewYorkundPhaadelphia. Der Redakteur von Burion'sGentle- man's Magazine. Grotesken und Arabesken . . j g In Philadelphia. Der Redakteur von Graham's Magazine! Virginias ^ geangstigter Gatte 112 In New York. Der Rabe und der Ruhm In Fordham. Vor dem Tod der Virginia. Ann'abel Lee ." ' ' ' In Fordham. Nach dem Tod der Virginia. Ulalume und Heureka Irovidence und Lowell. Helen und Annie .... Philadelphia, Richmond und Baltimore. Die letzten Fluchtversuche 170 193 213 242 276 322 VERZEICHNIS DER BILDTAFELN Edgar Poe (Daguerreotypie „'Whitman") Titelbild vor Seite Karte der Ostküste der Vereinigten Staaten 9 nadi Seite Elizabeth Poe, geb. Arnold 16 Frances Keeling Allan, geb. Valentine 24 Das Wohnhaus Allans in Richmond 40 Sarah Elmira Royster 48 Die Universität von Virginia zur Zeit Poes 56 John Allan 64 Maria Clemm, geb. Poe 88 Edgar Poe (Um 1840) 176 Rufus W. Griswold 200 Faksimile einer Manuskriptseite aus „Annabel Lee" 216 Frances Sargent Osgood 224 Das Landhaus Poes in Fordham 232 Virginia Eliza Poe, geb. Clemm 240 Faksimile des Briefes Edgar Poes an Mrs. Shew 272 Sarah Helen Whitman, geb. Power 288 Edgar Poe (Daguerreotypie Mac-Farlane) 296 i Von MARIE BONAPARTE sind im Internationalen Psychoanalytischen Verlag ferner folgende Werke erschienen: Über die Symbolik der Kopftrophäen 1928. 48 Seiten. In Leinen Mark 3.30 „Der Deutsche Jäger": In der Studie der Prinzessin Marie von Griechenlarid (veröffentlicht unter dem Mädchennamen der Ver- fasserin) wird das Problem, warum das Geweih das Attribut des be- trogenen Ehemannes ist, mit Mitteln der modernen Tiefenpsy- chologie gelöst. Im Kapitel „Magische Hörner" werden Hörner als Amulette gegen den bösen Blick behandelt. Das Kapitel „Jagd- trophäen" geht vom königlichen Weidwerk, der Parforcejagd, aus, deutet die Herkunft aus dem kollektiven Menschenopfer und stellt ihr die individuelle Hirschjagd, das Pirschen, gegenüber. Der Fall Lefebvre Psychoanalyse einer Mörderin 1929. 54 Seiten. Geheftet Mark 2.40, in Leinen Mark 3.80 „Vossische Zeitung": Marie Bonaparte, die Prinzessin von Grie- chenland, hat den Fall Lefebvre in einem schmalen Band dargestellt, in welchem sie das Verhalten der sittsamen Spießbürgerin, die be- kanntlich seinerzeit eines Tages ohne jegliche Präliminarien ihre Schwiegertochter auf einem Ausflug in Gegenwart ihres Sohnes er- schoß, motivisch wenigstens soweit aufgeklärt, als es das spärliche Material zuläßt. Es ist wohl so ziemlich das erstemal, daß ein Kriminalfall eine systematische analytische Darstellung erfährt. Aus der Analyse einer mutterlosen Tochter Zwei Beiträge zur psychoanalytischen Kasuistik 193 1. 31 Seiten. Geheftet Mark i. — „Deutsche medizinische Wochenschrift": Selbstdarstellung der Pariser Psychoanalytikerin im Sinne der Lebensbeeinflussung durch Identifizierung mit der verstorbenen Mutter (Ödipuskomplex) und eine kurze kasuistische Mitteilung über eine kleptomane An- wandlung. Die Sexualität des Kindes und die Neurosen der Erwachsenen Sonderheft (V/io) der Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik 193 1. 44 Seiten. Geheftet Mark i.— Inhalt : Die Verbreitung der Neurosen — Die infantile Sexualität und ihre Verdrängung — Die Sexualität der Erwachsenen und ihre Schädigungen — Einige Vorschläge zu einer Reform der Erziehung ■■/: 1 Von MARIE BONAPARTE sind im Internationalen Psychoanalytischen Verlag ferner folgende Werke erschienen: Über die Symbolik der Kopftrophäen 1928. 48 Seiten. In Leinen Mark 3.30 „Der Deutsche Jäger": In der Studie der Prinzessin Marie von Griechenland (veröffentlicht unter dem Mädchennamen der Ver- fasserin) wird das Problem, warum das Geweih das Attribut des be- trogenen Ehemannes ist, mit Mitteln der modernen Tiefenpsy- chologie gelöst. Im Kapitel „Magische Hörner" werden Hörner als Amulette gegen den bösen Blick behandelt. Das Kapitel „Jagd- trophäen" geht vom königlichen Weidwerk, der Parforcejagd, aus, deutet die Herkunft aus dem kollektiven Menschenopfer und stellt ihr die individuelle Hirschjagd, das Pirschen, gegenüber. Der Fall Lefebvre Psychoanalyse einer Mörderin 1929. 54 Seiten. Geheftet Mark 2.40, in Leinen Mark 3.80 „Vossische Zeitung": Marie Bonaparte, die Prinzessin von Grie- chenland, hat den Fall Lefebvre in einem schmalen Band dargestellt, in welchem sie das Verhalten der sittsamen Spießbürgerin, die be- kanntlich seinerzeit eines Tages ohne jegliche Präliminarien ihre Schwiegertochter auf einem Ausflug in Gegenwart ihres Sohnes er- schoß, motivisch wenigstens soweit aufgeklärt, als es das spärliche Material zuläßt. Es ist wohl so ziemlich das erstemal, daß ein Kriminalfall eine systematische analytische Darstellung erfährt. Aus der Analyse einer mutterlosen Tochter Zwei Beiträge zur psychoanalytischen Kasuistik 1931. 31 Seiten. Geheftet Mark i. — „Deutsche medizinische Wochenschrift": Selbstdarstellung der Pariser Psychoanalytikerin im Sinne der Lebensbeeinflussung durch Identifizierung mit der verstorbenen Mutter (Ödipuskomplex) und eine kurze kasuistische Mitteilung über eine kleptomane An- wandlung. Die Sexualität des Kindes und die Neurosen der Erwachsenen Sonderheft (V/io) der Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik 193 1. 44 Seiten. Geheftet Mark i.^ Inhalt : Die Verbreitung der Neurosen — Die infantile Sexualität und ihre Verdrängung — Die Sexualität der Erwachsenen und ihre Schädigungen — Einige Vorschläge zu einer Reform der Erziehung MARIE BONAPARTE :dgar POE BAND! MARIE BONAPARTE EDGAR POE EINE PSYCHOANALYTISCHE STUDIE MIT EINEM VORWORT VON SIGM. FREUD BAND I INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG IN WIEN